Ein paradigmatisches Opfer mit Stockholm-Syndrom Zur Kritik der ultra-orthodoxen Apologetik (Teil 1)

Sachliteratur

Jens Kastner wies mich darauf hin, dass ich in meiner Arbeit über den anarchistischen Politikbegriff, eine meist unverstandene Leerstelle behandle, die auch Wolfgang Harich gesehen, aber nicht wirklich begriffen hätte.

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3. Mai 2023
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Korrektur
Aus diesem Grund schaute ich mir das Büchlein Zur Kritik der revolutionären Ungeduld (1969/1971) genauer an.

Leider wirkt diese Kritik am alten und neuen Anarchismus mit ihren Unterstellungen und Vorurteilen auch nach mehr als 50 Jahren weiter nach. Aufgrund der Schwäche der anarchistischen Szene, ihrer Diffamierung sowie der Unerkenntnis ihrer eigenen theoretischen Grundlagen prägten diese das (Miss-)Verständnis des Anarchismus in deutschsprachigen Kontext bis heute.

Um mit der Falschdarstellung des Anarchismus etwas aufräumen zu können, gilt es zunächst einen Blick auf den Autoren zu werfen. Harich wurde 1923 geboren, war Mitglied der KPD und als marxistischer Intellektueller in der DDR tätig. Als solcher positionierte er sich gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes durch die Sowjetunion (17.06.1953) und trat für einen reformierten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ ein. Vier Jahre später wurde er deswegen zu 10 Jahren Haft verurteilt, von denen er auch acht in Bautzen absass. Als Kompromiss, um nicht mit dem Tod bestraft zu werden, schwörte er, sich fortan staatskonform zu verhalten. Was er auch tat.

1964 wurde er entlassen und dem Akademie-Verlag zugeteilt. Später beschäftigte er sich mit ökologischen Fragen, ohne jedoch von seinem Autoritarismus abzuweichen. Fragwürdig ist deswegen, wenn er heute von Denker*innen der Postwachstums-Bewegung unkritisch wiederentdeckt wird. Als 1990 das Urteil gegen ihn nachträglich revidiert wurde, wehrte er sich dagegen und sah die Bestrafung aufgrund seiner früheren oppositionellen Äusserungen als gerechtfertigt an. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Harich als einen ultra-orthodoxen Denker. Um sich dem System anzubiedern, dass ihn als „linken Oppositionellen“ grausam unterdrückte, verteidigte er stalinistische Praktiken noch, als sie bereits aus der Zeit gefallen waren.

Harich kann als paradigmatisch für oppositionelle Kommunist*innen im DDR-Regime und anderen Staaten des Ostblocks angesehen werden. Diese erkannten die Widersprüche des „realsozialistischen“ Systems, wiesen auf sie ganz im Sinne ihrer kommunistischen Überzeugungen hin und fielen dann dem Autoritarismus zum Opfer, den sie teilweise selbst entfesselt hatten. Anders als z.B. früher Alexandra Kollontai, die zu diesen Entwicklungen schwieg, ging Harich noch einen Schritt weiter und gelangte mit einer Art Stockholm-Syndrom zur Überspitzung des orthodoxen Marxismus-Leninismus. Damit wird verständlich, warum er im Zuge des 68er-Aufbegehrens seine Anarchismus-Kritik formuliert, weswegen es wie erwähnt bis heute gegen die Unkenntnisse und Missverständnisse des Anarchismus anzugehen gilt.

Zum Charakter der Schrift fällt Harichs Diffamierung des Anarchismus als „kleinbürgerlich“ (S. 25, 73) ins Auge, wie er seit Marx' Kritik an Proudhon auf langweilige Weise von autoritären Kommunist*innen fortlaufend reproduziert wird. Wie Harich selbst feststellt ist der Klassenhintergrund der Anarchist*innen äusserst divers. Dies macht anarchistische Perspektiven meines Erachtens nach auf positive Weise vielfältig.

Es kann ausserdem als eine unter mehreren Erklärungen dafür angesehen werden, dass anarchistische Ideologien eher durch ein Set an undogmatischen ethischen und organisatorischen Prinzipien integriert werden, als durch eine in einem bestimmten Schriftenkanon festgelegte – innerhalb desselben – kohärente Lehre. Harichs Vorwurf besteht allerdings nicht wirklich in einer sozial-strukturell erklärten Bedingung anarchistischer Theorie. Vielmehr offenbart er durch diesen seine eigenen Identitätskonflikte, welche er als Bürgerkind in einer Umgebung von Kaderpolitikern mit mehrheitlich wirklich proletarischen Hintergründen, bearbeiten muss.

Projektionen sind eben einfacher als das Eingeständnis eigener Unsicherheiten. Leider geben damals wie heute auch fundamentalistische, selbstreferenzielle Denksysteme leichter Orientierung, als ein gereiftes, reflektierendes und sich aktiv in Widersprüchen bewegendes Bewusstsein. Harichs Unentschiedenheit einerseits eine „objektiv“ fundierte Kritik formulieren zu wollen, sich aber andererseits in Pöbeleien zu verstricken, macht es zwar etwas lustiger sein Buch zu lesen. Damit zeigt sich aber auch, dass hier jemand zu Unrecht etwas zu sehr von seiner Meinung überzeugt ist. Ein ganzes Strohpuppen-Theater

Zur Kritik der revolutionären Ungeduld ist sicherlich auch deswegen bekannt geworden, weil sie einige richtige Punkte in der 68er-Bewegung trifft. Dies tut sie allerdings in einer falschen Konstruktion anarchistischer Annahmen, die er allesamt seinem Hauptargument zuordnet, der Anarchismus sei ein diffuses und zielloses Rebellieren ohne Bezug zur Arbeiter*innenklasse und irrelevant. Er sei sogar konterrevolutionär, weil er von den eigentlichen Aufgaben ablenke. Diese bestünden in der Konzentration auf die Übernahme der politischen Macht im Staat, um mittels der Diktatur des Proletariats den Sozialismus als Vorbedingung des Kommunismus einzuführen.

Sicherlich wollten die Achtundsechziger zunächst alles sofort und duldeten keinen Aufschub, ihres angestauten revolutionären Begehrens. Falsch ist aber, dass anarchistische Theorie von einem „Umsturz“ ausgeht, wie Harich behauptet (S. 2). Wie auch im Folgenden misst der Autor den Anarchismus in seinen marxistisch-leninistischen Kategorien, was ihn eben zu einem grundlegenden Missverständnis führt, welches er nur durch Strohpuppen auf seine Argumentation hin zurechtbiegen kann. Im Anarchismus gibt es verschiedene Transformationskonzepte, welche als mutualistische Selbstorganisation und praktischer Experimentalismus, Aufstand und Subversion, autonome Bewegung und soziale Revolution benannt werden können. Da die Übernahme der Staatsmacht zum Ärger Harichs konsequent abgelehnt wird, besteht – zumindest nach der Wende zum 20. Jh. – nicht mehr die Vorstellung eines politischen „Umsturzes“ (s. Berkman 1928).

Zweitens behauptet Harich, im Anarchismus ginge es um die sofortige Verwirklichung der „schrankenlosen Freiheit des Individuums“ (S. 4), welche im Kommunismus ebenfalls ermöglicht werde, aber eben erst am Sankt-Nimmerleins-Tag. Die Aktiven der 68-Bewegung hatten begriffen, dass Emanzipation auch jene ihrer selbst sein muss. Und dies ist ein entscheidender Unterschied zu einem Apparatschik wie Harich, der sein Leben dem System unterordnet, welches in bedroht.

Hinsichtlich der Befreiung der Individuen kann zurecht gefragt werden, ob es sich hierbei nicht vorrangig um das Ausleben eines bürgerlichen Freiheitsverständnisses handelt. Dies ist aber eben keine Frage, die primär den Anarchismus betrifft, in welchem der Begriff der sozialen Freiheit und von Autonomie als Organisationsprinzip ja gerade eine Brücke zwischen individuellem Engagement, kollektiver Selbstorganisation, zwischen freiwilliger Partizipation und Verantwortungsübernahme für die Gemeinschaft und Gesellschaft, geschlagen wird. Einzelne Anarchist*innen mögen als Kinder ihrer Zeit dieses Konzept und diesen Anspruch verschieden leben und umsetzen (können). Im Kontext von Harichs Schrift, handelt es sich bei seinem Argument aber um eine Unterstellung.

Harich misst den Anarchismus, drittens, in den nationalstaatlichen Kategorien, welche er aus dem ML kennt. Diese stellt für ihn einen Hauptgrund für die Erfordernis einer „Diktatur des Proletariats“ dar, welches sich eben nach innen gegen politische Reaktionäre und nach aussen gegen die imperialistische Aggression kapitalistischer Staaten verteidigen müsse (S. 11). Diese Fragen haben zwar ihre Berechtigung, wenn man in der Logik eines „realsozialistischen“ Staates denkt – den Anarchismus verfehlen sie jedoch. Aus diesem Grund formuliert Harich zudem die Lüge, dass Anarchist*innen den Ersten Weltkrieg unterstützt hätten (S. 44).

Dabei bezieht er sich auf das Manifest der Sechszehn, welches unter anderem von Peter Kropotkin und Jean Grave unterzeichnet wurde. Sie fordern darin, dass der Krieg gegen das Deutsche Reich nicht sabotiert werden soll, da dieser Staat die Ausgeburt staatlicher Unterdrückung sei. Der Aufruf hat verständlicherweise zu grossen Verwerfungen in der anarchistischen Bewegung geführt. Denn diese verstand sich grösstenteils als dezidiert anti-militaristisch, weil sie konsequent anti-national eingestellt war. Da Harich dem Anarchismus einen nationalstaatlichen Bezugsrahmen unterschiebt, welchen dieser gar nicht hat, missversteht er auch anarchistische Theorie.

Viertens bedient sich Harich der „klassischen“ Marx'schen Unterstellung, der Anarchismus sei utopistisch. In seinen Worten handelt es sich um „Wunschdenken“ (S. 12ff., 81), woraus die Strategie folge, die schlechte Wirklichkeit am guten Ideal (S. 32) zu messen und auf diese Weise zu radikalem Handeln zu motivieren, welches aber pseudo-revolutionär, diffus und diskontinuierlich bleiben müsste. Der Vorwurf trifft den Anarchismus deswegen nicht, weil die kritisierten utopistischen Aspekte in allen Strömungen des Sozialismus in unterschiedlicher Gestalt auftreten und dies umso stärker, je revolutionärer sie orientiert sind.

Mit dem Stalinismus Harichs, wird die Utopie als gesellschaftliche Totalität verstanden und ihre Durchsetzung Irgendwann-Irgendwo soll die Unterwerfung und Ausbeutung gegenwärtig lebender Menschen durch eine pseudo-kommunistische und paranoide Bürokraten-Kaste rechtfertigen. Die Kritische Theorie mit ihrem Bilderverbot, als auch die Antideutschen, welche sich auf diese beziehen, stellen dazu das Spiegelbild dar: Sie verwerfen die Utopie aufgrund ihrer Brauchbarkeit für totalitäre Regime und fundamentalistische Polit-Sekten und verfallen in den Umkehrschluss, dass eine rein negative Kritik auf das wiederum total gedachte Ganzandere verweisen könnte.

Für Anarchist*innen sind dies abstruse Denkweisen. Sie distanzieren sich vom Utopismus der Frühsozialist*innen und suchen in der bestehenden Gesellschaftsform Ansatzpunkte für deren sozial-revolutionäre Überwindung. Wie Harich feststellt, aber aufgrund seines eigenen Utopismus nicht begreifen kann, denken sie hier ganz immanent (S. 81). Gleichzeitig braucht es konkrete Utopien zur Orientierung sozial-revolutionären Handelns, wozu Mittel und Wege miteinander zu vermitteln sind. „Utopie“ ist im Sinne Landauers und Rockers aber keineswegs als „Unmögliches“ oder „Irreales“ zu verstehen, sondern als verdrängte Möglichkeiten, unerfüllte Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich gleichwohl auf Erfahrungen von real lebenden Menschen gründen. Harichs Vorwurf greift schlichtweg nicht. Und in Hinblick auf das Utopie-Verständnis, wie auch die Immanenz, gehen marxistische und anarchistische Vorstellungen tatsächlich auseinander.

An den Utopismus-Vorwurf anschliessend, behauptet der Marxist-Leninist ferner, der Anarchismus funktioniere als Religionsersatz (S. 14-19). Er stelle ein quasi-religiöses Heilsversprechen in Aussicht, dass jedoch nicht auf ein Jenseits verschoben werde, sondern im Hier und Jetzt verwirklicht werden solle. Seine ausgiebige Auseinandersetzung mit der Religionskritik Ludwig Feuerbachs bestärkt ihn in dieser Annahme (S. 14). Und mit kaum einem besseren Argument hätte Harich bezeugen können, dass sein eigenes Denksystem auf unhinterfragten Setzungen beruht, die einer rationalen Begründung entzogen werden und daher quasi-religiösen Charakter annimmt. So ist es der ML, welcher auf einer apokalyptischen Erlösungsvorstellung gründet, mit welcher die Würde einzelner Menschen negiert wird. Dagegen besteht im Anarchismus in der Bezeichnung von Martin Buber (1950) ein Verständnis von prophetischer Eschatologie. Dies bedeutet, anzunehmen, dass der potenziell umfangreich zu verwirklichende libertäre Sozialismus bereits im Hier und Jetzt angelegt und konkret vorhanden ist.

Die Vorstellungswelten der Revolutionäre früherer Generationen sind häufig von religiösen Denkfiguren geprägt, weil aus religiösen Denksystemen Kategorien entlehnt wurden, mit welchen abstrakte Begriffe wie Mensch, Gesellschaft, Zeit, Wandel gedacht werden konnten. Dies lässt sich z.B. bei einem der ersten Kommunisten, Wilhelm Weitling gut sehen oder beim Frühsozialisten Henri de Saint-Simon, dessen Sozialismus-Vorstellung einen pseudo-religiösen Charakter annahm. Im Anarchismus waren einige Führungsfiguren wie Ferdinand Domela Nieuwenhuis Pfarrer, bevor sie den Sozialismus predigten. Die anarchistische Szene in den USA hat sich z.B. von den Praktiken der egalitären Gemeinschaft der Quäker beeinflussen lassen und sucht heute Inspiration in der Spiritualität der Indigenen.

Dem widerspricht nicht, dass es im Anarchismus eine grundlegende Religionskritik gibt, weil diese in ihrer Funktion als Herrschaftsideologie als reaktionär angesehen wird. Sich von religiös geprägten Menschen inspirieren zu lassen oder sich darüber bewusst zu werden, dass philosophische und theoretische Traditionen mit religiösen Denkweisen verknüpft sind, bedeutet nicht im Anarchismus einen Religionsersatz zu suchen. Hingegen verharrt selbst der vermeintliche Materialismus des ML in religiösen Denkfiguren, wenn er die Reflexion über sich selbst verhindert und seine Grundannahmen mit Sankt Marx begründet, auch wenn er sich bspw. über die Rolle des Proletariats, die Überbetonung der ökonomischen Dimension und deterministische Geschichtsverläufe geirrt hat. Gut, auch Marx war laut Harich etwas übertrieben optimistisch, was die Revolution anging, doch „der“ Marxismus hätte „Gegengifte“ gegen seine eignen Übertreibungen (S. 17-19).

Jonathan Eibisch

Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Verlag 8. Mai, 1998. 176 Seiten. ca. SFr. 11.00. ISBN: 978-3931745066