Sabine Benzer (Hg.): Kulturelles Erbe Mitgift aus der Vergangenheit

Sachliteratur

Über die Frage, wie kulturelles Erbe unsere kollektive Identität beeinflusst und welchen Anteil wir selbst dabei haben können.

Mitgift aus der Vergangenheit
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Mitgift aus der Vergangenheit Foto: Mario Sixtus (CC-BY-NC-SA 2.0 cropped)

17. März 2023
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Vergangenheit ist ein Referenzpunkt für gegenwärtiges Erinnern. Doch inwieweit beeinflusst sie unsere kollektive Identität? Dieser Frage geht Kulturwissenschaftlerin Sabine Benzer in Expert*innengesprächen nach. Die Anthologie „Kulturelles Erbe. Was uns wichtig ist!“ versammelt sieben Interviews zum Thema.

Benzer befragt ihre Geprächspartner*innen insbesondere zum Einfluss des kulturellen Erbes auf kollektive Identität. Die Autor*innen liefern verschiedene Zugänge zum Thema, wobei unklar bleibt, wie die Zusammenstellung dieser Zugänge erfolgte. Einen roten Faden als Verbindungsstück der Interviews vermisst der/die Lesende. Anfangs- und Endpunkt des Sammelbandes bilden Gespräche mit der deutschen Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und der österreichischen Sozialwissenschaftlerin Ruth Wodak. Diese rahmen die Vielfalt der zur Diskussion stehenden Fragestellungen.

Kulturelles Erbe als Weitergabepraxis

Assmann definiert anfangs den „Kulturerbe“-Begriff, der auf die kulturelle Praxis des Vererbens zurückgeht. In dieser Praxis bekommen, so Assmann,

„die Mitglieder etwas überschrieben […], was in ihren Besitz übergeht […]. Ein Erbe verbindet über die Generationenschwelle hinweg. Die Erben erwerben etwas […]. Das können materielle wie immaterielle Werte sein. ‚Man erhofft sich, dass man noch von Leuten erinnert wird […], indem man ihnen etwas hinterlässt, was sie wertschätzen.'“ (S. 11)

Bereits 2013 befasste sich Assmann in „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“ mit den Ambivalenzen des Vererbens. Ich erhoffte mir einen kritischen Zugang und ein Hervorheben/Markieren von Differenzen. Die Autorin sieht die Vermittlung von kulturellem Erbe in jener Publikation positiv: „Letztlich könnte man sich im Sinne der UNESCO auf ein globales kulturelles Erbe verständigen, das die Menschheit als Ganze in den Blick nimmt und sie näher zusammenbringen könnte“ (Assmann 2013, S. 13). Damit suggeriert Assmann allerdings einen Universalismus, der Details ausblendet bzw. diese ignoriert.

Wie ein differenzierterer Ansatz aussehen kann, zeigt beispielsweise das Projekt MASETIH der Universität Graz. Hier untersuchen unterschiedliche Autor:innen, „inwieweit zeitgenössische migrantische AutorInnen aus Südosteuropa in ihren Texten und Performances immaterielles Kulturerbe (d.h. mobile, dynamische und performative Formen von Kulturerbe) gestalten und übertragen.“ (Universität Graz, Projekt MASETIH)

Differenzierter Umgang mit Kulturerbe

Assmann betont, dass es vereinzelt Bemühungen um eine Neudefinition des Begriffes Kulturerbe gibt. Bisher sei das Thema des kulturellen Erbes von den Institutionen der Denkmalpflege und den Archäologen besetzt gewesen. Heute beschäftigen sich die Empirische Kulturwissenschaft, die Ethnologie, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie, die Geographie und viele andere Fächer mit dem Phänomen. Assmann beobachtet in den letzten Jahrzehnten radikale Veränderungen im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs um das Kulturerbe, insbesondere in Grossbritannien. An Universitäten würden beispielsweise zunehmend Vorlesungen zu „Critical Heritage studies“ angeboten. Eine solche Auseinandersetzung kann durchaus als Zeichen für eine zunehmend kritische Beschäftigung mit den Herausforderungen einer kulturell definierten Erbschaft gedeutet werden. Zugleich lässt sich vermehrt ein zunehmend partizipativ angelegter Diskurs über Gegenstände und Praktiken des kulturellen Vererbens beobachten. Bürger*innen werden also aktiv in diese Debatten eingebunden. Wie weit eine solche Partizipation reicht, kann jedoch zumindest kritisch hinterfragt werden.

Das Ungedachte ins Bewusstsein holen

Umfassend referiert Assmann zu Aspekten der Bildung als einer Kategorie des Kulturerbes. Hoffnungsvoll beschwört sie den Einfluss zeitgenössischer Kunst im Umgang mit dem „Ungedachten“. Diese Kennzeichnung nimmt bisher nicht einbezogene Gedanken und Möglichkeiten, Kultur inhaltlich neu zu denken, in den Fokus. Eine Möglichkeit, ein solches Ungedachtes ins Bewusstsein zu holen, sieht sie in den vielen Facetten der Kunst. Es sei Aufgabe der „Künstler auf allen Ebenen“ (S. 29), sowohl in der Bildenden Kunst als auch in der Literatur, diesem Anspruch nachzugehen. Beispielhaft nennt Assmann die Neugestaltung eines Denkmals des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. Die Auseinandersetzung mit dessen antisemitischem Weltbild sorgte dafür, dass der Künstler Klemens Wihlidal das Denkmal im Jahr 2010 zu einem Mahnmal umarbeitete.

Assmann stellt resümierend fest, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 eine historisch neue Form der Erinnerungskultur entstanden sei. Dialogisches Erinnern habe „viel mit der Öffnung der osteuropäischen Archive zu tun […]. Mit den Quellen sind Dinge ans Tageslicht gekommen, die von Historiker*innen aufgegriffen und dann in der Gesellschaft intensiv diskutiert wurden.“ (S. 33) Obwohl Assmann den Fall des Eisernen Vorhangs als Wende im Umgang mit Kulturerbe markiert, untersucht sie hauptsächlich Entwicklungen in Westdeutschland nach 1990.

Versprachlichtes Erbe

Ruth Wodak, Sprachsoziologin und Vertreterin der kritischen Diskursanalyse, konzentriert sich im Interview hingegen auf ein immaterielles Erbe: Literarische Texte, Erzählungen, Alltagssprache. Ihr geht es um die Auseinandersetzung mit einem „versprachlichtes Erbe“; so fasst Wodak ihren Forschungsgegenstand zusammen und verweist auf Memory Studies, die über den Aspekt der Sprache funktionieren. Wodak nimmt hier vor allem auf den Aspekt der Identität innerhalb des kulturellen Erbes Bezug. „Dazu gehört immer ein Referenzpunkt gemeinsam erlebter Geschichte“ (S.133). In Deutschland und Österreich bildet der Nationalsozialismus einen solchen gemeinsamen Referenzpunkt. Eindrücklich sei ein möglicher Umgang mit dem kulturellen Erbe des Nationalsozialismus etwa in aktuellen Filmen zu sehen, wie etwa „Schächten“ von Thomas Roth oder „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller. Sie zeigten den Versuch, mit künstlerischen Mitteln einen Beitrag zum Kulturerbe-Diskurs zu leisten.

Sharon Macdonalds Beitrag greift Wodaks Einfluss der Sprache auf. Für Macdonald sind Begriffe wie Auschwitz und Holocaust Teil des europäischen Gesprächs (S. 65), sie beeinflussen europäische Identität und Sprache. Die Professorin für Soziale Anthropologie an der Freien Universität Berlin fasst zusammen: „Kulturerbe ist nicht nur eine historische Sammlung, sondern Teil eines fortlaufenden Gesprächs“ (S. 63). Insgesamt wirft Benzers Anthologie zahlreiche Frage auf, die in diesem Gespräch zu klären sind. Damit gibt sie zugleich Anstoss, den Kulturerbebegriff neu zu besetzen.

Cornelia Stahl
kritisch-lesen.de

Sabine Benzer (Hg.): Kulturelles Erbe. Was uns wichtig ist! FOLIO Verlag, Wien/Bozen 2020. 161 Seiten. 19.00 SFr. ISBN: 978-3-85256-796-9.

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