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Wladimir Iljitsch Lenin: „Staat und Revolution“

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Wladimir Iljitsch Lenin: „Staat und Revolution“ „Staat und Revolution“

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Sachliteratur

Lenins „Staat und Revolution“ gilt weithin als Klassiker der marxistischen Theorie. In ihm stellt Lenin eine radikale Vision der proletarischen Befreiung mit Losungen wie „Alle Macht den Räten“ und dem „Absterben des Staates“ vor.

Lenin spricht auf dem Teatral'naja-Platz (damals Swerdlow-Platz) in Moskau zu Einheiten der Roten Armee vor deren Abmarsch an die polnische Front. Moskau, 5. Mai 1920.
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Lenin spricht auf dem Teatral'naja-Platz (damals Swerdlow-Platz) in Moskau zu Einheiten der Roten Armee vor deren Abmarsch an die polnische Front. Moskau, 5. Mai 1920. Foto: Autor (PD)

Datum 2. Mai 2025
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Doch unter der Oberfläche dieser libertären Rhetorik verbirgt sich ein ökonomisches Programm, das nicht zur Auflösung von Herrschaft, sondern zu ihrer Neuformierung führt. Die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) hat in ihren Schriften diese Widersprüche klar analysiert und gezeigt, dass der autoritäre Staatssozialismus keine „Pervertierung“ durch Stalin war, sondern die notwendige Konsequenz aus Lenins eigenem ökonomischen Konzept.

Lenins libertärer Schein

In „Staat und Revolution“ beruft sich Lenin ausführlich auf Marx und Engels, um zu begründen, warum der bürgerliche Staatsapparat zerschlagen werden müsse, um an dessen Stelle auf der Grundlage vergesellschafteter Produktionsmittel und unter der Macht der Arbeiterräte eine zentrale organisatorische Leitung und Verwaltung für Produktion und Distribution zu errichten. Diese straff organisierte, dem Vorbild einer staatlichen Postverwaltung nachempfundene zentrale Verwaltung sollte in einem Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus angeblich zum „Absterben des Staates“ führen.

Bereits 1927 wies die GIK in ihrem Artikel „Marx-Engels und Lenin: Über die Rolle des Staates in der proletarischen Revolution“ auf den logischen Widerspruch dieser Konzeption hin.

„Wenn das Absterben des proletarischen Staats mitsamt seiner Demokratie erreicht werden soll, kann man nicht zugleich die Gesellschaft politisch und wirtschaftlich unter straffste zentrale Verfügungsgewalt der Regierung zwingen. Denn dies bedeutet das Dasein eines neuen Staates mit grösserer und weitgehender Machtbefugnis, wie sie der Staat des Bürgertums im Kapitalismus hat. Dass aber dieser Staat zu einem gegebenen Zeitpunkt seine Macht von selbst von sich geben würde, ja, auch nur könnte, ohne Zertrümmerung des ganzen zentral aufgebauten Wirtschafts- und Verwaltungsapparates, dürfen nur politische Kinder glauben.“

"Das Resultat der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch den Staat nach Lenins Theorie, also ihre zentrale organisatorische Leitung und Verwaltung, wird deshalb auch ein neuer, sich befestigender Staat, und zwar als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Bürokratie sein. Die Demokratie ist dann ähnlich wie in der bürgerlichen Gesellschaft das Feigenblatt, welches die erneute Beherrschung der Arbeiter verdecken soll."
"Auch eine neue Herrscherkaste wächst in diesem Staatskommunismus heran. Es sind die aus der Arbeiterschaft emporgestiegenen Führer und Überläufer aus dem Bürgertum, die sich dem Staatskommunismus zur Verfügung stellen und sich des zentralen Verwaltungsapparates bemächtigen.“ (zitiert nach: GIK, „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, Red & Black Books 2021, S. 65f

Stalin als legitimer Erbe Lenins

Die Verstaatlichung der Produktionsmittel unter Lenin bedeutete nicht die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern ihre Transformation in Staatskapitalismus. Was folgte, war daher keine freie Assoziation der Produzenten, sondern die Errichtung eines neuen, zentralisierten Staatsapparats. Die Arbeiter blieben Lohnarbeiter: Sie verkauften ihre Arbeitskraft nicht mehr an private Unternehmer, sondern an den Staat. Die Löhne wurden staatlich festgelegt, Streiks verboten und die Betriebe militärisch diszipliniert.

Die „Macht der Räte” existierte unter Lenin bereits nur noch in der Rhetorik, nicht aber in der sozialen Wirklichkeit. Die weitere Entwicklung des Realsozialismus war somit kein „Verrat“ an Lenins ursprünglichen Idealen, sondern deren logische Entfaltung. Wenn Stalin sich später auf Lenin berief, um die totalitäre Diktatur über die Arbeiterklasse zu legitimieren, dann tat er dies konsequent. Er folgte nicht einer „Abweichung“, sondern der inneren Logik von Lenins Konzeption. Anstatt den Kapitalismus zu überwinden, hatte der leninistische Staatssozialismus lediglich neue Formen der Ausbeutung etabliert.

„Staat und Revolution“ ist kein libertäres Manifest, sondern das ideologische Fundament für eine neue staatskapitalistische Herrschaft. Die schönen Worte von Arbeitermacht und Selbstbefreiung verbergen lediglich den autoritären Kern. Nicht Stalin „pervertierte” den Sozialismus, sondern er setzte konsequent um, was in Lenins ökonomischem Programm angelegt war.

Die ökonomischen Grundprinzipien der Assoziation freier und gleicher Produzenten

Anders als beim leninistischen Staatskapitalismus entwickelte die Gruppe Internationaler Kommunisten mit ihrer Schrift „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung” eine klare Alternative: die Assoziation freier und gleicher Produzenten, die ihre ökonomischen Beziehungen auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung organisieren. Die GIK schreibt:

„Die Durchführung der Arbeitszeitrechnung drückt sich politisch aus in dem Beherrschen der Gesellschaft durch die Arbeiter.“ (GIK, Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, Red & Black Books 2021, S. 29).

Eine Gemeinschaft freier und gleicher Individuen entsteht nicht durch Unterordnung unter ein zentrales Kommando, sondern durch bewusste, selbstorganisierte Verwaltung der Produktion auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung. Die Durchsetzung der Arbeitszeitrechnung bildet den sachlichen Massstab, der Produktion und Konsum auf Basis gemeinschaftlich geleisteter Arbeit organisiert.

Nur so wird die kapitalistische Trennung von Produzenten und Produktionsmitteln aufgehoben. Nur so wird die Lohnarbeit abgeschafft. Nur so wird eine Verwaltung durch eine von den Produzenten getrennte Bürokratie überflüssig. Erst auf dieser Basis wäre das Absterben des Staates möglich.

Hermann Lueer

Wladimir Iljitsch Lenin: „Staat und Revolution“. Mediengruppe Neuer Weg 2017. 192 Seiten. ca. 11.00 SFr., ISBN: 978-3-88021-465-1.