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Uli Schöler: „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? | Untergrund-Blättle

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Uli Schöler: „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? Reform oder Revolution?

Sachliteratur

Ein politisches Lexikon arbeitet in aller Kleinteiligkeit die sozialdemokratische Geschichte und Theorieentwicklung auf.

Kommunist Walter Ulbricht (K) redete auf einer gemeinsamen Veranstaltung von Nazis und Kommunisten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg am 22. Januar 1931; vorn links sass als Zuhörer Joseph Goebbels.
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Kommunist Walter Ulbricht (K) redete auf einer gemeinsamen Veranstaltung von Nazis und Kommunisten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg am 22. Januar 1931; vorn links sass als Zuhörer Joseph Goebbels. Foto: Unknown author (PD)

28. September 2022
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Die Wege der sozialdemokratischen und der kommunistischen Strömungen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung trennten sich nicht erst zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution in Russland. Von innerlinker Auseinandersetzung in der I. Internationale über diverse Spaltungen bis hin zur offenen Feindschaft ist die Geschichte des Verhältnisses des revolutionären Kommunismus zur reformistischen Sozialdemokratie eines, dass von der unerschütterlichen Empfindung des Verrates geprägt war und ist. Wie es wiederum die Sozialdemokratie mit der grössten erfolgreichen sozialistischen Revolution hielt, beschreibt das vorliegende Werk umfassend.

Uli Schöler hat mit dem Doppelband „‚Despotischer Sozialismus‘ oder ‚Staatssklaverei'? – Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs (1917-1929)“ ein verflechtungshistorisches Lexikon vorgelegt. Er bearbeitet dafür ein nahezu unüberschaubares Konvolut historischer Quellen. Durch den Umfang und den kleinteiligen Blick für Nuancen ist das Werk sehr wertvoll, jedoch auch ungeeignet für eine oberflächliche Lektüre.

Verläufe, Brüche und Organisationen

Die beiden Bücher schälen in einer beeindruckenden Tiefe den Verlauf, die Kontinuitäten und Brüche des Verhältnisses der deutschsprachigen Sozialdemokratie zur Sowjetunion heraus. Angefangen mit der Reaktion der Sozialdemokratie auf die Oktoberrevolution, die Phase des sogenannten Kriegskommunismus und die Debatte um die Verwaltung der Sowjetunion durch Räte oder Parlamente diskutiert Schöler die Rezeption anhand von Positionspapieren, Schriften, Parlamentsreden und Zeitungsartikeln.

Auch die Fragen der II. und III. Internationale, der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) und die Probleme der Faschismustheorie beschreibt Schöler ausführlich. Diese Fragen, die jede für sich genommen eine spezifische Spaltungslinie in der organisierten Arbeiter*innenbewegung in Deutschland begründeten, diskutiert er anhand ihrer Rezeption durch die deutsche Sozialdemokratie. Den sozialdemokratischen Umgang mit dem aufkommenden Faschismus verortet Schöler nicht nur in der Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus, der einigen Flügeln der deutschen Sozialdemokratie durchaus vorzuwerfen wäre. Neben diesem Zugang stellt er auch die Ambivalenz des menschewistischen Lagers und den Zugang der linken Sozialdemokratie zur Einheitsfrontstrategie heraus. Dabei ist besonders sein Umgang mit Fragen hinsichtlich der organisatorischen Mehrdimensionalität und ihrer Brüche, die durch die mehrfachen Spaltungen der SPD und wiederum ihrer Spaltprodukte entstanden sind, beachtlich. Der Autor löst die dadurch entstehenden Spannungsfelder auf, indem er seine Analyse unendlich weit auffächert, also zu fast jeder Frage der SPD, bald der MSPD und USPD, zwischendurch der SDAP und zeitweise auch der Spartakusgruppe einzelne Kapitel widmet. Dabei entsteht kein Eindruck von Eklektizismus, sondern ein differenziertes Bild der deutschsprachigen sozialdemokratischen Organisationslandschaft und ihrer Kontroversen im entsprechenden Zeitraum.

Verflechtungs- und Ideengeschichte der Arbeiter*innenbewegung

Das Werk stellt die Frage nach der Verarbeitung der sowjetischen Entwicklung in der deutschen Sozialdemokratie, womit die SPD und jene ihrer Spaltprodukte gemeint sind, die zumindest dem Namen nach weiterhin auf dem Boden der Sozialdemokratie stehen. Meint konkret: Die Verarbeitungsgeschichte der KPD findet ab der tatsächlichen Parteigründung höchstens am Rande Erwähnung.

Und darin liegt eine der grossen Schwächen des Werkes: Gerade für die Weimarer Zeit ist die Geschichte der SPD weder von ihren eigenen konkreten Herrschaftsinteressen noch von der konkreten Politik der KPD zu trennen. So lässt sich das Verhältnis der SPD zur Sowjetunion nicht von ihrer eigenen staatlichen Geopolitik und ihrem innenpolitischen Konkurrenzverhältnis zur KPD abspalten, die ihrerseits als Komintern-Sektion mit der Sowjetunion assoziiert war. Diese Interdependenzen erfordern einen differenzierteren Blick auf das Zusammenspiel der beiden grössten Akteurinnen innerhalb der deutschen Arbeiter*innnenbewegung, ein Blick auf eine Seite alleine bleibt notwendigerweise unterkomplex. Die beiden Parteien verfügten grade in diesem Zeitraum über eine enge Verknüpfung, die vor allem durch Misstrauen, Konkurrenz und offene Feindschaft geprägt war. Die Geschichte dieser Beziehung definierte die Realpolitik beider Parteien in einem Ausmass, das sich kaum überschätzen lässt. Grade in Bezug auf die Bewertung der Sowjetunion hat die Stellung der SPD zur KPD eine absolut entscheidende Bedeutung, die in Schölers Werk bestenfalls unterrepräsentiert ist. Die von der SPD angestrebte Westintegration nach dem Versailler Vertrag machte die Sowjetunion aussenpolitisch uninteressant, was zu einer zunehmenden Distanzierung bis hin zur geopolitischen Isolierung der Sowjetunion seitens der deutschen Sozialdemokratie führte.

Auch die eigenen machtpolitischen Erwägungen der SPD im entsprechenden Zeitraum gehen im Werk immer wieder unter. Diverse Regierungsbeteiligungen, in denen die Fragen der aussenpolitischen Beziehungen zur Sowjetunion und der innenpolitischen Beziehung zur KPD stets diskutiert wurden, sind entscheidende Faktoren für die Bewertung. Die Doppelrolle der SPD als Bewegungs- und Staatspartei verbietet einen rein ideengeschichtlichen Zugang zu ihrer Politikgeschichte. Eine materialistische Perspektive auf die Geschichte müsste sich die historischen Konstellationen genauer ansehen.

Insgesamt hat das Werk einen ideengeschichtlichen Zugang, der mit den machtpolitischen Erwägungen und Hintergründen politischer Entscheidungen innerhalb der Sozialdemokratie nicht immer Schritt halten kann. So ist beispielsweise die politische Kalkulation hinter der abwartenden antifaschistischen Strategie der SPD, die sich vor allem durch Zurückhaltung und Beschwichtigung auszeichnete, nicht in erster Linie eine Frage politischer Theorie gewesen, sondern eine strategische der eigenen Stärke und der klassenmässigen Verankerung des Faschismus wie auch der eigenen Partei.

Schölers Werk ist trotz seiner Schwächen ein exzellentes Lexikon der Rezeptionsgeschichte, in dem sich zu blättern allemal lohnt. Dabei bleibt die Frage zu klären, ob es nicht ohnehin als ideengeschichtlicher Beitrag zu verstehen ist, der weniger dem Anspruch auf allgemeingültige Erklärung gerecht werden muss, als sich einer Facette zu widmen. Auch wenn zu erwarten ist, dass das 983 Seiten umfassende Werk allein ob seines Umfanges keine Massenware zu werden droht: Die Beschäftigung mit diesem Kapitel der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung im Allgemeinen ist ohnehin unerlässlich und im Speziellen anhand des vorliegenden Werkes mindestens zu empfehlen.

Christoph Zeevaert
kritisch-lesen.de

Uli Schöler: „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs (1917–1929). 2. Auflage. Dietz Berlin 2021. 983 Seiten, ca. SFr 55.00. ISBN 978-3-320-02385-0

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.

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