Chibbers zentrale Kritikpunkte sind einerseits die Fortschreibung orientalistischer Klischees und idealisierter, eurozentristischer Kulturkonzepte durch Theoretiker (Chibber bezieht sich ausschliesslich auf ihre männlichen Vertreter) der Subaltern Studies. Andererseits kritisiert er die Rezeption marxistischer Theorie durch Vertreter der Subaltern Studies. Sein Urteil scheint vernichtend zu sein: Nicht nur wirft er der Forschungsrichtung eine einseitige bis falsche Rezeption und Repräsentation marxistischer Denktraditionen vor. Chibber behauptet darüber hinaus, dass ihre Kritik am „westlichen“ Marxismus in letzter Konsequenz zu einer Verdeckung kapitalistischer Verhältnisse führe.
Nichtsdestotrotz bieten die Subaltern Studies laut Chibber ein anschauliches Beispiel für eine postkoloniale Wissensproduktion, die die Leerstellen des Marxismus um die originäre Erfahrung und Geschichte des Kolonialismus erweitern möchte. Es geht ihr um die Produktion nicht-eurozentristischer Analysekategorien. Zentral ist dabei, vorkoloniale Machtverhältnisse (wie zum Beispiel das indische Kastensystem) in die Analyse zu integrieren. Obwohl Chibbers Kritik an postkolonialer Theorie allgemein formuliert ist, arbeitet er sich in seinem Buch konkret und detailreich an den, aus seiner Sicht, zentralen Figuren der historisch-diskursanalytisch arbeitenden Subaltern Studies und ihren (vermeintlich) zentralen Werken ab. Seinem Rundumschlag folgten vorhersehbar hitzige und doch in ihrem Ausmass selten vorzufindende (akademische) Kontroversen und Auseinandersetzungen. In Anbetracht einer solchen Debatte stellt sich nicht nur die Frage nach den Konsequenzen für die rein akademische Theorieproduktion, sondern auch für die Analyse von globalem Kapitalismus und der daraus folgenden (linksradikalen) politischen Praxis.
So tiefgehend sich Chibber mit den einzelnen Werken befasst, so unscharf ist gelegentlich sein Umgang mit eigenen Begrifflichkeiten und Konzepten (zum Beispiel „die Subalternen“, Kapital, Kapitalismus). Darüber hinaus ist seine Auswahl der Theoretiker und die Auswahl seiner Bezugnahmen nicht ausreichend begründet und kann durchaus kritisch betrachtet werden. Eine der grossen Stärken des Buches liegt jedoch in seinem Versuch, den historischen Materialismus und postkoloniales Denken der Subaltern Studies zusammenzubringen. So kritisiert Chibber die von ihm rezipierten Theoretiker zwar scharf für ihre Schlussfolgerungen, erkennt ihren Beitrag zu einer detailreichen Kolonialgeschichte Indiens jedoch an.
Kapitalismus jenseits von „Nord“ und „Süd“
Unter dem Schlagwort „Universalisierung des Kapitals“ begibt sich Chibber insbesondere mit Ranjit Guha (Dominance without Hegemony: History and Power in Colonial India, 1998) in ein kritisches Zwiegespräch. Guha argumentiert historisch, dass sich kapitalistische Strukturen im nördlichen und südlichen Erdteil grundlegend voneinander unterscheiden. Er misst den Grad der Verfestigung kapitalistischer Strukturen in einer Gesellschaft in erster Linie entlang von sozialen, kulturellen und politischen Praktiken beziehungsweise Veränderungen. Chibber konterkariert diesen Gedanken, indem er darauf beharrt, dass die Verbreitung kapitalistischer Logiken und Praktiken nicht die erwarteten kulturellen Transformationen nach sich ziehen müsse. Es lässt sich, so Chibbers Schlussfolgerung, nicht von vermeintlich stattgefundenen kulturellen Veränderungen auf die ökonomischen Verhältnisse schliessen.Tut man dies, zeichnet man nicht nur ein idealisiertes Bild des Kapitalismus im „Westen“, sondern naturalisiert zugleich die Beziehung zwischen (beziehungsweise Gleichzeitigkeit von) Kapitalismus und Liberalismus. Maximal plakativ gesprochen: Kapitalismus kann auch ohne Demokratie existieren. Chibber versucht sich eher an einer alternativen Geschichtsdeutung, der zufolge der Kapitalismus die Abhängigkeit vom Markt und somit eine bestimmte Strategie der ökonomischen Reproduktion universalisiert. Wohin auch immer sich das Kapital bewegt, trägt es den Antrieb der Universalisierung mit sich. Der Kapitalismus bringt keine spezifischen Formen der Machtverhältnisse hervor, sondern ko-existiert mit, nutzt und transformiert die bereits existierenden, vorgefundenen Verhältnisse, um sie dem Kapital dienlich zu machen.
Chibber formuliert hier zwar kein neues Argument, wirkt jedoch als eine Art Korrektiv an Guha und damit stellvertretend an den Subaltern Studies, indem er den bürgerlichen Charakter der europäischen Revolutionen in Hinblick auf ihr Demokratisierungspotential in Frage stellt. Die Etablierung von Nationalstaaten als Organisationseinheit des Kapitals betrachtet er als die zentrale Errungenschaft bourgeoiser Klassen. Die Schlussfolgerungen, welche sich hier ergeben, revidieren verbreitete Annahmen der Subaltern Studies fundamental. Geht man davon aus, dass die Spezifika der Erfahrung des „globalen Südens“ nicht auf dem Scheitern der Universalisierung des Kapitals beruht, sondern auf deren erfolgreicher Umsetzung, so muss die dichotom gefasste Geschichte von „West vs. Ost“ zu einer gemeinsamen Geschichte der Moderne in unterschiedlichen Ausprägungen umgeschrieben werden.
Doch kein Eurozentrismus?
Ähnlich verhält es sich mit Chibbers Argumentation in Bezug auf den Vorwurf des Eurozentrismus innerhalb „westlicher“ Theorieproduktion. Kurz gesagt: Er widerspricht der Kritik der Subaltern Studies am vermeintlich westlichen Universalismus und der scheinbaren Unmöglichkeit der differenzierten Analyse der indischen Erfahrung durch abstrakte Theorien. Chibber verdeutlicht anhand des Zusammenhangs von Mehrwert, abstrakter Arbeit und sozialer Differenz, dass mit Hilfe marxistischer Theorie auch die Spezifik kapitalistischer Verhältnisse im „globalen Süden“ erklärt werden kann.Am Beispiel der Auseinandersetzung mit den Konzepten der abstrakten Arbeit zeigt Chibber nicht nur Leerstellen in der Rezeption marxistischer Theorie durch die Subaltern Studies, sondern verweist auch auf die Notwendigkeit des Konzepts der abstrakten Arbeit für eine Analyse des Zusammenhangs von Kapitalismus und sozialer Differenz. Ebenso eignet sich das Konzept der abstrakten Arbeit dazu, die Verwobenheit und die gegenseitige Hervorbringung von Kapitalismus und Kolonialismus herauszuarbeiten. Zudem vertritt Chibber die These, dass das Kapital beziehungsweise der Kapitalist notwendigerweise Differenz produzieren muss, da die Produktion und Reproduktion sozialer Differenz Teil kapitalistischer Logik und Praxis ist. Eine Vereinheitlichung findet nicht etwa durch den universellen Drang des Kapitals, sondern durch den Kapitalisten statt, indem er sich zwecks Profitmaximierung beispielsweise rassistischer Stereotype bedient und damit rassifizierten Gruppierungen homogene Wesenseigenschaften zuschreibt.
Dementsprechend geht die Universalisierung des Kapitals nicht mit einer vermeintlichen Homogenisierung oder, wie essentialistische Theoretiker_innen der postkolonialen Denktradition proklamieren, mit dem „Verlust“ lokaler „Kultur“ einher. Die Gleichzeitigkeit der Universalisierung des Kapitals und des Hervorbringens und Vorhandenseins diversifizierter sozialer Identitäten ist in der Logik der (zumindest von Chibber rezipierten) Theoretiker der Subaltern Studies nicht denkbar. Chibber zufolge ist gerade die Herstellung von sozialer Differenz eine Voraussetzung für Profitmaximierung. Zwar gelingt es Chibber so, Rassismus als Haupt- und nicht als Nebenwiderspruch zu verhandeln. Der Umstand, dass auch Geschlechterkategorien in Abhängigkeit vom Kapital stehen und von diesem (re-)produziert werden bleibt aber auch bei ihm aussen vor.
Und nun zur Praxis
Chibbers Argumente sind nicht neu. Jedoch ist seine interventionistische Kritik durchaus produktiv für weitere Debatten in den postkolonialen Studien. Die Brauchbarkeit für eine politische Praxis ist jedoch nur bedingt vorhanden und bedarf einer intensiven Übersetzungsarbeit. Zurück bleibt vor allem die Erkenntnis, dass sich Kapitalismus und Diversität nicht ausschliessen. Insbesondere für gegenwärtige Debatten um Identitätspolitiken sind Chibbers Ausführungen zur abstrakten Arbeit und deren Diversifizierungspotential hochbrisant und spannend. Konsequenterweise sollten sie dazu auffordern, eigene politische Strukturen auch auf die Reproduktion kapitalistischer Logiken und Praktiken (etwa: Wettbewerb oder damit verbundene Anerkennung) hin zu befragen.Solche Denkmuster schlagen sich insbesondere in den vielfältigen innerlinken Konflikten um die Verhandlung und Hierarchisierung von miteinander konkurrierenden Betroffenheiten nieder. Positiv formuliert bietet eine solche Reflektion wiederum die Möglichkeit, Solidarität neu auszuhandeln, indem ein gemeinsamer politischer Umgang mit verschiedenen Lebensrealitäten in den Fokus gerückt wird. Damit bestünde die Möglichkeit einer Auflösung von Gräben und Hierarchisierungen in Hinblick auf Betroffenheiten, die in identitätspolitischen Kontexten eine politische Praxis partiell blockieren oder verunmöglichen können. Hierbei gilt es, nicht nur den Rassismus, wie Chibber es tut, als Teil des Hauptwiderspruches zu verhandeln, sondern auch andere „-ismen“, da die Frage der Solidarität auf vielfältigen Ebenen gestellt werden muss.