Ausformulierung des eigenen Doppeldenk Zur Kritik der ultra-orthodoxen Apologetik (Teil 3)

Sachliteratur

Wie schon angedeutet, betreibt Harich in seiner apologetischen Schrift eine Art Orwell’sches Doppeldenk.

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12. Mai 2023
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Korrektur
Während es „schizophren“ sei, wenn sich Anarchist*innen zugleich auf Politik beziehen und sie ablehnen (S. 43) (was ich bejahe, aber das zutreffendere Adjektiv paradox verwende), vermittelt der Autor kontinuierlich zwischen zwei Welten. Dies sind jene der als materialistische Realität angesehenen ökonomischen und sozialen Struktur und historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft einerseits und ihrem konstruiertem ideologischen Überbau, dem Marxismus-Leninismus, andererseits. In ihrem anmassenden Irrglauben, objektive Wahrheiten erkannt zu haben und sie zu verkörpern, verselbständigt sich die marxistisch-leninistische Ideologie und baut sich selbst soweit in den Himmel, dass sie zum Wolkenkuckucksheim degeneriert.

Schon alt geborene, verkrustete und vollständig Humor-befreite Funktionär*innen bevölkern diesen entlegenen Ort – fern ab von den Bedürfnissen, Sorgen, Vorstellungen und Lebenswelten real existierender Menschen. Was Harich den Antiautoritären und insbesondere den Anarchist*innen vorwirft, nämlich wirklichkeitsfern und abseits der Bevölkerung zu denken und zu agieren, trifft gelegentlich zu. Es trifft aber nicht allgemein und immer zu, sondern es gab und gibt ebenso Phasen und Orte, in denen anarchistische Gruppen ganz am Puls der Zeit waren und ein Gespür für die Stunde hatten.

Die antiautoritäre Revolte war nicht vorrangig eine von privilegierten Bürgerkindern, sondern von jugendlichen und prekär lebenden Menschen, welche verstanden hatten, dass sie in eine kapitalistische, restriktive und post-faschistische Fake-Welt gezwungen werden sollten. Von dieser Lebensrealität, die mindestens ein paar Millionen Menschen in der 60er und 70er Jahren teilten, waren kommunistische Parteikader soweit entfernt, wie irgendwie vorstellbar.

Dagegen begriffen Konservative weit besser, dass die antiautoritäre Revolte in ihrer Vielschichtigkeit und dreisten Absage tatsächlich Grundfesten der bestehenden Gesellschaftsform erodierte. Wie alle Bewegungen am Puls der Zeit, reflektieren jene auch die Bedingungen der Zeit. Themen wie Sexualität, Kindererziehung, Musik- und Kleidungsstile gewinnen in Umbruchszeiten an Relevanz, weil die Gesellschaft sich weiterentwickelt und an Punkte gelangt, wo diese sich als Generationskonflikte bemerkbar machen. Anarchist*innen engagieren sich dafür, diese Bereiche alternativ zu gestalten und treten für die sexuelle Befreiung, selbstorganisierte Kinderbetreuung oder gegenkulturelle Stile ein. Dass diese bekanntermassen ebenso kapitalistisch oder staatstragend vereinnahmt werden können, spricht eben nicht gegen ein Engagement in diesen Bereichen, sondern gerade dafür. Es ist auch nicht erst seit Ève Chaipello und Luc Boltanski (2003) bekannt.

Kein versöhnliches Ende in Sicht

Aus diesem Grund kommt schliesslich selbst Harich nicht umhin, den Balanceakt zu vollziehen, es sich mit den Antiautoritären trotz seines Theorie-Gemackers und Gepöbels, nicht ganz verscherzen zu wollen. Beziehungsweise richtet er sich an seine ML-Genoss*innen und empfiehlt ihnen, sich nicht vollständig von der ihnen fremden sozialistischen Bewegung abzuwenden. So sei die „Herrschaftslosigkeit auch Endziel Marxismus“ (S. 5), wie er gleich zu Beginn deutlich macht. Man müsse mit den Aktiven der 68er-Bewegung im Gespräch bleiben, wie er im Nachwort nochmals einschärft.

Immerhin seien sie im Unterschied zu den Alt-Anarchist*innen für den Marxismus empfänglich und würden von selbst darauf kommen, dass ihr zielloses Rebellieren nichts brächte. Auch hier stellt sich die Darstellung des Anarchismus als falsch heraus. Zu grossen Teilen waren auch die frühen Anarchist*innen marxistischer Theorie keineswegs abgeneigt. Von Johann Most, über Carlo Cafiero, Émile Pouget zu Lucy Parsons und vielen anderen, nahmen sie diese ernst und – im Unterschied zu weltfremden Nur-Theoretiker*innen – häufig auch wörtlich.

Womit sie ein deutliches Problem hatten, war der Marxismus in Gestalt einer Ideologie zur Integration und Führung autoritärer sozialistischer Parteien. Deswegen macht sich Harich wieder einmal selbst etwas vor, wenn er behauptet, seine Kirche würde das gleiche Heilsversprechen verkaufen, wie andere sozialistische Strömungen. Dass Ziel ist nicht das gleiche, weil die Wege und Mittel im Anarchismus grundsätzlich anders konzipiert und ins Verhältnis zu den Zielen gesetzt werden. Das aber kann ein Wolfgang Harich eben nicht begreifen, weil er nicht in der Lage ist, die Prämissen seines eigenen Denksystems zu hinterfragen.

Gleiches gilt für die von Harich herauf und herunter gebetete Litanei des „Heranreifens objektiver Bedingungen“ (S. 13, 19) für die Revolution. Auch dahingehend geht der Anarchismus von einer völlig anderen Grundannahme aus. Er betreibt eine „revolution in reverse“, wie David Graeber formuliert, eine Ver-Jetzt-Zeitlichung, Ver-Inner-Weltlichung und Subjektivierung der Revolution. Wer jemals eine gesamtgesellschaftliche Revolution sehen will, muss hier und jetzt revolutionär-werden, wie es Gilles Deleuze im Einklang mit dem anarchistischen Denken formulierte. Damit werden das eigene Handeln und die eigene Orientierung revolutionär. Gustav Landauer schreibt, der Sozialismus bricht an, wenn wir ihn verwirklichen wollen. Wer daraufhin aber jeden Sex, jeden Kneipenabend, jeden Steinwurf oder jedes Herausbrüllen der eigenen Aggression als „revolutionär“ bezeichnet, hat trotzdem nicht begriffen, worum mit diesem Gedankengang geht.

Er führt nicht automatisch zu einem plumpen Voluntarismus, wie Anarchist*innen fortlaufend unterstellt wird (S. 31, 81) und welcher z.B. in der Auseinandersetzung von Bakunin mit Blanqui anarchistischerseits kritisiert wird. Diese Herangehensweise richtet sich auch nicht gegen die schlichte Tatsache, dass sozial-strukturelle und ökonomische Faktoren selbstverständlich gesellschaftliche Entwicklungen ganz wesentlich bedingen und prägen. Mit ihr wird betont, dass dies niemals ein Automatismus war oder sein wird, der auf „historischen Gesetzmässigkeiten“ (S. 66f.) beruht. Stattdessen sind es immer konkrete Menschen, die handeln.

Aufgrund bestimmter Bedürfnisse, kultureller und subjektiver Prägung können sie den Willen und Antrieb entwickeln, Gesellschaft auf bestimmte Weisen zu gestalten und zu verändern. In sozialen Bewegungen machen sie bestimmte Erfahrungen, die sie wiederum als Erzählungen weitergeben. Geschichte ist etwas, dass Menschen unter vorgefundenen Bedingungen, selbst machen, wie Marx wusste.

Statt sich im Kampf gegen Kapitalismus, Faschismus, Krieg, Klimawandel, Patriarchat oder was auch immer den Einladungen zur ML-geführten Einheitsfront anzuschliessen – wie sie bis heute von den Karikaturen ihrer selbst der MLPD immer ausgesprochen werden – gilt es die Differenzen und Traditionen verschiedener emanzipatorischer Strömungen zu verstehen. Erst ihre Anerkennung ist die Grundlage für eine produktive Zusammenarbeit, wo sie sinnvoll ist und in welcher sich verschiedene Gruppierungen ergänzen können.

Als gemeinsame Grundlage sieht Harich die Rätedemokratie und die Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen historischer Kämpfe an (S. 95ff.). Wo so viel patriarchale „Gnade“ ausgesprochen wird, gilt es misstrauisch zu sein, auch wenn sie im Doppeldenk des Autoren kohärent erscheint. Ein gemeinsames libertär-sozialistisches Projekt zu formieren, verlangt, Perspektiven wechseln zu können, anstatt diffamierende Zerrbilder seiner Gegner*innen und Konkurrent*innen zu zeichnen.

Der Anarchismus hatte und hat insbesondere in Deutschland insofern einen schweren Stand, als dass seine Geschichte brutal unterbrochen wurde, seine eigene Theorie bisher zu unbekannt und unbewusst ist, seine Organisationen zu konturlos und diskontinuierlich und seine Aktionen zu diffus und kurzlebig geblieben sind. Dies ist wahr und darauf hat Harich in seiner Kritik teilweise zurecht hingewiesen. Umso mehr bedeutet dies, dass der Anarchismus zu sich selbst kommen müsste, um radikalisierender, emanzipierender, motivierender und inspirierender Faktor in sozialen Bewegungen werden zu können.

Jonathan Eibisch

Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Verlag 8. Mai, 1998. 176 Seiten. ca. SFr. 11.00. ISBN: 978-3931745066