Statt aufeinander aufzupassen, sind wir uns wieder selbst die Nächsten. Dabei hatte für den Grossteil der Menschen, für Arme, Subalterne und Unterdrückte, die Pandemie verheerende Auswirkungen: Einsamkeit, Krankheit, Armut, Perspektivlosigkeit, Verluste. Und was während der letzten Jahre an diversen Schauplätzen der Welt wirklich für jede:n sichtbar wurde, gilt auch für die Post-Pandemie: Sie hat zu einer Verschärfung der ohnehin prekären Lebensbedingungen geführt, die noch lange anhalten wird – vor allem da sie so eng verwoben mit anderen globalen Krisen ist.
Dass einige sich in ihrer privilegierten Lage besser über Wasser halten können, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schock darüber, wie leicht unser gewohntes Leben zu erschüttern ist, allen tief in den Knochen sitzt. Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela haben mit ihrem Buch „Post/pandemisches Leben“ diese Erschütterungen in einer „Neuen Theorie der Fragilität“ eingefangen. Fragilität, so stellen sie fest, prägt die Verwobenheit der Menschen mit der Welt und fordert die Anerkennung der Abhängigkeit von anderen Menschen, selbst, wenn uns diese Angst macht. Wir können ohne Andere nicht leben, es geht nicht allein. In dem Moment, in dem alle Kontakte, Begegnungen, Berührungen abgeschnitten werden, sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Das hat uns die Pandemie brutal gezeigt. Fragilität ist indes keineswegs nur eine Begleiterscheinung von Krisen und sie ist nicht nur bei den Subjekten zu suchen, sondern in allem, was zueinander in Beziehung steht: Gesellschaften, Natur-Mensch-Verhältnis, politische Systeme, Weltordnung. Sie ist allgegenwärtig und charakterisiert die Prekarität des Lebens im Kapitalismus heute.
Produziertes Leid
In sieben Kapiteln umreissen die beiden Autor:innen, dass Fragilität nicht nur Nebenprodukt des Kapitalismus ist, sondern auch etwas bewusst Erzeugtes sein kann. Man kann durchaus Profit daraus schlagen. Und auch dann, wenn es nicht um bewusste Strategien geht, wird zu wenig getan, um sie zu vermindern. Um dies zu verstehen, wählen die beiden eine „queer/pandemische“ Analyseform, welche „die Welt von ihren Rändern aus betrachtet“ (S. 25). Dabei soll es nicht um identitätspolitische Betroffenheiten gehen. Vielmehr ist das Ansinnen, den Begriff der „Normalität“, den Zustand, dessen Rückkehr so viele sehnsüchtig erwarteten, bei seiner Wurzel zu packen. Denn „queeres Leben, queere Geschichten, queere Gedanken entziehen sich – durchaus bewusst – herkömmlichen Ordnungsstrategien“ (ebd.). Und Normalität, so zeigt sich, ist auch ohne Pandemie eine ständige lebensbedrohliche Herausforderung. Normalität ist fragil und Fragilität normal.Mit dieser „queer/pandemischen“ Brille wenden sich die Autor:innen nun in einer Suchbewegung verschiedenen Orten und Geschichten zu, um einerseits auszuloten, wie und wodurch Fragilitäten hergestellt, beziehungsweise kontinuiert werden und andererseits, um die pandemischen Auswirkungen auf fragiles Leben einzufangen. Sie arbeiten dabei mit einem Sammelsurium theoretischer Zugänge aus der Soziologie, Sozial- und Kommunikationswissenschaft, Queer Theory, (Post)Kolonialen Studien und mehr. Die beiden blicken in das Pandemiegeschehen weltweit, stellen Klassen in Beziehung zu ihren Körpern und ihrem Unterdrückt-Sein, nehmen die globalisierte Online-Community unter die Lupe und werfen den Blick in vergangene Pandemien. So gelingt es ihnen, das Thema in grosser Breite aufzufächern und Anknüpfungspunkte zu schaffen. Die Autor:innen legen eine Sammlung von Fragilitäten vor, die sie miteinander in Beziehung setzen, vor dem Hintergrund der Pandemie betrachten und deren Opfer sie konsequent einem mörderischen Kapitalismus in Rechnung stellen.
Profitables Sterben
In der vom Kapitalismus geschaffenen Ungleichheit ist es die „Politik der Starken“ (S. 17), die bewusst Ignoranz produziert. Sie wirkt mörderisch und zerstörerisch. Um diese tödliche Politik zu fassen, knüpfen die Autor:innen an dem Begriff der „Nekropolitik“ an: „Die aktuelle Nekropolitik und ihre spezifischen Regierungspraktiken, dienen einem Nekrokapitalismus, dessen Ziel insbesondere die Profitmaximierung ist – ganz gleich wie viel Leid damit erzeugt wird.“ (ebd.) Mit dem Foucault'schen Konzept der Biopolitik zeigen sie, dass der Staat nicht nur das Leben regiert, sondern auch das Sterben. Dabei geht der Nekrokapitalismus über das Sterbenlassen als quasi unterlassene Hilfeleistung hinaus: Im „sterben machen“ (S. 66), also der Produktion des Sterbens, erfüllt der Staat, der Westen, der Starke oder der Kolonisator eine Aufgabe, die seine Souveränität und Interessen stützt. So wird beispielsweise die Integrität Europas durch das massenhafte Sterben-Lassen/Machen im Mittelmeer hergestellt. So wird die white supremacy im Sterben-Machen George Floyds hergestellt. Hier geht es um die Demonstration von Stärke und Macht, beispielsweise im Rassismus, wo das Eigene durch die Abwertung „des Anderen“ aufgewertet wird. Und so schützt auch Europa das Eigene in seiner Unverletzlichkeit durch die „hingenommenen Toten sowie die Produktion unbekannter Toter“ (ebd.). Sterben tun die Anderen.Genau dieses Verhältnis wird in der Pandemie erschüttert. Die Fragilität des Lebens und die Möglichkeit des Sterbens werden zurück in das Leben aller katapultiert:
„Pandemien sind Fragilitätskatalysatoren und funktionieren zudem wie ein Vergrösserungsglas: Sie lassen uns erkennen, was nicht evident ist. Andererseits wirken sie aber auch wie ein Brennglas und können rasch einen schwerlöschbaren Brand auslösen.“ (S. 162)
Während auch die Privilegierten sich plötzlich ihrer Fragilität bewusst werden und begreifen müssen, dass nichts um sie herum so sicher ist, wie es scheint, verschärft sich das Leid der meisten Menschen noch einmal spürbar. In einer Zeit, in der der ganzen Welt sprichwörtlich die Luft wegzubleiben droht – Atmen noch mehr zum Privileg wird – zeigt sich, wer versuchen kann, seine Gesundheit zu retten und wer nicht. Die durch unmittelbare Fragilitätserfahrungen ausgelösten panischen Reflexe zeigen eine zweifache Ausbreitung der Pandemie „als Krankheit und als Ideologie“ (S. 104). Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich zu Beginn von Covid-19 Schuldzuweisungen gegen China. Wie schon in der HIV/Aids-Pandemie waren es auch diesmal die Körper „der Anderen“, die das Virus in sich trugen und es verbreiteten. Der Rassismus, aber auch Verschwörungserzählungen, erlebten binnen kürzester Zeit erneut Hochkonjunktur – medial forciert und per Mausklick millionenfach verbreitet.
Welche Lehren lassen sich nun aus der Pandemie ziehen? Laut Bayramoğlu und Castro Varela wäre schon viel damit getan, die Fragilität des Lebens, auch die eigene Fragilität anzuerkennen:
„Die Anerkennung der Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens dient […] als Grundlage für ein Nachdenken darüber, ob wir angesichts der Prekarität und Gewalt, die so viele Leben durchzieht, überhaupt von einem ‚guten Leben' als Norm sprechen sollten. Damit stossen wir auf die trickreiche Frage, ob es überhaupt möglich ist, auf den Schultern des Leidens ‚Anderer' ein gutes Leben zu führen.“ (S. 37)
Im Anschluss an diese Einsicht plädieren die beiden im Sinne der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak für das Training der „ethischen Reflexe“ (S. 183). Das Anthropozän kenne keine Ethik mehr. Optimismus sei ob der gegenwärtigen Zustände grausam und Sorglosigkeit naiv. Zwar findet sich im Buch wenig über gemeinsame Widerstandskämpfe, jedoch sind die scharfe Kritik und die klare Positionierung, dass „Handeln und Verantwortung sich nicht auf eine individuelle Ebene reduzieren lassen“ (S. 100) gute Beiträge für das Training unserer ethischen Reflexe. Ein lesenswertes Buch – mit Schlechte-Laune-Garantie.