„Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken“ von Zhang Lu behandelt eine bislang wenig beachtete Vorgeschichte dieser Streiks. Sie ist das Ergebnis einer gelungenen Kombination aus monatelanger Feldforschung und historisch-politischem Hintergrundwissen. Für ihre Dissertation ging die Autorin, mittlerweile Professorin für Soziologie an der Temple University in Philadelphia, zwischen 2004 und 2011 für insgesamt zwanzig Monate in die Volksrepublik. Über Beziehungen und mit etwas Glück schaffte sie es in die Herzstücke der strategischen Kernindustrie Chinas – in die Autofabriken. Dabei beschränkte sie sich nicht auf einen bestimmten Raum, sondern versuchte durch Forschung in sieben Fabriken in sechs verschiedenen Städten eine Vergleichbarkeit von Arbeitsbedingungen zu erreichen.
Ein Verdienst dieser Untersuchung ist die Herausstellung der spezifischen und komplexen Situation der chinesischen Arbeiter_innen. In fünf Joint Ventures – also gemeinsame Unternehmen mit internationalen Firmen – und in zwei staatlichen Betrieben führte Zhang Lu ihre Forschung durch. Der Fokus liegt dabei auf den sozialen und hierarchischen Strukturen innerhalb der Fabrik und den Besonderheiten des chinesischen Automobilmarktes – und auf den Möglichkeiten, die die Arbeiter_innen trotz Kontrolle und Spaltung zum Widerstand haben. Der chinesische Automobilmarkt, seit 2009 der grösste der Welt mit circa drei Millionen Arbeiter_innen, wird seit der Reformperiode in den 1980er Jahren von einem Bündnis aus dem Zentralstaat, ausländischen Unternehmen und staatseigenen Automobilkonzernen beherrscht.
Dieses „Dreierbündnis“ (S. 111) sorgte für die „Entstehung eines monopolitischen Sektors, in dem eine Hand voll ausgewählter Joint Ventures und Staatsunternehmen Extraprofite erwirtschaftet“ (ebd.). Die Präsenz des Staates zeigt sich auch innerhalb der Fabriken: Die Manager werden vom Staat, also von der Kommunistischen Partei Chinas, ernannt und kontrolliert. Auch alle Gewerkschaften werden unter dem Dach der All-China Federation of Trade Unions (ACFTU) zusammengefasst, die ebenfalls der Führung der Partei untersteht.
„Ich will nur noch hier raus“ – Realitäten in chinesischen Autofabriken
Zhang Lu zeigt, wie sich die Reformpolitik Deng Xiaopings und die Transformation Chinas zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft zunehmend schlecht auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeiter_innen auswirkt – bis heute. Durch Verschlankung der Produktionsprozesse, die Auslagerung von Produktionsschritten oder die just-in-time-Produktion sind viele Arbeitsplätze abgebaut worden, doch die Arbeitsintensität blieb gleich. Die Arbeiter_innen befinden sich häufig am Rande ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Eine These der Autorin lautet, dass aus dieser Behandlung und der Erschöpfung der Arbeiterschaft ein Unmut resultiert, der die Proteste erst möglich macht.Zusätzlich dazu wirkt das sozialistische Vermächtnis Mao Zedongs: Ab den 1950er Jahren wurden die industriellen Beziehungen fast ununterbrochen von der „maoistischen Massenlinie“ (S. 68) bestimmt. Das bedeutete, dass die Erfahrungen und Verbesserungsvorschläge der Arbeiter_innen in den Betrieben geschätzt wurden und auch erwünscht waren. Ältere Arbeiter_innen erinnern sich noch an diese Zeiten und nutzen das Argument der „besseren Zeiten“ als Verhandlungsbasis für gegenwärtige Arbeitskämpfe. Auch die revolutionäre Rhetorik des sich als kommunistisch verstehenden Staates entpuppt sich als fruchtbar für die Verhandlungsmacht der Arbeiter_innen.
Die Spaltung der Arbeiterschaft in Direktbeschäftige und Leiharbeiter_innen ist nicht nur prägend für die soziale Zusammensetzung der Arbeiter_innenschaft innerhalb einer Fabrik. Zhang Lu stellt heraus, dass beide Gruppen in sich heterogen sind und sich seit der Mitte der 1990er Jahre auch verändert haben. Zunächst verläuft die Spaltungslinie nicht mehr (nur) entlang der Land- und Stadtbevölkerung, wie es vor der Reformperiode der Fall war.
Die neue Generation der „Befristeten“ (S. 291) kommt selbst aus den Städten, geniesst eine höhere Bildung und weiss mehr über ihre Rechte als die Leiharbeiter_innengerenation zuvor. Eine signifikante Neuerung stellen die Praktikant_innen dar, die ebenso zu den „Befristeten“ zählen. Durch eine erhöhte Abhängigkeit – sie brauchen das Praktikum, um einen Abschluss zu bekommen – stehen Praktikant_innen unter starkem Druck. Sie haben weniger Rechte als die restlichen Arbeiter_innen und könnten ihr Praktikum, und damit ihren Abschluss, jederzeit verlieren.
Ein Funktionär der ACFTU bemerkte: „Der Einsatz von PraktikantInnen ist zur Zeit ein Graubereich, der neu reguliert werden muss und klar definierte Verantwortungsbereiche braucht [...]“ (S. 132). Die Spaltung der Arbeiter_innenschaft, die sich in geringeren Löhnen und unterschiedlichen Rechten äussert, ist eine weitere, aber zentrale Ursache für den zunehmenden Widerstand der Arbeiter_innen. Die ungleiche Behandlung von Direktbeschäftigten und Leiharbeiter_innen ist unübersehbar.
Ob und inwiefern sich der Widerstand einer Belegschaft, sei es in Form von „wilden“ Streiks, oft unkoordinierte Streiks ohne Gewerkschaft, oder „Sabotage, Bummelei, Absentismus und kollektive Kündigungen“ (S. 301) gestaltet, hängt entscheidend von der Solidarität der Arbeiter_innen mit den Leiharbeiter_innen beziehungsweise Praktikant_innen ab. Sind die Arbeiter_innen solidarisch, können die Widerstände Erfolg haben. Verwehren die Arbeiter_innen den „Befristeten“ ihre Solidarität sind die Widerstände oft nur von kurzer Dauer und den Menschen wird gekündigt.
Durch ihre Forschung gibt die Autorin einen Einblick in die triste Arbeitswelt in diesen Fabriken: Es herrschen Monotonie, Kontrolle und Stress. Bemerkenswert ist die Auffassung von Arbeiter_innen jeder Gruppe in jedem Werk, dass sie als Rückgrat der Produktion nicht ausreichend respektiert werden. Ein Zitat aus einem Gespräch mit einem Direktbeschäftigten zeigt das deutlich:
„Es geht nicht nur ums Geld, sondern auch darum, wie dich das Unternehmen behandelt! Du denkst, dass du ihnen als Arbeiter wirklich egal bist. Die Manager versprechen immer, unsere Löhne zu erhöhen, wenn das Unternehmen mehr Gewinn macht. Doch nach all diesen Jahren raschen Wachstums sind die Gehälter und Prämien der Manager und Vertriebsleute gestiegen, wir ArbeiterInnen verdienen dagegen immer noch so wenig! Wir, die an vorderster Linie stehenden ArbeiterInnen, bauen die Autos, erledigen die schwere und dreckige Arbeit und erwirtschaften den Gewinn des Unternehmens! Gleichzeitig werden wir hier am schlechtesten bezahlt und versorgt! Es ist nicht richtig, die Beschäftigten so zu behandeln!“ (S. 164f.)
Zhang Lu schafft es, die teilweise vorherrschende Meinung zu widerlegen, Arbeiter_innen in der chinesischen Automobilindustrie würden viel und gut verdienen und seien daher ruhig oder wären zu ängstlich, um Widerstand zu leisten. Die von ihr geführten Interviews und Beispiele zeigen dies eindrücklich.
Sind Gesetze eine Errungenschaft?
Die Regierung erliess sukzessive neue Arbeitsgesetze (am wichtigsten das Arbeitsvertragsgesetz von 2007), um irreguläre Beschäftigungen (vor allem von Leiharbeiter_innen) zu regulieren und damit Proteste und Streiks abzuwenden. Die Autorin beschreibt diese Gesetze als positives Ergebnis zäher Arbeitskämpfe. Sie kritisiert in dem Zusammenhang nicht, dass die Gesetze ebenso als Kontrollmechanismus wahrgenommen werden können. Denn, wie sie richtig schreibt, brachten diese neuen Arbeitsgesetze zwar einen rechtlichen Rahmen und damit vermeintliche Verhandlungsmacht der Arbeiter_innen, doch gerichtliche Auseinandersetzungen kosten Geld und Zeit. Während dieser Zeit sind die Geschädigten auf sich selbst oder fremde Hilfe angewiesen. Die Gesetze sind nicht zuletzt auch ein Mittel, die Wut der Arbeiter_innen zu deckeln, „und das ist genau der Grund dafür, warum die herrschende Elite die rechtlichen Instrumente überhaupt geschaffen hat“ (Siu/Chan 2012).Eine Stärke der Studie ist, dass es der Autorin tatsächlich gelang, in die Fabriken hineinzugehen und von Personen aus dem mittleren Management über Partei- und Gewerkschaftskader, Direktbeschäftigte, Leiharbeiter_innen und Praktikant_innen jede soziale Gruppe eines Werks zu befragen. Durch die vielfältig eingebauten Zitate der Befragten bleibt das Buch trotz mancher langatmigen Hintergrunddarstellungen lebendig. Allerdings ist leider nicht nachvollziehbar, welche Personen auf welche Fragen wie geantwortet haben. Die Autorin nutzt die Antworten, um Ihre in den Sätzen zuvor aufgestellten Thesen zu stützen. Ihre Fragen bleiben verborgen und sind damit nicht überprüfbar.
Wer aufgrund des Titels davon ausgeht, dass in diesem Buch spezifische Arbeitskämpfe untersucht und miteinander verglichen werden, wird enttäuscht. Wohl werden die diversen Möglichkeiten eines aktiven oder passiven Widerstandes seitens der Arbeiter_innenschaft dargestellt und die grösseren, überregional bekannt gewordenen Streiks erwähnt, doch eine detailliertere Darstellung der Praxis gibt es nur für zwei Arbeitskämpfe. Mit anderen Passagen schafft es die Autorin allerdings, Feinheiten und Unterschiede von Arbeiter_innenmilitanz in den Werken herauszuarbeiten, obschon einzelne Ausführungen ihrer Argumente nicht immer überzeugen. Die Autorin zeigt dennoch, und das ist für ihre Arbeit zentral, dass die Arbeiter_innen keine passiven Objekte sind, sondern aktive Akteur_innen mit Produktions- und Marktmacht.