Digitalpolitik in Deutschland Jugendschutz als politische Zensur-Waffe

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Wir geben hier einen Beitrag wieder, der auf dem Yuccatree Blog veröffentlicht wurde. Er behandelt die beschlossene Verschärfung des "Jugendschutzes" im Internet, die die Einführung einer "freiwilligen Alterskennzeichnung" von Webseiten und Blogs zum 1. Januar 2011 zur Pflicht macht.

Jugendschutz als politische Zensur-Waffe.
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Jugendschutz als politische Zensur-Waffe. Foto: Piotr Frydecki / CC BY-SA 3.0 unported - cropped

30. November 2010
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Wir betrachten diese Entscheidung als einen Angriff auf die freie Berichterstattung und Meinungsäusserung, die sich hinter einem angeblichen Schutz von Jugendlichen vor "gefährlichen Inhalten" versteckt.

Der folgende Artikel zeigt ganz gut auf, welche Konsequenzen dieses neue Gesetz für Blog-betreiberInnen mit sich bringt, schwächelt aber bei der Benennung von Zensur.

JMStV: Bundesländer beschliessen juristisches Minenfeld für Blogger (Update)

Jugendmedienschutz-Staatvertrag heisst das Wortungetüm mit Gesetzeskraft.

Er existiert seit dem Jahr 2003 und regelt den Jugendschutz in allen Medien, die in irgend einer Form "gesendet" werden – also zum Beispiel auch Blogs. Die Neuregelungen, die am dem 1. Januar 2011 gelten, sind so unglaublich verquast gestaltet, dass es für kleine Blogs eigentlich nur zwei Alternativen gibt: Sendezeiten oder eine Alterprüfung einführen oder das Blog gleich ganz dicht machen.

Besonders enttäuscht sind im Moment viele Blogger von den Grünen, die – obwohl bisher offiziell gegen den JMStV – in Nordrheinwestfalen dafür stimmen. Die haarsträubende Aussage "Wir sind weiterhin gegen den #JMStV, die Fraktion hat sich aufgrund parlamentarischer Zwänge anders entschlossen." entwickelt sich gerade innerhalb kürzester Zeit zu einem Mem.

Wenig bekannt ist ja, dass das mit den Sendezeiten schon seit längerer Zeit gilt: Webseiten mit jugendgefährdenden Inhalten dürfen jetzt schon zu Zeiten wie beispielsweise zwischen 20 und 6 Uhr abrufbar sein – es hat sich bloss von Seitenbetreibern bis Jugendschutzbehörden niemand darum gekümmert. Lediglich im Porno-Bereich hat es sich eingebürgert, das Alter zum Beispiel anhand der Personalweisnummer abzufragen. Warum also die Wut auf die Neuregelung?

Ab dem 1. Januar hat ein Betreiber einer Webseite eine weitere Möglichkeit, dem Jugendschutz zu genügen: Die freiwillige Alterskennzeichnung, wie man sie zum Beispiel von Filmen und Spielen kennt. Das Wort "freiwillig" ist in diesem Zusammenhang natürlich Humbug: Wer die Alterskennzeichnung unterlässt, muss Zugangsschranken oder Sendezeiten einführen.

Wer derart die Pistole auf die Brust gesetzt bekommt und sich für eine Alterskennzeichnung entscheidet, muss sich dem Kodex der Freiwilligen Selbstkontrolle der Multimedia-Dienstanbieter unterwerfen. Man kann dort Mitglied werden, um seine Webseiten prüfen zu lassen, was ab 4.000 Euro im Jahr kostet und für kleine Blogs unbezahlbar ist.

Man kann auch selber einschätzen, für welches Alter die eigene Webseite geeignet ist. Das Problem: Das nötige pädagogische Fachwissen bringt niemand mit. Der AK Zensur hat in einem Experiment verschiedene Webseiten per Umfrage schätzen lassen und dem Ergebnis die Einschätzung eines Fachmannes gegenübergestellt: Der "gesunde Menschenverstand" kommt in 80% der Fälle zu falschen Alterseinstufungen. Wer jedoch eine falsch eingestufte Seite im Netz hat, dem drohen Bussgelder bis zur Höhe von 500.000 Euro.

Dabei sieht das Gesetz durchaus eine Ausnahmeregelung vor: Wer Inhalte bis "ab 12? anbietet, muss sich um nichts kümmern, solange sich diese Inhalte nicht gezielt an Kinder richten. Klingt zunächst gut, aber wie man im oben erwähnten Experiment nachlesen kann, handelt sich vermutlich ein Tierheim, das drastische Bilder von Tierquälerei ins Netz stellt, bereits ein "ab 18? ein.

Ausgenommen von dieser "freiwilligen Pflicht" zur Alterskennzeichnung sind übrigens Anbieter von Nachrichten "von allgemeinem Interesse". Das stellt grossen Nachrichtenseiten wie Spiegel Online von all diesen Pflichten frei.

Es gibt keine objektiven Kriterien für "allgemeines Interesse", ausschlaggebend ist offenbar nur die Anzahl der Leser. Bild.de darf also weiterhin sexistische Tittenbildchen für ein Publikum ab 0 Jahren ins Netz stellen, während ein kleines Blog mit erotischen Inhalten – und seien diese noch so romantisch und unsexistisch – sich mindestens ein "ab 16? einhandelt.

Fein, alles kein Problem: Kennzeichne ich doch meine Webseite "ab 18" und verzichte auf jugendliche Leser. Leider genügt es nicht, sich ein rotes Schildchen auf die Webseite zu pappen, um in Ruhe gelassen zu werden – die Kennzeichnung muss in Form von Meta-Tags und einer besonderen Schnittstelle erfolgen, damit Jugendschutz-Programme die Altersfreigabe einer Webseite abfragen können.

Dafür existiert zur Stunde keinerlei Standard oder technische Infrastruktur. Erste Lösungen werden im Sommer 2011 erwartet.

Das bedeutet, dass Blogger defacto die nächsten Monate auf jegliche Alterskennzeichnung verzichten müssen. Im Grunde bleibt also am 1. Januar für eine Weile fast alles wie zuvor: Wir müssten eigentlich Sendezeiten für unsere Webseiten einführen. Bis auf weiteres kann man also abwarten und Tee trinken. Vermutlich werden die Jugendschutzbehörden die nächsten Monate genauso wenig gegen Verstösse auf Webseiten vorgehen wie bisher – nur sicher ist das ganze nicht.
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Bild: Die gute Presse - Zensur im Jahre 1847. / PD

Sicher hingegen ist, dass halbseidene Abmahner ein neues Betätigungsfeld bekommen: Gewerbliche Webseiten müssen nämlich künftig explizit einen Jugendschutzbeauftragten mit Namen und Adresse im Impressum führen. Und "gewerblich" ist eine Webseite ab dem geringsten Fitzelchen Adsense-Werbung – vermutlich reicht für die Gewerblichkeit sogar schon ein Flattr-Button.

Für Medienpädagogen mit Netzaffinität könnten auch bald goldene Zeiten anbrechen. Mit der Dienstleistung, "Prüfung der Alterseinstufung" einschliesslich der Nennung des Prüfers als Jugendschutzbeauftragten im Impressum lässt sich sicherlich ganz gut was verdienen.



Update: Mittlerweile haben mehrere Blogger angekündigt, ihr Blog zum Jahresende zu schliessen und auch kein Archiv anzubieten. Darunter auch der als kühler Kopf bekannte Kristian Köhntopp. Ich selbst werde mich in den kommenden Monaten um ein bezahlbares Alterklassifikationssystem bemühen – schliesslich muss ich davon ausgehen, dass Posts zur Penisdichte auf Chatroulette ab 16 oder gar 18 sein dürften.

Es könnte auch passieren, dass ich mich gezwungen sehe, einzelne grenzwertige Artikel zu depublizieren. Jeder sein eigener Jugendschutzbeauftragter: Vor allem versuchen herauszufinden, welche Anforderung eigentlich an so jemanden zu stellen sind. Das ist nämlich auch nirgends definiert.

Quelle: Yuccatree-Blog, 30.11.2010