Thomas Wagner: Fahnenflucht in die Freiheit Geschichten vom Streben nach Autonomie

Sachliteratur

Mit seinem neuen Buch „Fahnenflucht in die Freiheit“ gelingt Thomas Wagner ein grosser Wurf: Er fasst zahlreiche Geschichten vom Streben nach Autonomie zusammen, welche in der gesellschaftlichen Linken verstreut sind, und erzählt sie auf prägnante Weise neu.

Der Kultursoziologe Thomas Wagner bei einer Diskussionsrunde auf dem Erlanger Poetenfest 2017.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Der Kultursoziologe Thomas Wagner bei einer Diskussionsrunde auf dem Erlanger Poetenfest 2017. Foto: Don Manfredo (CC-BY-SA 4.0 cropped)

1. Mai 2023
0
0
4 min.
Drucken
Korrektur
Diese durch viele Fussnoten belegte, umfassende „Globalgeschichte“ ist dabei am Puls der Zeit. Ihre Entfaltung wäre nicht möglich, ohne David Wengrows und David Graebers bahnbrechendes Werk „Anfänge“, James C. Scotts „Die Mühlen der Zivilisation“ (1) und den Erkenntnissen der anarchistischen Anthropologie, wie sie Pierre Clastres, Christian Sigrist und – an ihn anschliessend – Rüdiger Haude und Thomas Wagner (2), Hermann Amborn (3) und andere etabliert haben.

Doch geht das Buch über dieses Gebiet hinaus und weist wichtige Implikationen für die politische Theorie auf. So gehöre der Staat, „zu den Dingen, die wir in der Regel vorfinden, wenn wir auf die Welt kommen, und seine Existenzberechtigung wird daher zumeist nicht infrage gestellt. Wer seines Lebens sicher sein und dauerhaft in geordneten und einigermassen komfortablen Verhältnissen leben will, so lässt sich immer wieder vernehmen, ist auf jemanden angewiesen, der die Fähigkeiten zusammenhält, der in letzter Instanz entscheidet und buchstäblich ‚weiss, wohin die Reise geht'. Die in der Regel kaum hinterfragte Vorstellung von der Notwendigkeit einer sich im Zweifel mit harter Hand durchsetzenden Regierung entspricht nicht zuletzt dem, was in den Klassikern der politischen Philosophie zu lesen ist“ (S. 15f.).

Im Sinne seiner Infragestellung durch Flucht vor dem Zugriff des Staates, seiner Gängelei, Gewalt und Befehlen, gibt der Autor die Geschichte des Exodus der Israeliten wieder, betrachtet die Staatsferne des Daoismus, Mythos und Wirklichkeit der Amazonen sowie die Entstehung der frühen Staaten und die „barbarischen“ Alternativen, welche ihnen gegenüberstanden. Wagner erzählt von der Irritation durch die Freiheit der Indigenen, von den Gemeinschaften entflohener Sklav*innen (den „Maroons“), von Piraten, Banditen, „Zigeunern“ und Vagabunden.

Damit erhält das Essay den Charakter einer Collage, in welcher keine neuen Erkenntnisse generiert, sondern diese kohärent zusammengefasst und zugespitzt werden. So ist die „Absicht hinter den nun folgenden Skizzen (…) nicht mehr und nicht weniger, als diesen Gedanken eines Einflusses historischer Fluchtbewegungen auf die Entfaltung demokratischer Ideen plausibel zu machen“ (S. 29) und von einer „demokratischen Zivilisierung des Staates“ auszugehen – eine theoretische Figur, wie sie freilich wiederum bereits Graeber in „Einen Westen hat es nie gegeben“ (4) skizzierte.

Zweifellos sind egalitäre Gemeinwesen durch die Geschichte hindurch und an verschiedensten Orten überall vorhandenen. Ob deren Praktiken und Organisationsformen sinnvollerweise als „demokratisch“ bezeichnet werden können und diese als „Demokratie gegen den Staat“ zu begreifen sind (wie sie der französische politische Theoretiker Miguel Abensour (5) nennt), ist dabei eine Debatte, die noch ausgiebig geführt werden sollte.

Wagner stellt sich in die Tradition anarchistischer Geschichtsphilosophie, wie sie etwa Pjotr Kropotkin formulierte. Der Anarchokommunist Kropotkin stellte fest, dass sich durch die gesamte Geschichte unserer Kultur zwei Traditionen ziehen, „zwei entgegengesetzte Strömungen: die römische Tradition und die volkstümliche, die kaiserliche Tradition und die eidgenössische, die autoritäre Tradition und die freiheitliche. Und heute, am Vorabend der sozialen Revolution, treffen diese zwei Traditionen von neuem aufeinander“(6). Dies kann man zwar, wie der konservative Philosoph Dieter Thomä, als Schwarz-Weiss-Malerei verspotten (7), offenbart damit aber zugleich ungewollt die eigenen Absurdität staatstragender Mythenbildung.

Einen Fehltritt leistet sich der Autor leider, als er im Kapitel über Banditen, 29 Mal aus Eric Hobsbawms Buch von 1972 zu diesem Thema zitiert und dieses damit also lediglich referiert (S. 160-168). Denn Hobsbawms Sichtweise ist eurozentrisch und teleologisch, womit das Banditentum konsequent in die Rolle vormoderner „Sozialrebellen“ verbannt wird. Damit erzeugte dieser willentlich den leider prägenden Eindruck, dass der Anarchismus eine „anti-moderne“, also anachronistische, Ideologie wäre, welche die Bedingungen der Zeit nicht erkennen würde. Da Wagner den Anspruch gerade verfolgt, gegen diese Herangehensweise anzuschreiben, wäre es angemessen, er hätte sich mit aktuellerer Literatur zu diesem Thema befasst.

Wer sich in der Materie etwas auskennt, kann sich vor allem über eine informierte Rekapitulation grösstenteils bekannten Wissens freuen, welche allerdings durch neueste Einsichten aus der postkolonialen Theorie noch einmal anders gerahmt wurden und daher lesenswert sind. Lesenden, welche gerade erst in das Themenfeld einsteigen, wird hingegen viel Neues begegnen, dem sie mit dem leicht zugänglichen Erzählstil gut folgen können.

Jonathan Eibisch
Graswurzelrevolution Nr. 478 (Libertäre Buchseiten) vom April 2023

Thomas Wagner: Fahnenflucht in die Freiheit. Matthes & Seitz 2022. 271 Seiten. ca SFr. 42.00 ISBN: 978-3-7518-0376-2.


Fussnoten:

1) Scott, James C., The Art of Not Being Governed An Anarchist History of Upland Southeast Asia, New Haven/London 2009. Scott, James C., Die Mühlen der Zivilisation – Eine Tiefengeschichte der frühen Staaten, Berlin 2019.

2) Haude, Rüdiger / Wagner, Thomas, Herrschaftsfreie Institutionen. Texte zur Stabilisierung staatsloser egalitärer Gesellschaften, überarbeitete Neuauflage, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019.

3) Amborn, Hermann, Das Recht als Hort der Anarchie. Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat, Berlin 2016.

4) Graeber, David, Einen Westen hat es nie gegeben & Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, Münster 2022.

5) Abensour, Miguel, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellistische Moment, Berlin 2012.

6) Kropotkin, Peter, Die historische Rolle des Staates (1896), (Ders.), Der Staat und seine historische Rolle, Münster 2008, S. 68.

7) https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/thomas-wagners-fahnenflucht-in-die-freiheit-18463549.html