Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast (Hg.): Die Türkei am Scheideweg Disziplin, Kreativität, Solidarität

Sachliteratur

Der Sammelband vereint Artikel und Gefängnisbriefe des Journalisten Max Zirngast.

Gefängnis in Istanbul.
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Gefängnis in Istanbul. Foto: CeeGee (CC BY-SA 4.0 cropped)

3. März 2020
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Ein Mensch im Gefängnis – ein Körper hinter Mauern, dessen Möglichkeiten, sich zu seiner Umwelt und zu seinen Mitmenschen zu verhalten, auf einmal radikal eingeschränkt sind. In verschiedensten Gesellschaftsformen stecken Menschen andere Menschen ins Gefängnis, um ihre Handlungen „draussen“ zu unterbinden – und in der Zeit „drinnen“ ihren Geist zu verändern. Das Gefängnis als eine Art Urszene des kritischen Engagements und der Opposition ist in Europa heute allerdings oftmals in räumliche, historische oder literarische Ferne gerückt: Ich würde doch nicht im Gefängnis landen! Das Buch „Die Türkei am Scheideweg“ holt diese Szene wieder ein wenig näher heran.

Max Zirngast ist im Gefängnis gelandet – 2018 in der Türkei, für über drei Monate. Er ist ein junger österreichischer Journalist, Politikwissenschaftler und Aktivist und hatte seit 2015 in Ankara gelebt. Für verschiedene Medien, allem voran für Jacobin und das re:volt magazine, schrieb er über die Entwicklungen dort und anderswo. Inhaftiert wurde er – wie so viele andere – mit dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“. In Wahrheit ging es – wie bei so vielen anderen – darum, oppositionelles Engagement zu unterbinden. Im Herbst 2019 wurden Max Zirngast und die mit ihm angeklagten Hatice Göz und Mithatcan Türetken freigesprochen. Fast zeitgleich gab die #FreeMaxZirngast-Solidaritätskampagne ein Buch mit seinen Texten heraus.

Mit heisser Feder geschrieben

Das Buch weiss vom Freispruch noch nichts und nimmt so eine Perspektive inmitten der dramatischen Ereignisse ein. Auf über 400 Seiten lernen wir hier einerseits Max Zirngasts journalistische und politikwissenschaftliche Texte und andererseits ihn als Person recht gut kennen. Das Buch unterteilt sich grob in drei Teile: Erstens eine sehr persönliche Einleitung, in der Max Zirngast selbst und viele Freund*innen und Wegbegleiter*innen zu Wort kommen. Die Texte beschreiben den „Fall Max Zirngast“, aber auch die Person, den Freund, den Studenten und Aktivisten, den seine Schreibkollegen liebevoll „Aslan Max'ımız – Unser Löwe Max“ nennen.

Der zweite Abschnitt des Buchs, der den grössten Teil ausmacht, besteht aus den journalistischen und politikwissenschaftlichen Analysen, die Zirngast zumeist mit seinen Schreibkollegen Güney Işıkara und Alp Kayserilioğlu im Kollektiv verfasst hat. Es geht darin um die politischen Entwicklungen der letzten Jahre in der Türkei, aber auch in anderen Ländern. Der dritte Abschnitt schliesslich nähert sich der Gefängniserfahrung an. Einige Texte beschreiben den Kontext aus Sicht der internationalen Solidaritätskampagne: Die Verhaftung, die Vorwürfe, den Ablauf von Polizeigewahrsam, Untersuchungshaft, Freilassung und Prozess. Das späte Herzstück des Buches sind Max Zirngasts Gefängnisbriefe.

Mit dem Wissen, dass der Autor der vielen Artikel über die politischen Entwicklungen in der Türkei, über die zunehmende Repression und den Aufbau eines diktatorischen Systems in den letzten Jahren, schlussendlich selbst von diesem System ins Gefängnis gesteckt werden wird, liest man die Artikel anders: berührter. Die Tragweite des brutalen Umbaus, den die AKP an der türkischen Gesellschaft vornimmt, ist greifbarer, weil die einleitenden Texte empfindlich für dessen ganz konkreten Folgen machen. Schon im Oktober 2015, kurz nach Zirngasts Ankunft in Ankara, kreuzen sich die politischen Ereignisse mit der Person, mit dem Körper: Gemeinsam mit seinem Freund Alp Kayserilioğlu, der zu Besuch ist, möchte Max Zirngast an einer Demonstration für Frieden, Arbeit und Demokratie in Ankara teilnehmen.

Nur weil sie ein paar Minuten zu spät dran sind, entgehen sie den Bomben zweier Selbstmordattentäter, die sich 150 Meter vor ihnen in die Luft sprengen und 102 Menschen töten. 500 weitere Menschen werden verletzt. In diesem Bewusstsein lesen sich die folgenden politischen Analysen brisant und mit heisser Feder geschrieben, inmitten des Geschehens. Trotzdem sind die Texte nüchtern. Sie sind extrem gut recherchiert, mit vielen Verweisen versehen und stehen auf einem breiten Zahlenfundament. Die Fähigkeit der Autoren, verschiedenste Statistiken zugänglich zu erklären und interessante Schlüsse aus den Zahlen zu ziehen, ist beeindruckend und zieht sich durch das ganze Buch. Die Texte über die Türkei sind chronologisch abgedruckt und erlauben, den Aufstieg der AKP, den neoliberalen Umbau der türkischen Wirtschaft, den Krieg gegen die Kurd*innen und schliesslich den diktatorischen Umbau der letzten Jahre detailreich nachzuvollziehen. Im Rückblick sollten Zirngast, Işıkara und Kayserilioğlu mit vielen ihrer Analysen Recht behalten: „Was auch immer geschieht, das Jahr 2016 wird entscheidend sein für die Zukunft der Türkei, Kurdistans und ihrer Völker.“ (S. 108)

So schliesst der titelgebende Text „Die Türkei am Scheideweg“, verfasst im Frühjahr 2016. Schon im Sommer 2016 scheiterte ein versuchter Militärputsch und die Verfolgung politischer Gegner Erdoğans verschärfte sich drastisch. Auch den Krieg in Rojava scheinen die Autoren vorherzusehen, wenn sie schreiben, dass ein deutlicher Sieg der AKP im Konflikt mit der kurdischen PKK sogar die Revolution in Rojava in Gefahr bringen würde (S. 107). Insgesamt diagnostizieren die Autoren dem AKP-Regime eine Hegemoniekrise und deuten den gewaltvollen Umbau der Gesellschaft als verzweifelten Versuch des Machterhalts. Die Potenziale des Widerstands und der oppositionellen Arbeit sind für sie trotz der allgegenwärtigen Repression nicht zu unterschätzen.

Auch die Texte zur internationalen Politik sind kenntnisreich, etwa die Analyse der US-Präsidentschaftswahlen 2016. Während beim Versuch zu erklären, warum Trump Präsident wurde, in vielen linken Medien Streit darum entbrannte, ob die Linke die Arbeiter*innen vergessen und zu stark auf Identitätspolitiken gesetzt habe und ob zu viel political correctness an den US-Universtäten den „weissen Mann“ zu sehr auf die Palme gebracht hätte, analysieren Zirngast und Kayserilioğlu, wie schon in den Texten zur Türkei, nüchtern die Zahlen – Exit-Polls und wirtschaftliche Entwicklungen der vergangenen Jahre. Sie kommen zu dem Schluss, dass nicht der ungebildete, arme, weisse Arbeiter Trump zum Sieg verholfen habe, sondern vielmehr das Kleinbürgertum und die enttäuscht zuhause gebliebenen Demokrat*innen, die Hillary Clinton nicht unterstützen konnten.

Dies könne man aber nicht mit einem Versagen „der Linken“ gleichsetzen. An manchen Stellen dieser Analysen schreiben sich die Autoren sehr in Rage, was beim Lesen stolpern oder schmunzeln lässt, weil die umgangssprachlichen Ausbrüche im nüchternen Analysetext unerwartet kommen: „Trump ist, wie wir meinen aufgezeigt zu haben, ein faschistischer, rassistischer, sexistischer Lump“ (S. 296). Die Wortwahl mag in Teilen auch an den vielen Übersetzungen liegen – so wurde etwa der Trump-Text wie viele andere, auf Türkisch verfasst (die Sprache lernte Max Zirngast als Autodidakt) und dann wieder ins Deutsche zurück übertragen. Diese kleinen Formulierungsunfälle, die immer wieder auftauchen, tun aber der inhaltlichen Qualität der Analysen keinen Abbruch.

Mit Bleistift geschrieben

Wenn im dritten Teil des Buchs auf die politischen Analysen Briefe aus dem Gefängnis folgen, verändert wiederum das Wissen über die zuvor gelesenen journalistischen Texte das Verstehen der Gedanken, die Max Zirngast mit Bleistift in seiner Zelle schreibt. Er ist ein genauer und empfindsamer Beobachter der Gesellschaft und auch des Gefängnisses, das er als eine andere Art von Umständen begreift, die man – wie auch draussen – nicht selbst bestimmt und die man zu nutzen wissen muss.

In fünf ausführlichen Briefen analysiert er die spezifische Situation in Haft und wie man versuchen kann, mit ihr zurechtzukommen, sie sogar zu seinem Vorteil zu nutzen. Er befindet sich dabei in einer Tradition kritischen praktischen Umgangs mit dem Gefängnis, die in Europa heute verloren gegangen ist. Das Verständnis der Gefängnisarchitektur und ihrer Effekte ist dabei genauso wichtig wie die Analyse des Zeitregimes in Haft: „Wenn du die Zeit nicht nutzt, nutzt sie dich!“ (S. 391). Max und sein Freund und Zellenkollege Mithatcan Türetken lesen viel, machen viel Sport und setzen dem Disziplinarregime Gefängnis noch mehr Disziplin entgegen.

Dabei bleiben die Texte empfindsam und zuweilen poetisch, zum Beispiel, wenn es in „Und immer die Vögel“ um die Geräuschkulisse der Haft geht. Gegen Isolation, Ungewissheit und Willkür, die den Inhaftierten zusetzen, empfiehlt Max Zirngast Disziplin, Kreativität und Solidarität. Das Buch lässt sich als Ergebnis aller drei verstehen und schliesst mit einem Zitat aus einem Gefängnisbrief von Rosa Luxemburg: „So ist das Leben, und so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd – trotz alledem.“ (S. 419). Das Buch lässt berührt zurück von einer sehr persönlichen Geschichte, die in jedem Schritt neue Facetten des Politischen erhellt und dabei exemplarisch für viele andere steht.

Johanna Tirnthal
kritisch-lesen.de

Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast (Hg.): Die Türkei am Scheideweg. und weitere Schriften von Max Zirngast. Edition Assemblage, Münster 2019. 432 Seiten. ca. 16.00 SFr. ISBN 978-3-96042-060-6.

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