Im Verlauf der späten 1970er Jahre erfuhr die digitale Kultur einen tiefgreifenden Wandel. Software, die bis dahin als blosse Dreingabe zu teurer und hoch spezialisierter Hardware gesehen wurde, begann sich als eigener Geschäftszweig zu etablieren. Die alte Kultur der horizontalen Kooperation zwischen den Entwicklern wandelte sich in ein hierarchisches, kommerziell ausgerichtetes Verhältnis von Entwicklern und Anwendern. Software wurde zu einem Produkt, das mit relativ rigiden Lizenzbestimmungen verkauft wurde. Zum ersten Mal spielten Urheberrechte in der digitalen Kultur eine wesentliche Rolle. In diesem Umfeld musste der Traum der offenen Kooperation auf eine neue Grundlage gestellt werden, um die im Urheberrecht festgelegte Trennung zwischen Autor und Nutzer zu neutralisieren.
Diese Basis wurde von Richard Stallman in den 1980er Jahren geschaffen und trägt die FreieSoftware-Bewegung bis heute. Wiederum standen Autonomie und Kooperation im Zentrum. Nun aber nicht mehr innerhalb der elitären Zirkel der universitären Computerwissenschaft. Sondern in losen Gemeinschaften gleichgesinnter Softwareentwickler, die nur noch teilweise an den grossen Universitäten verankert waren. Weil von nun an auch kommerzielle Interessen im Spiel waren, musste die Formulierung dieses Traumes nicht nur normative Dimensionen beinhalten. Sondern auch rechtlich belastbar sein. Dies gelang durch die Operationalisierung von vier Dimensionen von Freiheit in der GNU General Public License (GPL), einer Lizenz, unter der Software veröffentlicht werden konnte:
Die Freiheit, das Programm für jeden Zweck auszuführen (Freiheit 0). Die Freiheit, die Funktionsweise des Programms zu untersuchen und eigenen Bedürfnissen der Datenverarbeitung anzupassen (Freiheit 1). (...) Die Freiheit, das Programm weiterzuverbreiten und damit seinen Mitmenschen zu helfen (Freiheit 2). Die Freiheit, das Programm zu verbessern und diese Verbesserungen der Öffentlichkeit freizugeben, damit die gesamte Gemeinschaft davon profitiert (Freiheit 3).(…)
Durch die rechtliche Verlässlichkeit der Lizenz konnten nun Personen, die sich nicht persönlich kannten und die in keinem gemeinsamen sozialen Umfeld verankert waren, miteinander kooperieren (Freiheit 2 & 3) und gleichzeitig in ihrer Autonomie uneingeschränkt bleiben (Freiheit 0 & 1). Die intrinsische Notwendigkeit, komplexe Software in grossen Teams zu entwickeln, und die Absicherung der Autonomie stellten einen grossen Anreiz dar, neue Kooperationsformen zu testen. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde das Internet an den technischen Fakultäten vieler Universitäten weltweit zu einem Massenmedium und schuf neue Voraussetzungen für die Zusammenarbeit.
Standard der kooperativen Internetkultur
Die Kreise derjenigen, die in solche offene Kooperationen miteinander traten (aus durchaus vielfältigen und nicht-altruistischen Motivationen), erweiterten sich stark und die GPL fungierte als ihre faktische Verfassung. Damit die offenen Kooperationsformen weiter anwachsen konnten, ohne ineffektiv zu werden, musste auch die Kooperationsinfrastruktur erweitert werden. Nebst den bereits bestehenden Email-Listen und Foren wurde 1990s die erste Version des„Concurrent Versioning System“ (CVS) entwickelt.Dieses System (und seine diversen Nachfolger) ermöglichte einer Vielzahl von Personen, mehr oder weniger unabhängig voneinander an einer gemeinsamen Codebasis zu arbeiten. Die freie Verfügbarkeit der Codebasis verhinderte zudem, dass die Verwalter solcher Systeme die Entwicklung der Kooperation gegen die Interessen der freiwilligen Teilnehmer kontrollieren konnten. Denn auch für die Anführer eines Projektes besteht immer die Gefahr, dass sich unzufriedene Teilnehmer einfach unter neuer Leitung reorganisieren. So bleibt die alte Maxime des rough consensus weiterhin zentral. Schliesslich ist die jederzeit mögliche Spaltung eines Projekts für alle Beteiligten mit grossem Aufwand und hohem Risiko verbunden.
Autorität in solchen Organisationen wird in meritokratischer Weise von unten nach oben zugeschrieben und beruht nicht auf Zwangsmitteln oder Wissensmonopolen der Führungsebene. Diese Version des Traumes der digitalen Kultur hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren weit über die Software-Entwicklung hinaus verbreitet. Und sie wurde durch Creative Commons (die freien Lizenz für kulturelle Werke) und Wikipedia zum Standard der kooperativen Internetkultur der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts.
Gleichzeitig kam es allerdings zum Konflikt mit Strukturen und Akteuren, die diesen Traum der offenen Quellen und freien Kooperation ablehnten – sei es mit Blick auf Urheberrechte (etwa im Bereich Kultur- und Kreativindustrie) oder durch den Verweis auf die nationale Sicherheit und Staatsräson (etwa im Kontext von WikiLeaks). Im Verlauf der Dekade wurden diese Konflikte immer heftiger. Die Kulturindustrie etwa versuchte mit einem ganzen Arsenal an Methoden: von technischen Restriktionen über Massenanklagen beziehungsweise Abmahnwellen gegen individuelle Nutzer (218.560 Abmahnungen inkl. Geldforderungen wurden im letzten Jahr allein in Deutschland versandt) bis hin zu internationalen Verträgen (etwa das Anti-Counterfeiting Trade Agreement, ACTA) – zu unterbinden, was sie als Piraterie verstand.
Die Neuformulierung des alten Traums
Gleichzeitig wurde WikiLeaks, das in der Tradition der radikalen Presse viele brisante Informationen von öffentlichem Interesse publizierte, nicht nur von offizieller Seite mit aussergerichtlicher Gewalt bedroht: etwa durch US Politker und Kommentaren, die verlangten, Assange solle wie ein Terrorist eliminiert werden. WikiLeaks wurde auch auf der Ebene der Infrastruktur (Domain-Name Dienstleistungen, Finanztransaktionen etc.) angegriffen.Dieses veränderte Umfeld mit in Zahl und Intensität stark angestiegenen Konflikten brachte eine neue Formulierung des alten Traums hervor. Diesmal dunkel und aggressiv. Eine Reaktion auf eine Welt, die im Bemühen, den Traum des Internets an seiner Realisierung zu hindern, selbst dunkel und aggressiv geworden ist (so jedenfalls die Sichtweise der neuen Akteure). Hinter dieser neuen Formulierung steckt keine klare soziale Gruppe oder gar identifizierbare Person mehr. Sondern eine Gestalt, die ihre konkrete Form den Wechselfällen der autonomen Kooperation verdankt: Anonymous .
Anfang 2008 verwandelte sie sich durch die auf Youtube veröffentlichte Botschaft an Scientology von einem Insider-Phänomen zu einer öffentlichen Identität. Auslöser für das Video, in dem die Zerstörung der Sekte angekündigt wurde, war deren Versuch, mit harter Hand ein für sie unvorteilhaftes Video aus dem Internet zu entfernen. In dieser Botschaft beschreibt sich Anonymous so: „We cannot die; we are forever. Weʼre getting bigger every day – and solely by the force of our ideas, malicious and hostile as they often are. If you want another name for your opponent, then call us Legion, for we are many.“
Auch hier stehen die Kooperation (we are many) und die Autonomie (solely by the force of our ideas) im Zentrum. Diesmal aber in einer klaren Konfliktsituation und ohne den Anspruch, nur gut zu sein. Ganz im Gegenteil. Der feindlichen Macht gegenüber ist man malicious and hostile. Das Beharren auf kollektiver Autonomie ist so zentral für Anonymous, dass traditionelle Formen der Repräsentation, etwa ein Sprecher, unzulässig sind. Jeder kann als Anonymous sprechen. Aber niemand kann für Anonymous sprechen. Um diese neue Form des Traums zu realisieren, ist wieder ein spezifischer materieller und institutioneller Unterbau notwendig.
Autonomie und Kooperation in neuer Weise verbinden
Mit den diversen Kommunikationsplattformen steht das meiste heute frei zur Verfügung. Diese Elemente effektiv miteinander zu verknüpfen ist nicht einfach. Aber es braucht dazu wenig kontinuierliche Organisation. Notwendig sind lediglich ein gewisses kulturell-technisches Wissen und ein gemeinsamer Handlungshorizont, um einen flüchtigen, aber möglicherweise sehr effektiven Schwarm zu organisieren. Was die RFCs für die erste Generation und die Ankündigungen neuer Software-Projekte für die zweite Generation waren, das ist das Twittern von #Ops (Aktionsplänen) für die dritte Generation: Attraktoren, um die herum sich Prozesse abspielen, die Autonomie und Kooperation in neuer Weise miteinander verbinden. Denn nur wenn sich genug Personen um einen Attraktor versammeln, nimmt ein Projekt Gestalt an – und es lebt nur so lange, wie sich ein rough consenus halten lässt.Der Traum des Internets lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts einigermassen klar nachzeichnen. Schwieriger zu beantworten ist, ob es sich dessen „nur“ bewusst werden muss, um ihn auch zu besitzen. Komplex wird die Sache dadurch, dass das Internet kaum mehr eine klare Grenze hat und die digitale Kultur die Kultur einer ganzen Generation weltweit geworden ist. Doch es lässt sich beobachten, dass viele der progressiven politischen Bewegungen, sei es die Piratenpartei oder auch der Arabische Frühling (zumindest soweit, wie er von einer jungen urbanen Schicht getragen wurde), die Indignados in Spanien, die Aganaktismeni in Griechenland und die diversen Occupy-Bewegungen – das alle diese Akteure von diesem Traum inspiriert sind und versuchen, ihn in die ganze Gesellschaft zu tragen. Damit tragen sie auch zur Erneuerung alter Träume bei, vor allem derjenigen der autonomistischen Bewegungen, wie sie seit der Pariser Kommune (1870) immer wieder formuliert wurden.