Wilhelm Wolfgang Schütz: Antipolitik. Eine Auseinandersetzung über rivalisierende Gesellschaftsformen Sozial-liberale Inspirationsquelle oder Extremismus der Mitte?

Sachliteratur

In meiner Suche nach Bezugspunkten für die Erarbeitung eines anarchistischen Politikverständnisses stiess ich auf das Buch «Antipolitik. Eine Auseinandersetzung über rivalisierende Gesellschaftsformen» des Politikberaters und Journalisten Wilhelm Wolfgang Schütz.

G20-Proteste in Hamburg, Juli 2017.
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G20-Proteste in Hamburg, Juli 2017. Foto: Bastian Schumacher (CC BY-SA 4.0 cropped)

16. Januar 2020
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Zunächst gelangweilt vom etwas altväterlich wirkenden Stil des Autoren, wollte ich es lediglich grob durchzublättern, bis ich entdeckte, dass der Autor einer recht seltenen und heute kaum mehr anzutreffenden Gruppe angehört: Schütz (1911-2002) war tatsächlich ein Sozial-Liberaler, einer, der die Freiheit der Einzelnen betonte, mit humanistischem Ansatz Menschenrechtsvergehen anprangerte und für eine sich selbst kontrollierende demokratische und pragmatische Sachpolitik eintrat.

Der Ausgangspunkt: „Erschütterungen“ und „Unfrieden“

Bekannt ist er für seine unkonventionellen Vorschläge zur damals sogenannten „Deutschlandpolitik“, also den Bestrebungen zur Wiedervereinigung. Er wollte sie durch eine wechselseitige Annäherung und wirtschaftliche Verflechtungen erreichen. Äusserst selten kommt es vor, dass jemand, die*der Teil des politischen Establishments ist, in diesem Betrieb zugleich eine selbstkritische Haltung einnimmt und eigene Meinungen vertritt. Schliesslich ist es ja auch selten, dass Politiker*innen überhaupt eigene Meinungen haben.

Die Lektüre von Antipolitik nahm ich vor, um einen anarchistischen Begriff von (Anti-)Politik zu schärfen. Dieser beschreibt – grob herunter gebrochen – meiner Ansicht nach das grundlegende Spannungsfeld, welches dem Anarchismus inhärent ist: Die Frage, wie sich Macht angeeignet und eingesetzt werden, um Herrschaft abzubauen, ohne sich zu neuer Herrschaft zu verdichten. Politik ist meistens staatlich oder wird dem Staat zugeordnet (sei es in staatlichen Institutionen, in der Zivilgesellschaft oder auch in linken Gruppen).

Daher lautet die Frage, ob die radikale anarchistische Kritik an politischen Institutionen, Verfahren, Diskursen und Denkweisen letztendlich zu einer Ablehnung des Politikmachens insgesamt führt. Oder, ob es doch Kriterien gibt, mit denen eine anarchistische Politik beschrieben und begriffen werden könnte – die allerdings eine Politik der Autonomie wäre, wie Saul Newman in The Politics of Postanarchism (2010) theoretisiert. Dafür springe ich an dieser Stelle 50 Jahre zurück, in die turbulenten Zeiten von 1969.

Ausgangspunkt des Buches sind die unterschiedlichen und vielfältigen gesellschaftlichen Umbrüche und Unruhen weltweit, welche sich unmittelbar vor und während seiner Abfassung abspielten. Zweifellos scheinen die Ereignisse von 68 ein grundlegender historischen Einschnitt zu sein. Die Entwicklungen dahin hatten sich selbstredend schon vorher angebahnt. So seien „Machtkampf und Revolution [...] erneut Gestaltungsfaktoren dieser Zeit. Revolution in einem Zeitalter, das sich als nachrevolutionär empfand, bis neue Revolutionen ausbrachen“ (S. 16), wobei dieser Ausbruch zugleich überraschend und enttäuschend wäre.

Schütz formuliert seine Sätze in einer treffenden Klarheit, die darum seine eigene Verunsicherung nicht ganz zu verbergen vermag: „Überall, wo sich revolutionäre Tendenzen zeigen, sind gesellschaftspolitische Strukturen bereits brüchig. Autorität wird unsicher. Obrigkeit wird bezweifelt. Legitimität der Staatsmacht wurde vorher bereits unterbrochen. Ansprüche von Staat und Gesellschaft erweisen sich nicht mehr schlüssig in der Wirklichkeit“ (S. 26).

Dabei denkt er in den Bahnen einer Drei-Welten-Lehre und sieht ein Aufbegehren in den westlichen kapitalistischen Demokratien (der sogenannten „freien Welt“), den sozialistischen Staaten (dem Staatskapitalismus), sowie den Drittweltländern (also dem ganzen Rest). Alle drei Sphären seien aus revolutionären Prozessen hervorgegangen, die jeweils einen eigenen Anspruch zur Verwirklichung von Freiheiten geltend machten. Paradoxerweise zeigten die jüngsten gesellschaftlichen „Erschütterungen“, das Zeitalter des „Unfriedens“ (S. 16), dass die bürgerlichen, sozialistischen und post-kolonialen (in den Worten Schütz': „nationalistischen“) Revolutionen gerade durch ihre Erfolge scheiterten und sie nicht vererben, d.h. keine vollends stabile Gesellschaftsordnung einrichten, konnten.

Die multiplen Konflikte liessen sich nicht mehr anhand der alten gesellschaftlichen Spaltungen erfassen, sondern würden neue Formen annehmen (S. 27). Hinzu kommt, dass sie in einer Welt globaler Verflechtungen nicht vor Landes- oder Blockgrenzen halt machen, sondern sich in ihrer Unterschiedlichkeit gegenseitig beeinflussen und aufschaukeln. An diesem Punkt empfinde ich die Beschreibung der Umbruchphase vor einem halben Jahrhundert hoch aktuell, denke ich an Welle von Protesten und Bestrebungen zur Selbstorganisation im Libanon, im Irak, Iran, in Hongkong oder in Chile; schaue ich auf black lifes matter, Mietenkämpfe, die Frauen*streik- oder die Klimabewegung.

Die Eruptionen zeigten, dass die Geschichte „sich nirgends erfüllen und nirgends vollenden [lässt]. Weder in der freien Welt noch in der sozialistischen Welt, weder mit der Unabhängigkeit der kolonialen Völker, noch mit der Hilfsbereitschaft von Industrienationen. Gerade weil keine Revolution ihr Ziel erreicht, wird jede erfolgreiche Revolution am Ende immer wieder in Frage gestellt und überwunden. Weil keine menschliche Vorstellung von Freiheit sich erfüllen lässt, erhebt sich gegen jede Form erreichbarer Freiheit am Ende Widerspruch und neuer Vorstoss. Eine gerechte Ungerechtigkeit, die dem Erreichten nie zubilligen darf, dass es das Menschenmögliche sei, weil es nie das Menschenmögliche ist“ (S. 28f.). Soziale Revolution als nie abgeschlossener, vielschichtiger, widersprüchliche Prozess, würde ich sagen.

Eine spezifische Konzeption von Antipolitik

In dieser Phase des Übergangs (S. 32f., 39, 53-65, 80-87, 124ff.), in der politische Akteur*innen gezwungen wären, ein glaubhaftes Zukunftsbild zu entwerfen (S. 66, 80, 86, 167), um in den allgemeinen Verwirrungen Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und notwendige Reformen umzusetzen, treten also antipolitische Tendenzen auf. Unter „Antipolitik“ - wie unter ihrem Gegenpart „Politik“ - kann alles Mögliche verstanden werden. Häufig wird der Begriff normativ negativ aufgeladen. So auch bei Schütz, der schon einleitend schreibt: „Politik muss gegen den permanenten Ansturm der Antipolitik verteidigt werden.

Die Gefahr ist umso grösser, als der Weg der kommenden Jahrzehnte zu neuen Formen von Gesellschaft und Staat führt. […] Eine Gesellschaft, eine Nation, die im Dickicht der Antipolitik verharren, sind in Gefahr, ihre Freiheit zu verlieren – im Zeichen der Antipolitik. Aus Furcht vor der Zukunft. Diese Auseinandersetzung ist ein verzweifelter Versuch, den Weg der Wirklichkeit zu erkennen, um aus dem Dunkel der Antipolitik herauszufinden“ (S. 9). Wie angedeutet, interessiert mich selbst eher, wie wir ins Dunkel der anarchistischen (Anti-)Politik hinein finden und es ausdehnen können, um soziale Freiheit zu erkämpfen. Dies gründet auf der Hoffnung, eine lebenswerte Zukunft und das gelingende, abgesicherte, schöne Leben für Alle zu ermöglichen.

Schütz dagegen schreibt sein Buch, um die Antipolitik seiner Zeit zu überwinden und eine gestaltende, demokratische Staats- und Parteipolitik zu ermöglichen, welche die Herausforderungen seiner Zeit mit klarem Verstand und Willen angeht, wobei sie die Zivilgesellschaft einbeziehen soll. Antipolitik sei demnach das Gegenteil, denn sie verweigere sich der technokratischen Sachpolitik, setze auf diffuse Gefühle anstatt auf Verstand (S. 85). Sie gleite ins Irrationale ab, beruhe auf Zukunftsängsten sowie auf Furcht und reduziere die gesellschaftliche Komplexität und politische Gestaltungsmöglichkeiten in ihr (S. 145). In Schütz' Worten wäre für die Antipolitik „die Zukunft ein Schicksal, für die Politik eine Aufgabe. Antipolitik begegnet der Zukunft mit Gefühlen, Politik mit Verstand. Für die Antipolitik ist Zukunft in Nebel gehüllt. Für die Politik enthält Zukunft immer Hoffnung und immer Gefahren. Antipolitik blickt zurück. Politik schaut in die Zukunft.

Antipolitik misstraut der Zukunft. Politik plant die Zukunft, wenn auch unter Zweifeln“ (S. 85). Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik könnte man mit Max Weber sagen. Seine grundlegende Angst besteht darin, dass „Freiheit“ nicht gewährleistet und ausgedehnt werden kann, wenn die Herausforderungen der Zukunftsgesellschaft von der Politik nicht aktiv angegangen werden. Darum müsse man „sich sowohl mit der Zukunft wie mit den Möglichkeiten der Freiheit in dieser Zukunft befassen, wenn nicht das Resultat einfach Unfreiheit heissen soll.“ (S. 87). Antipolitische Tendenzen, würden – weil sie „ideologisch“ seien (S. 15, S. 39, 97), auch auf Gewalt zurückgreifen würden (S. 51, 59, 71f., 88ff., 92, 132) und nicht kompromissbereit wären (S. 142) – die angestrebte Freiheit letztendlich gewollt oder ungewollt zerstören. Demnach lebe Antipolitik „in einem permanenten Gegensatz von Gesellschaftsordnungen. […] Politik geht von gesellschaftlichen Notwendigkeiten aus, die allen Gesellschaftsformen eigen sind. Antipolitik folgert aus gesellschaftspolitischen Gegensätzen eine permanente Konfrontation. Politik ist ständig auf der Suche nach Annäherungen und Überbrückung. Denn die Gesellschaft von morgen wird wieder eine Gesellschaft sein, in der alle Gegensätze enthalten sind, ohne sich auflösen zu lassen“ (S. 43).

Revolutionäre, Reaktionäre und die beharrende Mitte

Entgegen der Darstellung von Andŕe Schmiljun, lediglich Andreas Schedler (1997) unterscheide „als einer der wenigen Autoren“ verschiedene Formen von Antipolitik (Schmiljun 2014: 19), kennt auch Schütz drei ihrer Ausprägungen. Er setzt diese zwar nicht gleich (S. 150), sieht sie aber dennoch in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander stehend und aus der spezifischen historischen Situation hervorgehend. Ihre Formen sind die revolutionäre, die reaktionäre und die konservative Antipolitik. Revolutionäre Antipolitik „geht aus von gesellschaftlichen Ordnungen, die tabuisiert werden“ (S. 65). Hiermit ist selbstverständlich die 68er-Bewegung mit ihrem ausgeprägten Antiautoritarismus gemeint, die neben der Studierendenbewegung auch antirassistische Bewegungen umfasst (S. 28). In diesem Zusammenhang fragt Schütz, ob die neuartigen Umwälzungsprozessen als Revolutionen gelten können, das heisst „als ein Ganzes von geschichtlichem Ausmass mit geschichtlichem Sinn, gleichzeitig zerstörender und zukunftsgestaltender Kraft“ (S. 29).

An seine bürgerlichen Adressat*innen gerichtet fährt er mahnend fort: „Ist das so, dann lässt sich mit dem blossen Argument, man wolle das nicht, man lehne es ab, tatsächlich nur wenig ausrichten. Das wird dann blosse Reaktion. Viele Einwände sind verständlich. Aber geschichtliche Umwälzungen sind nicht dadurch aufzuhalten, dass man sie nicht will“ (Ebd.). Das revolutionäre Aufbegehren führt zu „ironischen“ Momenten, wenn sich beispielsweise der kommunistische Staat gegen ausgemachte Maoisten, Trotzkisten und Anarchisten wehre (S. 51). Schliesslich schrieben diese sich revolutionäre Zielsetzungen auf die Fahnen, welche der Staatssozialismus schon umgesetzt zu haben behauptete. Insbesondere in Hinblick auf Dissidenten im Ostblock schreibt Schütz vermittelnd: „Es gibt Anarchisten unter ihnen, gewiss. Aber die wenigsten wollen Anarchie. Die meisten fordern Freiheit in der Gesellschaft von morgen. Wie sie das Ziel erreichen können, wissen sie nicht. Dass sie aber ein Gefühl für kommende Gesellschaftsform mit Freiheitswillen erfüllt, zeigt die Morgenröte einer neuen Epoche an. Auch dann, wenn zunächst nur Fragen, aber wenig Antworten, nur Ziele, aber wenig gangbare Wege sichtbar werden“ (S. 87).

Damit befördert Schütz eine Trennung zwischen guten und bösen, respektive zwischen politischen und antipolitischen Dissident*innen und Oppositionellen. Dies ist einer der Gründe, warum er die aufbegehrende junge Generation verstehen, umgarnen und als „Partner“ für sein sozial-liberales Reformvorhaben gewinnen möchte (S. 34, 53, 60, 88, 96, 110-125). Der Jugend-Versteher erläutert: „Die Heftigkeit, mit der die junge Generation sich in allen modernen Industrienationen verhält, hat vor allem diese Ursachen: Herrschende Schichten scheinen diese Notwendigkeiten gar nicht zu sehen“ (S. 34). Mustergültig lässt sich diese Aussage durchaus auf die aktuelle Klimabewegung übertragen, die - neben der unzweifelhaften Bedeutung der Thematik - als Ausdruck dafür gesehen werden kann, dass sich junge Menschen heute nicht gehört fühlen. Sie fühlen sich ihrer Zukunft durch eine verkrustete technokratische Politik alter Bonzen beraubt. Und dies völlig zurecht – wenngleich die Bezugnahme auf die „bewegte Jugend“ durch Politiker*innen wiederum ein strategischer Schachzug ist, um diese zu befrieden oder zu integrieren.

Heute wie 68 befinden sich soziale Bewegungen also nicht allein in einer weltanschaulich-politischen Auseinandersetzung, sondern in einem Generationenkonflikt, den es zu begreifen gilt: „Das Gefühl für diese stürmische Fahrt in die Zukunft ist viel verbreiteter, als sich am politischen Alltag ablesen lässt. Die junge Generation wächst in diesem Klima auf. […] Gerade das aber verstärkt den zeitweiligen Hang zum Konservatismus vor allem in der älteren Generation. Sie denken an sich und bangen um ihre Stellung. Ihren Rang in der Gesellschaft sehen sie gefährdet. Ihre Autorität fühlen sie in Frage gestellt. Sie werden verbittert, weil sie entdecken, dass die Grundlagen von Befehl und Gehorsam zerbrechen. Denn die, denen Autorität nicht mehr viel besagt, leben bereits in einer Welt, die sich eigene, neue, andere Autorität schafft. Ohne zu wissen, welche“ (S. 53).

Für Schütz ist unabdingbar, dass die antiautoritäre Bewegung, eine neue Autorität hervorbringt, also ihre antipolitischen Aspekte über Bord wirft, um in die Politik einzutreten – und sei es in ausserparlamentarischen oder ausserparteilichen Gruppierungen und Institutionen (S. 183-187.). Denn, so belehrt er uns, „Autorität und Hierarchie sind Bestandteile jeder Gesellschaft, auch wenn sie demokratisiert werden könnte und sollte. Ordnungsprinzipien sind wesentlich, auch wenn sie demokratisch gehandhabt werden müssen“ (S. 88). Dass Ordnung durchaus auch ohne Hierarchien herstellbar ist, scheint eine Erfahrung zu sein, die er nicht gemacht hat und daher ausserhalb seines Vorstellungsvermögens liegt.

Einen guten Punkt macht Schütz jedoch meiner Ansicht nach, indem er schreibt: „Die Dialektik der Entwicklung ist ein fragwürdiger Motor der Ereignisse und wird selbst zur Erstarrung. Dies ist die geheime Stärke der konservativen Kräfte. Sie haben einen guten Stand, wenn sie die Frage nach dem Anderen, dem Neuen, dem Unerprobten stellen. Hier hilft ihnen die revolutionäre Lust ihrer Gegner, die stark im Nein, aber schwankend im Ja sind“ (S. 51). Das „Ja“, der Inhalt und die Gestalt des eigenen Projektes, eines libertären Sozialismus, gälte es meines Erachtens nach also deutlicher zu formulieren. Es müsste gezielter und kontinuierlicher organisiert werden, um über die blosse Ablehnung verschiedener Aspekte der bestehenden Gesellschaftsordnung hinaus zu gelangen. Dies hätte keineswegs zwangsläufig zur Folge, sich an staatlicher Politik zu orientieren, noch führt es unbedingt zur vermeintlich „revolutionären Realpolitik“, mit welcher zum Beispiel Michael Brie und Joachim Hirsch in Anschluss an Rosa Luxemburg die Kluft zwischen eiserner Realpolitik und dem radikalen Überschuss zu überbrücken vorschlagen. Eine sozial-revolutionäre (Anti-)Politik ist möglich.

Reaktionäre Antipolitik ist die Konservative Revolution mit ihren eindeutig faschistischen Tendenzen, wie sie mittlerweile leider weit stärker ausgeprägt ist als 1968, wo die NPD mit knapp 10% der Stimmen in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen war. Heute, wo in der BRD eine extrem rechte Partei 13-20% der Stimmen auf Bundesebene, in verschiedenen Landesteilen aber über 30% erhält, kann nur festgestellt werden: Den Anfängen des Faschismus wurde nicht gewährt – weil dieser aus der bürgerlichen Mitte hervorgeht. Auch in den Klassen der Privilegierten, den repressiven Teilen des Staates und bei religiösen Fundamentalist*innen besteht ein hartes Interesse an der Verschärfung des Autoritarismus in Zeiten kapitalistischer Verwertungskrisen und kulturell-weltanschaulicher Auseinandersetzungen.

Einige Passagen von Schütz' Buch lesen sich hochaktuell, wenn er die Morde an Martin Luther King und John F. Kennedy als „Ausdruck einer erstarrten Gesellschaftsschicht, die ihre Privilegien mit allen Mitteln der Gewalt verteidigt“ (S. 51) ansieht. Weiterhin schreibt er diesbezüglich: „Ob Einzeltäter oder nicht, diese Serie von Mordtaten ist im Kampf gegen die Bürgerrechte systemgemäss. Sie fügt sich in ein Stimmungsgefüge ein. […] Das Konservative wird gewalttätig, wenn umwälzende Veränderungen auf bestehende Bastionen prallen. Für die Bewahrer des Bestehenden droht eine Welt einzustürzen“ (Ebd.). Hierbei lässt sich eine deutliche Parallele zur Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübke am 2. Juni 2019 ziehen. In einigen Momenten zielt faschistischer Terror auf das politische Establishment, um den Bruch zu markieren, anstatt wie üblich – zuletzt beim Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 – dem antisemitischen, rassistischen und sexistischen Vernichtungswahn und den alltäglichen Anfeindungen Anders-Seiender zu folgen.

Hier beweist Schütz' Rückgrat, denn in seinen Zeilen zu Extremismus behandelt er zurecht den Rechtsextremismus (S. 132-146), wobei er den linken „Extremismus“ vor allem dort bekämpfen will, wo dieser sich dem Faschismus angleiche. Als Beispiel nennt er die sogenannte „Vorspann-Doktrin“, den Hitler-Stalin-Pakt und die Sozialfaschismus-These (S. 147-152). Schütz sieht ebenfalls, dass der Faschismus nicht einfach von rechts aussen kommt, sondern teilweise im verbreiteten Untertanengeist, den Ressentiments und der Unselbständigkeit zu sehen ist. So meint er, ein „Kernstück der Antipolitik ist selbst in der modernen Gesellschaft die Neigung, Staatsmacht nicht nur als Absolutismus, sondern sogar als Absolution zu sehen“ (S. 72). Damit will er ausdrücken, dass die Staatsmacht von vielen Menschen zu einem Grad fetischisiert wird, dass sie gewaltsames staatliches Handeln und eben auch Faschismus zumindest dulden, wenn diese sich den Anschein geben, Herrschaftsordnung zu bewahren oder wiederherzustellen. Als Beispiele seiner Zeit kritisiert Schütz die Franco-Diktatur in Spanien und die Obristen-Diktatur in Griechenland (S. 28, S. 114f.).

Demnach ist es naheliegend, die politische Performance von Trump oder Bolsonaro als „antipolitisch“ zu beschreiben, wie dies verschiedene Journalisten heute tun. So laste auch „in freien Ländern, in einer freien Gesellschaft [...] der Mythos des Staates noch so schwer auf der Seele, dass sich Menschen nur selten über diese Staats- und Erziehungsgläubigkeit erheben. Darin steckt eine der tiefsten Ursachen der Antipolitik. Mag auch ein Gewaltstaat verhasst sein, immerhin ist er noch Staat. Mag auch eine Gesellschaftsordnung freiheitswidrig sein, immerhin ist sie eine Ordnung. Mag auch eine Gewaltherrschaft erziehen, bilden und verbilden, immerhin ist es eine Obrigkeit, die auf dem Katheder steht (S. 112).

Doch das Hauptaugenmerk von Schütz gilt dem - von reaktionärer Antipolitik gar nicht weit entfernten - antipolitischen strukturellen Konservatismus. Sowohl jenem in der Bevölkerung, als auch dem in Kreisen staatlicher Politik. Der konservativen Grundhaltung, die sich vor allem aus der Absicherung des materiellen Lebensunterhalts ergebe, entspringe eine konservative Politik, welche jedoch nur teilweise das dafür notwendige Funktionieren der Wirtschaft gewährleisten kann (S. 44). „Die moderne Industriegesellschaft ist hochempfindlich. Nicht nur technisch, sondern auch psychologisch. Der Mensch wittert die stets drohende Gefährdung. Er neigt deswegen dazu, vorzubeugen und sich abzuschirmen“ (S. 45). Dies führe in Verbindung mit moderner Parteistrategie und PR-Beratung zu einer Entleerung von politischen Programmen, die zum Alibi für ernstzunehmende Reformvorhaben verkommen würden (S. 46).

Der Widerspruch zwischen formulierter Programmatik und ihrer realen Umsetzung entfremde somit die Bürger*innen vom politischen Betrieb. Weiterhin käme es zu einer problematischen – sozusagen „magischen“ - Personifizierung von und in Politik, welche die Komplexität moderner Gesellschaften reduziere, in der sich Menschen vereinzelt und ohnmächtig fühlen (S. 47f.). Das in diesem Zusammenhang grundlegender die Mechanismen parlamentarischer Demokratie wie Repräsentationsprinzip, Mehrheitsprinzip, das Machtgeklüngel oder auch politischer Berichterstattung zu hinterfragen wären, kommt Schütz jedoch nicht in den Sinn. Schade, denn somit könnte die Politikwissenschaft aufhören, das Phantom der vermeintlichen „Politikverdrossenheit“ zu untersuchen und stattdessen Feierabend machen.

Konservative Antipolitik erhebt „die Gesellschaftsordnung, in der sie lebt, zu gottgewollter oder geschichtsnotwendiger Endgültigkeit“ (S. 65). Sie „verketzert die Veränderung. Politik [dagegen] sieht in jeder Phase der Gesellschaft das Gestern wie das Morgen“ (S. 15). Damit ist sie im Grunde genommen die Kehrseite revolutionärer Antipolitik, denn in beiden Fällen wird die Revolution als „absolut [angesehen]. […] Revolution als Umsturz ist Furcht oder Hoffnung der Antipolitik“ (S. 15). Das nahezu krampfhafte Bedürfnis nach Ruhe sei „menschlich verständlich, aber für die Zukunft unhaltbar. Neue Erschütterungen brechen um so schwerer herein, wenn eine Zeit verkrampfter Ruhe vorausgeht. Der Stillstand bringt heftigere Umwälzungen hervor als der Fortschritt. Das ist der geschichtliche Hintergrund vor dem sich der Umriss gewaltiger Veränderungen abzeichnet. Das eine der Ursachen von Unruhe, gegen die sich bestehende Gesellschaftsordnungen durch Macht oder Wohlstand abgesichert glaubten“ (S. 31).

Grob herunter gebrochen wäre es also gerade die Verstocktheit, Ignoranz und Zukunftsangst der Konservativen, welche erst den revolutionären Aufruhr befördere, denn die „Heftigkeit weltweiter Erschütterungen erklärt sich aus dem Versuch, einen Endzustand zu verteidigen gegenüber den Notwendigkeiten der Veränderung, die eine Wissensgesellschaft erzwingt“ (S. 32). Wenn eine saturierte Schicht ihren relativen Wohlstand als einen „Endzustand der Geschichte“ festschreiben und mit immer autoritäreren Mittel behaupten will, führt dies zu einer „Spannung der Erlebniswelten“, wo reale Lebensbedingungen in verschieden Schichten und Milieus bereits deutlich auseinander klaffen (S. 36). Theatralisch beschreibt Schütz, dass der „Unaufhaltsamkeit epochaler Veränderungen die Entschlossenheit zu einem epochalen Endzustand gegenüber[steht]. Das ergibt die weltweite Erschütterung dieses Zeitalters. Das ist ein Antrieb zur Flucht in die Antipolitik“ (S. 38).

Mit zunehmender Anfechtung der bestehenden Gesellschaft würden die „Verteidiger des Bestehenden“ in „Glaubensfestungen“ fliehen, sich also vermehrt an Kirchen wenden und sich quasi auf ideologische Debatten zurückziehen, um ihre Position zu behaupten (Ebd.). Damit verlagern sie jedoch die politischen Auseinandersetzungen und behandeln selbstbewusst Gegner*innen als Ketzer*innen, während sie Kritik als Verrat abtun. Doch dies alles sei ein „Symptom des Übergangs. So grausam es ist, darin liegt eine Gewähr der Weiterentwicklung, ein Beweis eines unaufhaltsamen Rhythmus der Veränderung“ (S. 39). But another politics are possible: Schütz will keine „Ausrede für das Beharren“ (vgl. S. 105). Denn keine „Weiterentwicklung hätte Sinn, wenn sie nicht auch Wesentliches aus den Beständen erhält, wenn sie nicht auf festen Grundlagen aufbaut. Der Vorwurf gegen alle Neuerungen, sie gefährdeten das gute Alte, soll in Wirklichkeit das schlechte Alte bewahren und das gute Neue verhindern. Doch die Politik, die sich rühmt, das Bestehende zu bewahren, ohne den Rhythmus der Entwicklung mit zu vollziehen, schürt die Furcht vieler Menschen vor dem Unbekannten. Ob sie es nun selber wissen oder nicht, diese starren Status-quo-Propheten, sie betrügen das Volk – und sie betrügen sich selbst“ (S. 50).

Wenngleich revolutionäre, reaktionäre und konservative Antipolitik verschieden sind, weisen sie auch Gemeinsamkeiten auf. Schütz formuliert sie auf einem Merkzettel: „Antipolitik sieht im Extremismus das Revolutionäre [= konservative Antipolitik]. Politik erkennt im Extremismus das Reaktionäre [= „vernünftige“ Reformpolitik]. Extremismus ist die Reaktion der Revolutionäre [weil antiautoritäre Linke sich nicht gehört fühlen und daher radikalisieren]. Extremismus ist die Revolution der Reaktionäre [= meint Konservative Revolution und eindeutig faschistische Anteile in ihr]. Beides ist antipolitisch. Beides hat keine Zukunft. Politik ist nur möglich zwischen den Extremen. Denn Gesellschaft und Staat leben immer zwischen den Extremen, nie im Extrem“ (S. 131). Die goldene Mitte, die sich der Illusion eigener Vernunft hingibt mit der sie die Notwendigkeiten zu bearbeiten glaubt, während sie anderen Positionen ihren Gehalt abspricht, war schon immer der falsche Weg. Sie blendet aus oder verschleiert, dass das spezifische Terrain auf dem ihre Politik stattfindet, durch politische Auseinandersetzungen geformt und aufrechterhalten wird.

Die Unvermeidbarkeit gesamtgesellschaftlicher Transformation

Wie schon angedeutet stützt Schütz' seine Argumentation auf die Annahme eines unvermeidlichen Übergangs. Er bezeichnet ihn als Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, wobei er nicht näher ausführt, was sie auszeichnet. Dies lässt sich mit heutigen Debatten um die Durchsetzung des „Sicherheitsparadigmas“ (= Ausweitung von Überwachung, Kontrolle, Polizeiaufgabengesetze etc.) und selbstverständlich der „digitalen Revolution“ vergleichen. In der Wissensgesellschaft gewinne die Planbarkeit von politischen Entscheidungen, wissenschaftlichen Entwicklungen, Konzernpolitiken und individueller Lebensgestaltung einen weit grösseren Stellenwert als in vorherigen Jahrzehnten. „Jede Gesellschaft ist auch eine suchende Gesellschaft. Zumal in Zeiten des Übergangs. Gerade jetzt, wo sich zum ersten Male in der Geschichte ein Zukunftsbild abzeichnet, das viel genauer abgegrenzt, errechnet und durchleuchtet werden kann als je zuvor. Moderne Computer-Technik reisst künftige Jahrzehnte in die Gegenwart herein. Planung ist Bestandteil aller materiellen Verhältnisse geworden“ (S. 80). Die „Planifizierung“ verunsichere viele Menschen zurecht, weswegen Politik in der Verantwortung wäre einen „Mut zur Zukunft“ aufzubringen, um ihr Vertrauen zurückzugewinnen (S. 80f.). Wenn Vorauswissen und Planung ein wesentliches Moment für Politik werden, führt das „Element der Zukunft, […] [welches] im hohen Grade in den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis fällt, [...] somit zu einer Veränderung der Machtverhältnisse. Es sichert Macht, soweit sie sich kritischer Prüfung unterzieht. Es befördert aber auch den Aufstieg der Machtlosen, die auf diesem Boden ebenbürtige Partner werden“ (S. 100).

Dass Wissenschaftler*innen sich kritisch an Politiker*innen wenden, wurde in den Neuen sozialen Bewegungen gängig, namentlich in der Anti-AKW-Bewegung. Wiederum sind es auch heute (wie vor 30 Jahren) wissenschaftliche Analysen und Prognosen, welche der aktuellen Klimabewegung volle Berechtigung geben – auch wenn sie von politischen Entscheidungsträger*innen teilweise gänzlich ignoriert werden. Nicht, weil jene vermittels staatlicher Politik nicht handeln wollen, sondern, weil sie meiner Ansicht nach nicht handeln können. Zu naheliegend wäre es nämlich, damit auch die Systemfrage stellen zu müssen. Widersprüche ergeben sich daraus, dass staatliche Politik dennoch fortwährend Handlungsfähigkeit demonstrieren muss. In diesem Zusammenhang wird Schütz' eigene unkonventionelle Perspektive deutlich, da er die Tragweite gesellschaftlicher Entwicklungen erfasst und aus diesem Grund eindringlich für politische Reformen wirbt. In der „Wende der neuen Zeit“ (S. 53) sei der Übergang zur Wissensgesellschaft unausweichlich, zumal die Wissenschaft schon jetzt staatliches Handeln in gigantischem Ausmass beeinflusse (S. 33).

Der geschichtsphilosophische Blickwinkel den Schütz' einnimmt, ermöglicht ihm seine eigenwillige Positionierung, mit der er das politische Establishment zur Selbstkritik anzuregen trachtet. Hierbei hat er eine humanistische, sozial-liberale Einstellung, im Unterschied zu solchen grotesken Clowns wie Thilo Sarrazin, die den politischen Diskurs und Betrieb von der dunklen Seite der Macht aus vor sich hertrieben. Bisweilen nimmt Schütz' Stil jedoch eschatologische Züge an. Demnach kann vermutet werden, dass er auf die Polarisierung der gesellschaftspolitischen Lager mit einer Forcierung der Unterteilung von Politik und Antipolitik reagiert. Mit seiner unkonventionellen Perspektive erfasst er die Tragweite gesellschaftlicher Spannungen, die mir ein langes Zitat wert sind: „Der Übergang von der modernen Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft bestimmt den Rhythmus der Veränderung.

Die Heftigkeit weltweiter Erschütterungen erklärt sich aus dem Versuch, einen Endstand zu verteidigen gegenüber den Notwendigkeiten der Veränderung, die eine Wissensgesellschaft erzwingt. Die einen wollen den Sieg ihrer Revolution verewigen. Die anderen leben bereits in einer kommenden Welt, die neue Strukturen erfordert. Die einen sagen, die Geschichte habe sich erfüllt. Die anderen ahnen, dass der Zyklus sich fortsetzt. Für die einen ist Freiheit das, was sie erreicht haben. Für die anderen ist Freiheit das, was sie erreichen wollen. Den einen dient die Ordnung als Mittel der Selbstbehauptung. Die anderen stellen die Ordnung in Frage, weil sie die Selbstbehauptung anderer erschwert. Die einen atmen auf, noch einmal davongekommen zu sein. Die anderen sehen alle Ungewissheiten des nächsten Jahrtausends auf sich zukommen. Dies ist eine revolutionäre Situation“ (32).

Auf dem Weg zur „permanenten Reform“

Dies führt Schütz zur Forderung nach einer „permanente[n] Reform, und zwar unter Beteiligung des Volkes, der Menschen, des einzelnen“ (S. 181). Wie bereits erwähnt baut er dazu auf die sich bewegende, aufbegehrende junge Generation, denn eine „Politik ohne diese Jugend, das ist Antipolitik. Eine Gesellschaftspolitik gegen die junge Generation, das ist Antipolitik. Das gesellschaftskritische Pathos, das jetzt aus jungen Stimmen klingt, kann ein reformerisches Ethos werden, ohne das die Gesellschaft von morgen nicht gebaut werden kann“ (S. 110). Es ist die Dynamik, die Energie und die Entschlossenheit der ausserparlamentarischen Bewegungen, welche Schütz in sein Reformprojekt integrieren möchte. Hierbei scheint er sich recht sicher zu sein, dass die Aufbegehrenden eigentlich staatlich vermittelte Reformen wollen. In Hinblick auf den Prager Frühling schreibt er: „Der Anpassungszwang in der totalitären Gesellschaft treibt aber die Engagierten in den Widerstand. Deutlicher als in Prag konnte das nicht bewiesen werden. Die leidenschaftlich engagierte junge Generation steht einhellig auf der Seite der Reformer“ (S. 120).

Wie immer sind soziale Bewegungen als heterogen anzusehen. Bei vielen Menschen reicht der Horizont wohl nicht über Forderungen nach einer Reformierung des Bestehenden hinaus oder ist wieder darauf zurück gestutzt worden. In dieser Aussage schwingt allerdings die Unterstellung mit, im Grunde genommen gäbe es keine sozial-revolutionären Strömungen, welche ernsthaft – nicht zwangsläufig auf eine phrasenhafte, plakative Weise – für ein anderes Gesellschaftssystem eintreten würden. Damit diese Okkupation, die Vereinnahmung der sozialen Bewegungen, für die Interessen des progressiven Teils des Politikbetriebs gelingt, müsse sich jener öffnen und wandeln. Denn der „Parteienstaat wird deswegen nur dann zur Demokratie, wenn die Parteien keinen politischen Monopolanspruch erheben. Sie müssen ausserparteiliche Politik wollen, die neben der Parteipolitik steht, wenn sie lebendige Demokratie will“ (S. 183).

Umgekehrt müsse auch ausserparlamentarische Politik eine Partnerschaft mit Parteien eingehen wollen, denn es sei „absurd, ausserparteiliche und ausserparlamentarische Politik zur ausserparlamentarischen Opposition zu machen. Es gibt keine Politik, die nur Opposition, keine, die nur regierungsfreundlich wäre. Sonst ist sie Antipolitik. Eine Partei, die mit Politik und Macht umzugehen versteht, wird sich stets mit ausserparteilichen Kräften verbünden“ (S. 187).

Dieser Ansicht nach könnte der Anarchismus also keineswegs politisch sein, denn es zeigt sich, dass Schütz Politik letztendlich vollständig dem Staat zuordnet. Dass eine ausserparlamentarische oder gar antiparlamentarische Bewegung mit reflektierten Überzeugung und seriösen Argumenten, die sich nicht zuletzt aus den Erfahrungen mit Politik ergeben haben, tatsächlich für eine andere Form der Politik eintritt, kann er sich nicht vorstellen. Dies ergäbe sich seiner Ansicht nach aus der spezifischen Gesellschaftsstruktur und den darin angelegten Transformationspotenzialen. Das Entscheidende, das Neue, diese gesellschaftliche Ungleichzeitigkeit, diese „revolutionäre Situation lässt sich nicht mit revolutionären, sondern nur mit reformerischen Mitteln bewältigen“ (S. 32).

Mit anderen Worten: Weil der demokratische Kapitalismus (prinzipiell aber auch der realexistierende Staatssozialismus) grundsätzlich reformierbar wäre, wären sozial-revolutionäre Perspektiven oder Methoden „absurd“, weil antipolitisch. Deutlich wird, dass Schütz den Rahmen legitimer Politik strikt setzt und selbstherrlich die Grenze zu dem zieht, was überhaupt als Politik gelten kann. Dass die Definition dessen, was Politik ist und ihre konkrete juristische, bürokratische, polizeiliche Auslegung, selbst eine politische Praxis ist, die zum Ausschluss und Einschluss bestimmter Positionen und Gruppierungen führt, verschleiert Schütz in diesem Moment. Dies ist auch nicht verwunderlich, gilt ihm sein technokratischer, wenn auch demokratischer, Politikstil ja im Gegensatz zu den antipolitischen Tendenzen als nicht-ideologisch. Auf welchen Grundsätzen sein Humanismus, seine Forderung nach staatlicher Wirtschaftstätigkeit oder auch seine aussenpolitischen Vorschläge beruhen, entzieht er somit der Debatte.

Doch welche Folgen zeitigt diese Haltung möglicherweise? Was ist, wenn sich die Antipolitiker*innen nicht zum Reformismus bewegen lassen? Wenn sie dennoch ein bedeutender gesellschaftlicher Faktor werden und ihre (anti-)politischen Vorstellungen mit Fluchtlinien hin zu einer ganz anderen Gesellschaftsform unmittelbar verwirklichen würden? Würde sie Schütz in diesem Fall zu „Extremist*innen“ erklären? Immerhin schreibt er: „Extremismus ist kein Schicksal, ist auch kein Kavaliersvergehen. Er ist die Selbstvernichtung eines Volkes, bedeutet Chaotisierung jeder Gesellschaft. Also muss man dagegen angehen“ (S. 132). Mit dieser Aussage setzt er „die“ Gesellschaft implizit mit dem Staat gleich, spricht also staatlichem Handeln die Definitionsmacht darüber zu, wer als „extremistisch“ gilt und wer „antipolitisch“, also untragbar, infantil, unseriös, ideologisch und potenziell gefährlich wäre. Was ich damit deutlich machen will, ist, dass der Sozial-Liberalismus in sich schlüssig ist.

Der Ansatz einer Demokratisierung, die Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, die Ausdehnung von Individualisierung (welche sich hinter der Formel der Freiheit Einzelner verbirgt) ist aus staatspolitischer Sicht sicherlich ein adäquater Vorschlag, um dem Transformationsbedarf gerecht zu werden und die neue (man könnte auch sagen: „postfordistische“) Gesellschaftsformation einzurichten. Im Rahmen von Politik geben Schütz' Vorschläge Sinn und führen durch Ausgrenzung des Antipolitischen zugleich zur Ausdehnung des Politischen. Was Schütz hingegen völlig entgeht, sind die strukturellen Handlungsbegrenzungen, welche Politik aufweist. Somit unterschätzt er seine eigene Beobachtung, der unausweichlich fortschreitenden Technokratisierung, Rationalisierung und Abkapselung von Politik. Stattdessen er suggeriert er, Gestaltungswille und humanistische Werte würden in diese zurückkehren, wenn sie sich neu formieren und behaupten würde.

Diese Bestimmung von (legitimer) Politik geht mit der Definition von Demokratie einher. Jene müsste nach Schütz als wesentlich politisch bezeichnet werden. Doch wird Demokratie „von Antipolitik als Alibi missbraucht. Erstarrendes Beharren, altersschwache Traditionen, getarnte Oligarchie, Neofaschismus wie kommunistischer Absolutismus, selbst Anarchie marschiert unter der Flagge der Demokratie. […] Antipolitik hat immer Antworten parat, wenn es um Demokratie geht. Politik stellt immer Fragen nach Demokratie“ (S. 161). In diesem Zusammenhang verwunderlich ist, dass Schütz insgesamt doch eher einen antwortenden als einen fragenden Stil hat. Nur scheinbar „fragt“ er die rebellierende Jugend, was sie eigentlich will.

Er kennt die Antwort schon: Ist sie „politisch“ würde sie Reformen wollen. Wo sie das nicht ist, wäre sie „antipolitisch“, das heisst abzulehnen und potenziell extremistisch. Dabei ist es möglich, auch vehement, für eine pluralistische Gesellschaft und einen freien Diskurs einzutreten. Angemessen wäre es allerdings, auch zu benennen, wer nicht legitimer Teil der politischen Diskussion und Verhandlung ist oder nicht sein soll (wofür es ethische Argumente geben kann). Dann nämlich erst könnte die Frage aufgeworfen werden, welche rebellierenden und subalternen Klassen und Milieus nicht an parlamentarischer Demokratie und staatlicher Politik partizipieren können oder wollen. Erst die tatsächliche Anerkennung anderer Positionen könnte zur Annäherung an die eingangs erwähnte sozial-liberale Zielvorstellung führen, dass nämlich Politik „ständig auf der Suche nach Annäherungen und Überbrückung [ist]. Denn die Gesellschaft von morgen wird wieder eine Gesellschaft sein, in der alle Gegensätze enthalten sind, ohne sich auflösen zu lassen“ (S. 43). Der Sozial-Liberalismus verfehlt sein eigenes Anliegen somit systematisch, weil er den bereits geschlossenen Klassenkompromiss um einen Kompromiss zwischen Regierenden und Regierten zu ergänzen anstrebt.

Zusammenfassung und die Möglichkeiten der Aneignung für eine anarchistische (Anti-)Politik?

„Wo Regierung den Widerspruch verübelt, herrscht Antipolitik. Wo das Volk den Staat verneint, herrscht Antipolitik. Demokratie setzt Einsicht in die Erfordernisse der Regierung voraus. Das heisst auch in die Notwendigkeiten, Volksmeinung und Volksgefühle gegen Sachzwänge abzuwägen. Aber demokratische Regierung setzt auch die Anerkennung der Freiheit voraus, das heisst Meinungen und Gegenmeinungen der anderen. Und die Bereitschaft, zurückzutreten“ (S. 163).

Nehme ich diese Aussage als Quintessenz für die ausgeführte Darstellung Überlegung an, bleibt die Einsicht darin, dass Anarchismus in den Kategorien von Schütz eindeutig antipolitisch und daher seiner Ansicht nach grundlegend abzulehnen ist. Damit stellt der Anarchismus das direkte Gegenstück einer strukturell konservativen, also Reform-unwilligen, Regierung einerseits und ihren reaktionären Auswüchsen andererseits dar. Gemeinsam ist diesen jedoch, dass sie sich vermeintlicher (staats-zentrierter) Sachpolitik, also der „eigentlichen“ Politik, verweigern. Regierung ist politische Herrschaft über die Bevölkerung durch privilegierte Klassen, deren Interessen sich in den Institutionen eines relativ autonomen Staates verdichten und über diesen vermittelt werden.

Demokratische Regierung lässt Widersprüche und Diskurse zu, setzt sich selbst eine Grenze vor dem Privatleben seiner Bürger*innen und versucht soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Initiativen durch materielle Zugeständnisse, sowie die politische Logik, Verfahren und Institutionen an sich zu binden und sie zu vereinnahmen. Schütz glaubt die Selbständigkeit des Staates gegen dessen objektive Abhängigkeit von „wissenschaftlichen“ Erkenntnissen behaupten zu können. Seine Lösung für die unvermeidliche „Planifizierung“ ist ein technokratischer Staat mit „menschlichem Antlitz“.

Dies umzusetzen scheint ihm vorrangig eine Frage des Willens zu sein. Es geht Schütz also um eine umfangreiche Umstrukturierung des Staates, um den sich bereits vollzogenen bzw. zukünftig noch vollziehenden gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht zu werden. Nur durch grundlegende Reformen kann Staatlichkeit selbst Handlungsfähigkeit und Legitimiation herstellen und damit weit stabiler sein, als eine Gewaltherrschaft, wie sie die Reaktionären befürworten. Wie aber die Selbständigkeit des Staates neu hergestellt werden kann, ohne, dass dieser entweder totalitär wird oder die Entfremdung seiner Unterworfenen vorantreibt, was in beiden Fällen zur Untergrabung demokratischer Herrschaft führt, bleibt Schütz' Geheimnis.

Abschliessend möchte ich noch einmal genauer auf Schütz' Kriterien für Antipolitik zurückschauen, um Anarchismus darauf hin abzuklopfen. Als Hintergrundfolie nehme ich die heutige Umbruchsituation an, in der Klimawandel bzw. Klimabewegung und Klimapolitik ein markantes Beispiel für den massiven gesellschaftlichen Reformbedarf darstellen. Dieser wäre nur durch eine umfassende Veränderung staatlicher Herrschaft im Rahmen des demokratischen Kapitalismus zu realisieren. Andernfalls droht das Aufkommen von faschistischen oder libertär-sozialistischen gegenhegemonialen Projekte, welche letztendlich die Systemfrage stellen. Das faschistische politische Projekt hat sich in den letzten Jahren etabliert und enormen Zuspruch erhalten. Libertär-sozialistische Gesellschaftsalternativen dagegen verdichten sich bisher nicht in einem gemeinsamen sozial-revolutionären Transformationsprojekt. Auch wenn es mehrere grössere emanzipatorische Mobilisierungen und auch Erfolge gab. Um die kollektive Bildung einer geteilten Vision einer solidarischen, freiheitlichen und egalitären Gesellschaft, als auch die Vorstellbarkeit solcher transformativer Projekte zu fördern, beschäftige ich mich mit anarchistischer (Anti-)Politik.

1) Antipolitik entstünde in Situationen gesellschaftlicher Polarisierung, in denen es zu nachweisbaren Ungleichzeitigen und divergierenden Lebensgefühlen in verschiedenen Milieus kommt. Dies lässt sich für die heutige Situation, 50 Jahre nach 1969, so feststellen. Im deutschsprachigen Raum gibt es aktuell keine sozial-revolutionäre Bewegungen. Es ist allerdings nicht völlig auszuschliessen, dass sich Teile der sozialen Bewegungen tatsächlich weiter radikalisieren und staatliche Herrschaft radikal in Frage stellen. Während Schütz dies als „Antipolitik“ bezeichnet, könnte umgekehrt genauso gesagt werden, dass hier nun endlich wieder mal Politik stattfindet. Der technokratische Regierungsstil der letzten 15-20 Jahre, den Schütz wahrscheinlich feiern würde, könnte nämlich ebenso gut als Stillstellung von „Politik“ bedeutet werden, gegen die nun „Politiken von unten“ aufbegehren.

2) Antipolitik geht laut Schütz von tabuisierten gesellschaftlichen Ordnungen aus. Dies kann für die Anarchie gesagt werden. Ergänzt werden müsste, dass sie als naiv, potenziell gewalttätig, ideologisch und kompromisslos diffamiert dargestellt und ausgegrenzt wird. Eine Tabuisierung findet insofern eher weniger statt, als dass das anarchistische Strömungen leider nach wie vor keinen nennenswerten gesellschaftlichen Einfluss geltend machen können. Das Eintreten für eine andere Gesellschaftsordnung muss unter vorfindlichen Machtverhältnissen auch politisch sein, da selbst eine Kritik an staatlicher Politik nicht umhin kommt, sich auch auf diese zu beziehen. Diese generiert sie jedoch ausserhalb ihres vorgeprägten Rahmens, weswegen auch eine Organisierung ausserhalb desselben möglich ist.

3) Revolutionäre Antipolitik setze ihre Hoffnung auf einen Umsturz. Was den Anarchismus angeht, ist dies mit einem Ja und Nein zu beantworten. Die Vorstellung eines „Umsturzes“ ist mit dem Konzept einer politischen Revolution verbunden. Anarchist*innen wollen jedoch die bestehende Herrschaftsordnung nicht durch eine andere ersetzen, sondern Herrschaftsverhältnisse insgesamt abbauen und überwinden. In diese Sinne zielt die soziale Revolution im anarchistischen Sinne nicht auf einen politischen Umsturz ab, sondern auf die Unterminierung von Herrschaft und ihre Ersetzung durch egalitäre, selbstverwaltete Strukturen. Gleichwohl geht es um die radikale Transformation der gesamten Gesellschaft. Hier besteht im derzeitigen Anarchismus aus verschiedenen Gründen eine Leerstelle, die durch den Aufbau und das Sichtbarmachung von konkreten Utopien zu füllen ist.

4) Antipolitik verweigere sich der Zukunft, indem sie entweder zurückblicke oder sie in nebelhafter Unklarheit lässt. Was auf Konservative und Reaktionäre sicherlich zutrifft, kann für Anarchist*innen nicht gesagt werden. Gleichwohl malen diese sich keine harmonische, heile Welt aus, in der alle Konflikte beseitigt und alle gesellschaftlichen Probleme gelöst wären. Von Idealbildern der Zukunft muss Abstand genommen werden. Sie können leicht von autoritären Strömungen vereinnahmt oder als per se unerfüllbare Träumerei abgetan werden und somit keinen signifikanten Teil der Bevölkerung inspirieren und motivieren für eine soziale Revolution einzutreten. Klimabewegte Menschen verweigern sich nicht der Zukunft, sondern blicken ihr ins Auge. Sie brechen somit mit der systematischen gesellschaftlichen (und auch staatlich-politischen) Selbsttäuschung. Sie kämpfen für eine lebenswerte Zukunft (hoffentlich für alle!), welche unter den bestehenden Bedingungen und Machtverhältnissen nicht zu gewährleisten ist. Es gibt gute Gründe, sich keine Pläne für eine erstrebenswerte Gesellschaft auszumalen. Gleichwohl braucht es eine geteilte emanzipatorische Vision, um Orientierung zu ermöglichen, wo es hingehen und wie der Weg dorthin gegangen werden kann. Dies unterscheidet sich grundlegend von eine schwärmerischen und zugleich völlig unbestimmten Fiktionen wie beispielsweise jener einer „befreiten Gesellschaft“. Der Schleier der Zukunft lässt sich nur lüften, wenn sie ins Heute geholt und vorweggenommen, wenn sie organisiert, erkämpft und gelebt wird. Sichtbar wird sie vor allem gegen und jenseits von staatlicher Politik.

5) Antipolitik beziehe sich auf Gefühle und nicht auf den Verstand. Damit drohe sie ins Irrationale abzugleiten und Ängste zu schüren, meint Schütz. Was hier – wie allerdings auch 69 – mustergültig auf die konservativen Reaktionär*innen zutrifft, kann auch für Politiker*innen des Establishments gesagt werden. Immerhin sprechen diese gezielt die Ressentiments von Bürger*innen an und schüren sie, um daraus Legitimation bspw. für ihre Neuauflage von Polizeiaufgabengesetzen zu generieren. Auf links-emanzipatorische Akteur*innen hingegen trifft dies keineswegs zu. Selbstverständlich werden bei Mobilisierungen, Agenda-Settings und diskursiven Auseinandersetzungen immer auch Gefühle angesprochen. Aus diesem Grund abzustreiten, dass sie deswegen den Verstand aufgeben oder tendenziell ins Irrationale abgleiten, scheint mir jedoch eine blosse Unterstellung zu sein. Anarchist*innen versuchen auf Weisen zu handeln, mit denen sie ihre Entfremdung abbauen und eine Distanz zu Herrschaftsverhältnissen aufbauen, um an ihre Stelle ethisch wünschenswerte Beziehungen zu setzen. Wird dieser Prozess mit Menschen und nicht mit Bürger*innen gedacht, haben wir es zwangsläufig auch mit deren Gefühlen zu tun. Dies kann man als antipolitisch bezeichnen. Es lässt sich jedoch auch als Politik mit einem starken ethischen Anspruch beschreiben, wobei wiederum die technokratische Verwaltung als antipolitisch gelten müsste.

6) Antipolitische Tendenzen wären laut Schütz ideologisch, potenziell gewalttätig und nicht kompromissbereit. Auch dafür könnte er den Anarchismus als Beispiel nennen. Auch hier lässt sich der Spiess umdrehen: Neoliberale technokratische Regierungen, wie auch die Zentralisierung und Zuordnung von Politik zum Staat generell, sind keineswegs unideologisch, friedfertig oder kompromissfreudig. Wären sie es, entstünden wohl auch kaum radikale ausserparlamentarische Bewegungen, die Schütz wieder in die staatliche Politik einfangen will. Die Frage in diesem Zusammenhang lautet meiner Ansicht nach wiederum: Wie kann ein libertärer Sozialismus als autonome und selbst-bewusste soziale Bewegung aufgestellt, ausgerichtet und organisiert werden? Denn es ist durchaus nicht per se „ideologisch“, für eine andere Gesellschaftskonzeption zu kämpfen. Kompromisse sind nur dann wirklich welche, wenn sie unter verhandelbaren Bedingungen geschlossen werden. Dies betrifft auch die Bedingungen staatlicher Politik, die sinnvollerweise abgelehnt werden können, wenn sich in ihnen nicht abzeichnet, dass durch den Kompromiss wesentliche Veränderungen erzielt werden (was bspw. beim jüngsten Klimapakt nicht der Fall ist). Potenziell gewalttätig, können Menschen in sozialen Bewegungen werden, wenn sie staatliche Repression erfahren.

7) Antipolitik ist für Schütz zu einem bedeutenden Teil das Produkt der Unmündigkeit und Unselbständigkeit der Bürger*innen. In diesem Punkt kommt er anarchistischem Denken am nächsten und weist selbst darauf hin, dass mit zunehmender Verbreitung von Wissen und Fähigkeiten Regierung einem (demokratischen und wünschenswerten) Rechtfertigungsdruck unterliegt. Warum aber sollte beispielsweise das Wissen um die Dringlichkeit einer Eindämmung des Klimawandels, verbunden mit der sachlich begründeten Feststellung, dass staatliche Politik diesen nicht effektiv bearbeiten kann und will, und es deswegen selbstorganisierte, autonome Bewegungen von unten braucht, „antipolitisch“ sein? Schütz Argumentation zielt auf eine Spaltung der ausserparlamentarischen Bewegung ab: Jene Personen, deren Forderungen die staatliche Politik adressieren und die eine Zusammenarbeit mit ihr anstreben, gelten ihm als politisch. Tatsächlich ist dies die überwiegende Mehrheit der Personen in den sozialen Bewegungen der letzten Jahre. Gleichzeitig führt diese Kooperation – insbesondere dort, wo sie am deutlichsten wird: bei der Beteiligung von NGOs an Klimagipfeln – zu keinen politischen Reformen, die selbst pragmatische Reformist*innen ansatzweise als ausreichend bezeichnen können. Daher ist es naheliegend, dass selbständige und mündige Menschen sich von den Mühlen der staatlichen politischen Betriebe und Diskurse abwenden und andere Wege einschlagen.

Nach diesem langen Ritt durch Schütz' Konzeption von Antipolitik lässt sich meiner Ansicht nach klar sagen, dass sich darin das Spannungsfeld von Politik und Antipolitik deutlich abzeichnet. Seine Ablehnung von „Antipolitik“ verdeutlicht lediglich, dass unbestimmt bleibt, was „Politik“ eigentlich ist. Wenngleich diese keineswegs nach Belieben definiert werden kann, bleibt sie also stets Definitionssache. Schütz' formuliert seine Antwort darauf und ordnet Politik wieder dem Staat zu, damit sie diesem nicht entgleitet. Dies tut er mit besten humanistischen Absichten unter Ausschluss verschiedener Positionen, einschliesslich der Anarchie. Als Sozial-Liberaler will er politische Herrschaft transformieren (was teilweise Demokratisierung einschliesst, insofern sie nicht die Souveränität der Regierung in Frage stellt), um sie auf Dauer zu stellen. Ironischerweise unterliegt Schütz also letztendlich dem Staatsfetischismus, welchen er bei seinen Mitbürger*innen feststellt und kritisiert. Wie könnte es auch anders sein – die materielle, ideologische und psychologische Abhängigkeit holt auch den kritischen Politikberater wieder ein.

Anarchismus kann nach der Definition von Schütz durchaus als antipolitisch beschrieben werden. Aus einer sozial-revolutionären Perspektive wäre dies begrüssenswert, weil der Staat zu Kompromissen bei der Vereinnahmung des Politischen zu machen bereit ist. Im selben Zuge verstrickt sich Schütz allerdings in verschiedene Widersprüche. Auf den Punkt gebracht münden sie darin, dass seine Forderung nach einer Technokratisierung und Demokratisierung von Regierungspolitik erst jene Ausschlüsse erzeugt, aufgrund deren sich erst „antipolitische“ Positionen und Organisationen ausbilden und Politik radikal in Frage stellen. Wünschenswert wäre, würden sie dies konsequenter und kontinuierlicher tun. Wenn der libertäre Sozialismus gesamtgesellschaftliche Transformation von einer nach Autonomie strebenden Warte vorstellbar machen und organisieren will, steht er vor der Herausforderung, viele Menschen dazu zu bewegen, eine geteilte Vision davon zu entwickeln, wie die Gesellschaft tatsächlich grundlegend anders organisiert und Herrschaft abgebaut werden kann.

Jonathan Eibisch

Wilhelm Wolfgang Schütz: Antipolitik. Eine Auseinandersetzung über rivalisierende Gesellschaftsformen. Kiepenheuer u. Witsch, Berlin 1969.