Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik Die Gegenwart der Lager

Sachliteratur

Tobias Pieper hat eine materialreiche Studie zu den Lebensbedingungen in deutschen Flüchtlingslagern vorgelegt. Darin thematisiert er die Rolle des Lagersystems bei der Entstehung von Rassismus.

Tor zum Lager Oerbke und Bad Fallingbostel auf dem ehemaligen Camp der British Army in Niedersachsen. Seit September 2015 werden hier Asylanten aufgenommen bis zur nachfolgenden Weiterverteilung.
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Tor zum Lager Oerbke und Bad Fallingbostel auf dem ehemaligen Camp der British Army in Niedersachsen. Seit September 2015 werden hier Asylanten aufgenommen bis zur nachfolgenden Weiterverteilung. Foto: Oxfordian Kissuth (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

12. Januar 2016
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In den Medien ist momentan die sogenannte „Flüchtlingskrise“ allgegenwärtig. Ständig wird vor einer Überforderung der deutschen Flüchtlingspolitik gewarnt. Aufgrund des Mangels an Einrichtungen zur Unterbringung werden viele Flüchtlinge erst einmal in Massennotunterkünften untergebracht. Zudem werden Aufnahmelager für bestimmte Flüchtlingsgruppen, wie Sinti und Roma geschaffen. Dies ist Grund genug sich mit der Frage der Unterbringung von Flüchtlingen zu beschäftigen. Der Staat versucht Migration nicht allein durch die Öffnung und Schliessung von Grenzen, sondern auch die Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Lagern zu regulieren. Denn diese werden von Innenpolitikern oftmals als Anreiz für Migration nach Deutschland beziehungsweise komplementär als abschreckendes Moment gegenüber Flüchtlingen ins Spiel gebracht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Entstehung des heutigen Lagersystems zu verstehen, das nicht immer in dieser Form existierte.

Tobias Pieper widmet sich diesen Fragen in seiner 2013 in der zweiten Auflage erschienenen Dissertation „Die Gegenwart der Lager“. In dieser stellt er empirisches Material einer Studie zu mehreren Lagern in Berlin, Brandenburg und Niedersachsen vor, in denen er die Bewohner_innen der Lager zu Wort kommen lässt. Gerade diese Perspektive wird in den Massenmedien meistens ausgeblendet. Weiterhin stellt er die symbolischen Aspekte der dort wirkenden Machtformen dar. Pieper verweist in diesem Zusammenhang auf die Entstehung des rassistischen Stigmas des „armen Flüchtlings“ durch die Zuteilung von Altkleidern an die Lagerbewohner_innen. Diese werden somit als Bezieher_innen staatlicher Sozialleistungen identifiziert. Dies ermöglicht den Zusammenhang zwischen der Lagerunterbringung sowie Alltagsrassismus zu analytisch zu fassen.

Die Arbeit Tobias Piepers ist besonders interessant, weil sie die Flüchtlingsunterbringung, ein auch in der kritischen Debatte oftmals ausgespartes Thema, behandelt. Die Mehrzahl der Publikationen behandeln hauptsächlich Fragen der Aussengrenzen und des damit zusammenhängenden Themas der Migrationskontrolle durch zum Beispiel die EU-Agentur Frontex. Dabei werden die Regulierung von Migration durch den Staat und die damit oftmals einhergehende Selektion von bestimmten Migrantengruppen behandelt. Jedoch ist es auch sehr wichtig, sich die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Deutschland zu vergegenwärtigen, denn laut Statistischem Bundesamt lebten im Jahr 2014 allein 192. 965 Asylbewerber_innen in Lagern.

Zu Anfang skizziert der Autor die Entwicklung der Migrationspolitik in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuerst geht er auf Anwerbeabkommen von Gastarbeiter_innen ab den 1950er Jahren ein. Migration nach Deutschland fand damals meistens über den Status des Gastarbeiters beziehungsweise als Familienmitglied dessen statt. Asyl und Asylpolitik gewannen erst später an Bedeutung, als ab den 1970er Jahren die Anzahl der Asylsuchenden stieg. Vorher beantragten hauptsächlich Flüchtlinge aus Osteuropa Asyl, welches ihnen unter den ideologischen Vorzeichen des Kalten Krieges generell auch gewährt wurde. Viele Flüchtlinge, die vorher als Gastarbeiter_in eingereisten, wählten nach der Aussetzung der Anwerbeabkommen das Asylverfahren als neue Einreisemöglichkeit.

Der damit aufkommende, mediale Diskurs des „Asylmissbrauchs“ führte zu verschiedenen Gesetzen, mit denen die Regierungen um Helmut Schmidt und Helmut Kohl die Lebensbedingungen für Asylbewerber_innen verschlechterten. Dabei wurden das Sachleistungsprinzip, die Lagerunterbringung sowie die Residenzpflicht eingeführt. Die Anti-Asylkampagne hatte dann ihren „Erfolg“ mit der Einführung der Drittstaatenregelung im Jahr 1993. Gemäss diesem Prinzip dürfen Flüchtlinge seither nur einen Asylantrag in Deutschland stellen, wenn sie nicht über ein anderes EU-Land oder einen sicheren Drittstaat eingereist sind, in dem sie bereits einen Asylantrag hätten stellen können.

Die Zustände in den Lagern

Der empirische Teil des Buches basiert auf einem Vergleich von Lagern in Berlin, Brandenburg und Niedersachsen. Der Autor rekonstruiert dabei allgemeine Lagerbedingungen, wie die Enge der Unterkunft, Passivität der Bewohner_innen im Alltag und die Menschenleere der Lager. Diese Merkmale sind allen Lagern gemein. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich andere Aspekte der Lebensbedingungen in den Lagern, je nach geografischer Region, sehr deutlich. Die Bewohner_innen in Berliner Lagern können Kontakte zu Migrant_innen in Berlin aufbauen und auf diese Weise Unterstützung mobilisieren, was in Brandenburg aufgrund der räumlichen Isolation der Lager im Wald dagegen nur schwer möglich ist. Ein weiterer Unterschied liegt auch in der politischen Haltung des Personals der Unterkünfte.

Solidarische Mitarbeiter_innen können zum Beispiel Flüchtlinge bei Schriftwechseln mit der Sozial- und Ausländerbehörde unterstützen und dadurch zu sonst oftmals nicht gewährten Sozialleistungen verhelfen. Jedoch können sich diese Handlungsspielräume angesichts der fehlenden rechtlichen Kontrolle auch gegen die Bewohner_innen richten. Pieper beschreibt den Fall eines gewalttätigen Übergriffs auf einen Flüchtling durch einen Hausmeister im Lager Bramsche. Dieser Übergriff wurde nicht geahndet, da das Lagerpersonal eine Anzeige der Straftat verhinderte. Der Autor lotet in dieser Hinsicht die Handlungsmöglichkeiten der Mitarbeiter_innen aus und verweist auf sehr wohl existierende Handlungsspielräume. Diese sind allerdings stark begrenzt durch Vorgaben des Asylrechts. Neben den Handlungsmöglichkeiten der Mitarbeiter_innen geht Pieper auch auf die Bedeutung sozialer Kämpfe ein. Er zeigt, dass diese oftmals doch einen Einfluss auf die Lebensbedingungen in den Lagern haben. Hierbei ist auf die Abschaffung des Sachleistungsprinzips nach Protesten in Berlin 2007 sowie 2003 in Brandenburg zu verweisen.

Eine ausführliche Darstellung wird weiterhin dem Lager Bramsche in Niedersachsen gewidmet. Auf dem Gelände dieses Lagers sind alle Einrichtungen zu finden, die mit der Regulierung von Asyl beschäftigt sind und mit denen Asylbewerber_innen Kontakt haben, wie die Polizeibehörde, das Sozialamt und die Ausländerbehörde. Das Ziel ist es, die Bewohner_innen noch stärker von der Umwelt zu isolieren als in anderen Lagern. Alle Einrichtungen sind funktional darauf abgerichtet, die „freiwillige Ausreise“ zu fördern. Dazu können Geldleistungen, Qualifizierungsmassnahmen und Arbeitsmöglichkeiten als Belohnungen für die Kooperation bei der eigenen Ausreise vergeben werden.

Im Gegenzug werden diese Möglichkeiten bei Nicht-Kooperation entzogen und die Flüchtlinge einer verstärkten Repression ausgesetzt. Oftmals besitzen Flüchtlinge keine Ausweispapiere mehr und können deshalb nicht abgeschoben werden. Folglich ist ihre Kooperation notwendig, damit die Botschaft des entsprechenden Landes neue Ausweispapiere zur Abschiebung oder „freiwilligen Ausreise“ ausstellen kann. Durch die räumliche und institutionelle Reorganisation der beteiligten Behörden werden die Kontrollmöglichkeiten verstärkt und eventuelle Parteinahmen von Mitarbeiter_innen für die Bewohner_innen von vornherein ausgeschlossen. Diese Form des Lagers funktioniert als Experimentierfeld für zukünftige Formen für Flüchtlingspolitik und wird aus diesem Grund vom Autor als wegweisend angesehen.

Macht- und Kontrolltechniken

Im Theorieteil behandelt Tobias Pieper die Funktionsweise der sozialen Kontrolle der Bewohner_innen. Dabei will er klären, wie Widerstand verhindert wird und die Personen in das Lagersystem eingegliedert werden. Der Autor folgt dabei den Überlegungen von Michel Foucault zu Disziplinartechniken, wie sie in „Überwachen und Strafen“ dargestellt wurden. Diese zielen unter anderem darauf Personen in bestimmten Räumen, wie Gefängnissen, Schulen, Fabriken festzuhalten beziehungsweise räumlich anzuordnen, und sie auf diese Weise zu kontrollieren. Weiterhin sollen sie durch Einwirkungen auf die Körper die (ökonomische) Produktivität der disziplinierten Personen erhöhen.

Pieper stellt fest, dass im Fall der Flüchtlingsunterbringung allein der erste Aspekt relevant ist. Durch die Parzellierung des Raums werden Flüchtlinge auf Lager im ganzen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verteilt, um unkontrollierbare Menschenansammlungen zu verhindern. Die Residenzpflicht wiederum verhindert die Vereinigung der im Raum verteilten Individuen. Jedoch ist das Ziel der Produktivitätssteigerung in den Flüchtlingslagern nicht relevant, da Eingliederung in die Lohnarbeit in der Regel nicht vorgesehen ist. Weiterhin wird in den Lagern die Zeitgestaltung der dortigen Personen reguliert. Zum einen durch ein staatlich verordnetes Nichtstun aufgrund des Arbeitsverbot, zum anderen durch Behördentermine, wie die monatliche Unterschrift der Leistungsbezugsscheine.

Die Lagerinstitutionen wirken aber nicht nur alleine durch die Kontrollmechanismen auf die Bewohner_innen, sondern auch in die Bevölkerung ausserhalb der Lager. Zum Beispiel lassen die schlechten baulichen und hygienischen Zustände in den Lagern Bilder „der Armutsmigranten“ entstehen, die den ohnehin schon existierenden Rassismus der Bevölkerung verstärken. Daneben ist auch der Aspekt des institutionellen Rassismus zu betrachten. Diese Form des Rassismus geht nicht von den Alltagshandlungen von Personen aus, sondern von staatlichen Institutionen. Deren rechtlich formale neutrale Wirkungsweise verschleiert die Tatsache der gezielten rassistischen Ausgrenzung.

Aktualität und Bedeutung des Buches

Die vom Autor beschriebene Tendenz zur Schaffung von multifunktionellen Lagern ist auch heute weiterhin aktuell, wenn auch in etwas veränderter Form als zum Zeitpunkt der ursprünglichen Publikation des Buches. Das Land Bayern hat im September 2015 entsprechende Lager in Manching und Bamberg für Flüchtlinge aus dem Balkan geschaffen. Die Asylanträge der Flüchtlinge sollen gleich dort bearbeitet werden und die entsprechenden Personen erst gar nicht auf die Gemeinschaftsunterkünfte verteilt werden. Stattdessen sollen sie in einem geschlossenen Lagerkreislauf verbleiben. In diesem Zusammenhang ist eine Differenzierung nach verschiedenen Flüchtlingsgruppen zu erkennen.

Auf der einen Seite als legitim angesehene Asylsuchende auf der Flucht vor Verfolgung und auf der anderen Seite „Armutsflüchtlinge“, die vor dem materiellen Elend ihres Heimatlandes fliehen. Erstere werden von den Erstaufnahmestellen auf die Gemeinschaftsunterkünfte verteilt, wogegen letztere Gruppe in den speziellen Aufnahmelagern verbleibt. Diese Kategorien fallen im öffentlichen Diskurs oft mit den Gruppen der syrischen Flüchtlinge, die als Opfer des Bürgerkriegs anerkannt werden und Flüchtlingen aus dem Balkan, denen pauschal jeder legitime Fluchtgrund abgesprochen wird, zusammen. Weiterhin gibt es in der Frage der Lebensbedingungen einige positive Entwicklungen. Die Residenzpflicht wurde auf die ersten drei Monate des Aufenthaltes eingeschränkt und eine Arbeitsaufnahme ist leichter möglich. Die positive Änderung in Richtung einer Auszahlung von Geldleistungen wurde mit dem Asylpaket, das im Oktober 2015 von der Grossen Koalition beschlossen wurde, jedoch teilweise wieder zurückgenommen.

In der Studie ist insgesamt sehr viel Material zu den Lebensbedingungen in den Lagern zusammengetragen, das sehr gut die Funktionsmechanismen des deutschen Asyllagersystems darstellt. Der theoretische Ansatz ermöglicht die Entstehung rassistischer Weltbilder und Situationsdeutungen nachzuvollziehen und damit nicht nur bei einer moralisch begründeten (aber berechtigten!) Ablehnung von Rassismus stehen zu bleiben. Für den Autor nehmen die Lager eine zentrale Rolle in der Umsetzung rassistischer Diskurse in Alltagsrassismus ein. Weiterhin ist das Buch in seiner Auslotung von Handlungsmöglichkeiten politisch relevant. Es werden die Erfolge antirassistischer Mobilisierung, wie die Abschaffung des Sachleistungsprinzips in Brandenburg und Berlin aufgezeigt und auch die Machttechniken, die diesen entgegenstehen. Hierbei spielt die Verteilung von Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland und die durch die Residenzpflicht verursachte Isolierung der Bewohner_innen einzelner Lager eine wichtige Rolle. Letzterer Aspekt dürfte allerdings mit der Einschränkung der Residenzpflicht wiederum an Gewicht verlieren.

Ebenso werden in der empirisch gesättigten Beschreibung Widersprüche innerhalb des Lagersystems deutlich, die Handlungsspielräume für die Bewohner_innen ermöglichen können. Die Verknüpfung zwischen dem theoretischen Ansatz und dem empirischen Material erweist sich jedoch teilweise als problematisch. Manchmal scheinen einzelne Unterkapitel im Theorieteil eher für sich zu stehen und keinen Bezug zum empirischen Material zu haben. Generell wäre in manchen Kapiteln eine Kürzung angebracht gewesen, um den Lesefluss zu fördern und Wiederholungen zu vermeiden. Trotz dieser kleineren Kritikpunkte stellt das Buch eine lesenswerte Lektüre für Leute dar, die sich mit der Flüchtlingsunterbringung beschäftigen. Insgesamt ist das Buch recht zugänglich geschrieben, auch wenn die 360 Seiten etwas Ausdauer bei der Lektüre verlangen.

Mathias Halbauer
kritisch-lesen.de

Tobias Pieper: Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Westfälisches Dampfboot, Münster 2008. 425 Seiten, ca. 39.00 SFr. ISBN 978-3-89691-741-6

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