Tanjev Schultz (Hrsg.): «Nationalsozialistischer Untergrund» Der Terror geht weiter

Sachliteratur

Der NSU war nicht nur nicht zu dritt, er ist nicht einmal Geschichte. Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung der Naziterrorgruppe zieht ein Sammelband ein bitteres Fazit.

Jugendzentrum Hugo in Jena. Die Einrichtung wurde von den späteren NSU-Terroristen Beate Zschäpe und Uwe Mundlos regelmässig besucht.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Jugendzentrum Hugo in Jena. Die Einrichtung wurde von den späteren NSU-Terroristen Beate Zschäpe und Uwe Mundlos regelmässig besucht. Foto: Reise Reise (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

19. November 2021
2
0
4 min.
Drucken
Korrektur
„Der Terror des ‚Nationalsozialistischen Untergrunds' (NSU) ist weder vollständig juristisch aufgeklärt noch umfassend gesellschaftlich aufgearbeitet.“ Dieses Resümee zieht Tanjev Schultz zu Beginn seines Beitrags in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „‚Nationalsozialistischer Untergrund' Zehn Jahre danach und kein Schlussstrich“.

Das Buch erschien anlässlich des zehnten Jahrestags der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 und versucht in einer Reihe von Aufsätzen, den NSU und seine mangelhafte Aufarbeitung aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei kommt eine Gerichtsreporterin ebenso zu Wort wie eine Bundestagsabgeordnete, ein Jurist und ein Politikwissenschaftler. Schultz selbst liefert neben zwei Aufsätzen lesenswerte Interviews mit einem Hinterbliebenen und zwei Rechtsbeiständen von Opfern des NSU.

Vielfalt der Perspektiven

Diese Vielfalt der Perspektiven macht eine Stärke dieses Buches aus. Abdul Kerim Simsek, dessen Vater vom NSU ermordet wurde, verdeutlicht im Interview, dass der Terror nachwirkt: „Ich mache mir Gedanken als Vater und als jemand, der bereits einen Angehörigen durch einen rassistischen Anschlag verloren hat. Ich glaube, ich werde, wenn das so weiter geht, nie dazugehören.“ (S. 26). Wie wenig das Leid der Angehörigen der Opfer auch im NSU-Prozess eine Rolle spielt, zeigt auch die Gerichtsreporterin Wiebke Ramm mit ihrer kritischen Einordnung der Prozessführung des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl im NSU-Prozess von 2013–18 in München.

Anhand von Beispielen stellt sie heraus, dass Richter in anderen Prozessen die Hinterbliebenen von Mordopfern etwa in Urteilsbegründungen eingebunden haben. Am Ende des NSU-Prozesses dagegen, schreibt Ramm, „fühlten sich die Opfer des NSU und ihre Familien ein weiteres Mal im Stich gelassen“ (S. 27). Der ehemalige Politiker Clemens Binninger (CDU) schlüsselt anhand des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter auf, wie viele Fragen rund um die Taten noch ungeklärt sind. Man kann bei der Lektüre dieser wie auch weiterer Texte nur zu dem Schluss kommen, dass der Wille zur Aufklärung sehr begrenzt war und nach wie vor ist.

Streitthema Verfassungsschutz

Eine Stärke des Bandes liegt darin, dass er Streitthemen nicht ausweicht, sondern Platz für Diskussion bietet. Ein Beispiel ist der Verfassungsschutz. Die tiefe Verstrickung dieser Behörde in die Anschlagsserie des NSU wirft die Frage nach ihrer Zukunft auf.

Die Bundestagsabgeordnete der LINKEN Martina Renner und ihr Mitarbeiter Sebastian Wehrhahn fordern: „Der Verfassungsschutz arbeitet aktiv gegen die Demokratisierung der Gesellschaft und muss deshalb aufgelöst werden.“ (S. 84) Stephan J. Kramer, Präsident des reformierten Thüringer Verfassungsschutzes, dagegen verteidigt seine Behörde im Interview mit Schultz. Das V-Leute-System, das besonders viel Kritik erntete, sei ein „nicht wegzudenkendes Instrument“ (S. 89). Eine Zwischenposition nimmt der Politologe Thomas Grumke ein. Er meint, „eine ‚abgeschottete' Verfassungsschutz-Mentalität […], wie sie die Polizei zweifellos pflegt“ (S. 101), bestehe nicht.

Folglich schlägt er statt der Auflösung des Amtes eine Reihe von Reformen vor. Leider läuft die Diskussion über eine Reform des Verfassungsschutzes darauf hinaus, einer Institution neue Legitimität zu verleihen, die von Grund auf in Frage gestellt gehört. Insofern schwächt Schultz hier durch die Gewichtung der Beiträge seine Absicht, keinen Schlussstrich zuzulassen, zumindest teilweise.

Rassismus und der Staat

Zu den Schwächen des Buches zählt, dass Rassismus lediglich als Rechtfertigungs-Ideologie für rechten Terror auftritt. Rassismus ist jedoch mehr als das. Er ist ein Unterdrückungsverhältnis, das mit einem Machtgefälle einhergeht. Der Staat stellt dieses Verhältnis erst her. Der Terror von Nazis hat eine eigene Qualität, aber er radikalisiert, was im kapitalistischen Staat schon angelegt ist. Die Betrachtung dieser Wechselwirkung zwischen Macht und Rassismus kommt hier zu kurz.

Eine ähnliche Leerstelle zeigt sich bei der Rolle der Medien. Der Ex-SZ-Redakteur und heutige Hochschullehrer Tanjev Schultz beschreibt in einem Aufsatz, dass deutsche Redaktionen die Einwanderungsgesellschaft kaum reflektieren. Er plädiert für Massnahmen, die Formulierungen wie „Döner-Morde“ verhindern sollen.

Das ist sicher gut gemeint, aber was fehlt, ist eine grundsätzliche Kritik daran, dass die meisten Medien Unternehmen gehören. Sie werden wie Profit-Center behandelt, und die Redaktionen werden personell ausgedünnt, um die Profite zu steigern. Unter solchen Arbeitsbedingungen entfaltet sich kritisches Denken nur schwer. Dass einige der sowieso schon wenigen Investigativjournalist:innen sich als „vierte Gewalt“ mit dem Staat identifizieren, ist ein weiteres Hindernis für radikal kritische Berichterstattung.

Und trotz dieser Schwächen ist das Buch lesenswert. Es macht unmissverständlich klar, dass es keinen Schlussstrich unter dem NSU geben darf, da der Naziterror leider nicht vorüber ist.

Wulf Loh
kritisch-lesen.de

Tanjev Schultz (Hrsg.): "Nationalsozialistischer Untergrund". Zehn Jahre danach und kein Schlussstrich. W. Kohlhammer, Stuttgart 2021. 158 Seiten, ca. SFr 23.00. ISBN 978-3-17-039620-3

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.