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Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution | Untergrund-Blättle

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Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution Rosa Luxemburgs Hammerschlag

Sachliteratur

Vor 120 Jahren tobte in der SPD ein Streit: Reform oder Revolution - welcher Pfad führt zur kommunistischen Gesellschaft?

Clara Zetkin (links) und Rosa Luxemburg auf dem Weg zum S-Kongress in Magdeburg 1910.
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Clara Zetkin (links) und Rosa Luxemburg auf dem Weg zum S-Kongress in Magdeburg 1910. Foto: Unknown (PD)

31. Januar 2019
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Im Frühherbst 1898 sass eine promovierte Ökonomin am Schreibtisch und füllte energisch Seite um Seite. Die aus Polen stammende 27-Jährige war gerade aus dem Schweizer Exil ins Deutsche Reich umgezogen und in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands eingetreten. Sofort warf sie sich in eine der wichtigsten Debatten der deutschen Arbeiter_innenbewegung. In der Partei hatten sich Kräfte formiert, die eine Erneuerung der Parteistrategie forderten. Die linksradikale Publizistin und Politikerin war empört über diese Revisionist_innen, wie sie sie nannte. Dagegen musste mit spitzem Bleistift vorgegangen werden! Historischer Streit in der SPD – eine Lehre für moderne Linke?

Die Rede ist natürlich von Rosa Luxemburg. Im September 1898 und April 1899 veröffentlichte sie zwei Artikelserien, die kurz darauf zusammengefasst unter dem Titel „Sozialreform oder Revolution?“ erschienen. Ein sehr alter Text, entstanden im Rahmen einer innerparteilichen Debatte der SPD. Braucht man das zu lesen? Für den Berliner Manifest Verlag lautet die Antwort Ja, denn er hat die Broschüre gerade neu herausgegeben. Ein Vorwort führt knapp in Thematik und Kontext ein. Luxemburg werfe Fragen auf, die „heute noch so aktuell wie damals“ (S. 10) seien. Angesichts des Neoliberalismus seien reformistische Ideen wiedererstarkt. Man könne mithilfe Rosa Luxemburgs alter Kritik noch immer Neues lernen.

Worüber empörte sich die Revolutionärin also? Ende des 19. Jahrhunderts wurde die deutsche Sozialdemokratie vom sogenannten Revisionismusstreit durchgeschüttelt. Die SPD verstand sich in dieser Epoche als revolutionäre sozialistische Partei der Arbeiter_innenklasse. In der Partei wurde aber immer mehr zwischen dem revolutionären Endziel und „realpolitischen Tagesforderungen“ unterschieden, die auf Verbesserungen im Hier und Jetzt abzielten. Wortführer der Realos war Eduard Bernstein, der als versierter Theoretiker und Nachlassverwalter von Friedrich Engels eine gewichtige Persönlichkeit der deutschen Sozialdemokratie darstellte.

Bernstein war zu der Ansicht gekommen, dass die Maximalforderung der Revolution aufgegeben werden müsse. Die Gesellschaft habe sich so entwickelt, dass eine Lebensverbesserung der Arbeiter_innenklasse auch im Kapitalismus möglich sei. Durch Reformen könne man allmählich zum Sozialismus übergehen. Er hatte diese Ideen ebenfalls in Artikeln und einer Broschüre mit dem Titel „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ ausgebreitet, auf die Rosa Luxemburg mit „Sozialreform oder Revolution?“ antwortete.

Sie gliederte ihre Schrift in zwei Teile, die sich jeweils an Bernsteins Artikeln und der Broschüre abarbeiteten und in denen die Revolutionärin einzelne Argumente ihres denkerischen Widersachers zu demontieren versucht. Im Anhang findet sich ausserdem Luxemburgs Text „Miliz und Militarismus“, ebenfalls ein Dokument der Revisionismusdebatte. Das etwa 140 Seiten dünne Büchlein ist angenehm kleinteilig. Die Sprache ist zwar auch für Menschen ohne Doktorhut verständlich, jedoch ist der Inhalt einigermassen voraussetzungsreich. Bernstein und Luxemburg waren beide im Marx'schen Theoriegebäude zuhause und argumentierten mit den entsprechenden Denkkategorien. Es hilft, schon einmal von der Arbeitswertlehre, vom „Gesetz der tendenziell fallenden Profitrate“ oder von Dialektik gehört zu haben.

Kapitalistische Mittel zum sozialistischen Zweck?

In ihrem Vorwort betonte die Autorin, die Begriffe „Sozialreform“ und „Revolution“ schlössen einander nicht aus. Im Gegenteil: Reformen seien das Mittel zum Zweck der gesellschaftlichen Umwälzung. Da Bernstein das Ziel infrage stelle, greife er die Existenz einer proletarischen Arbeiter_innenbewegung überhaupt an. Es ging nicht um taktische oder „tagespolitische“ Fragen. Die Kritik an ihrem Parteigenossen war fundamental, denn sie drehte sich um die theoretische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Da die einzelnen Punkte hier nicht alle dargelegt werden können, sollen an Beispielen zwei zentrale Argumentationsmuster herausgearbeitet werden, die sich durch Luxemburgs Schrift ziehen.

So greift sie etwa seine Vorstellung an, mithilfe der Gewerkschaften Einfluss auf die kapitalistische Produktion zu nehmen. Diese Arbeiter_innenorganisationen sollten, so Bernstein, die Unternehmerinnen immer weiter einschränken, um diese allmählich zu Verwalter_innen zu degradieren und schliesslich zu enteignen. Luxemburg hielt diese Idee für illusorisch. Sie wies auf die reale Funktion der Gewerkschaften hin, die gegenüber den Kapitalist_innen lediglich den Marktpreis der Ware Arbeitskraft durchsetzten. Damit vollstreckten sie notwendigerweise gerade Prinzipien der Marktwirtschaft überhaupt. Ausserdem bewegten sich auch genossenschaftliche Unternehmen immer noch im Rahmen kapitalistischer Konkurrenz und Verwertungszwangs. Kurz gesagt: Gewerkschaften sind laut Luxemburg Bestandteil des Kapitalismus und weisen nicht über ihn hinaus.

Das gleiche galt ihrer Ansicht nach für den bürgerlichen Parlamentarismus, für Bernstein Werkzeug zur Errichtung der sozialistischen Gesellschaft. Luxemburg wandte ein, zwar diene die vorhandene Demokratie formal den Interessen aller, dem Inhalt nach unterläge sie letztlich aber kapitalistischen Interessen. Ohnehin könne der Übergang zum Sozialismus nicht einfach über das bürgerliche Rechtssystem dekretiert werden. Wirksam sei „einzig der Hammerschlag der Revolution“ (S. 52). Denn die moderne Klassengesellschaft konstituiere sich ja gerade über ökonomische Beziehungen und nicht durch Gesetze. Aus der Sicht Luxemburgs wolle Bernstein einen Kerl am Kragen packen, der gar keinen Kragen habe. Sie verzichtete allerdings darauf, das Recht auf Privateigentum und das Vertragsrecht als juristische Basis des Kapitalismus zu erörtern.

Notwendige Selbstzerstörung

Das erste Argumentationsmuster richtet sich also gegen den Plan, mit der marktwirtschaftlichen Eisenbahn ins sozialistische Utopia zu reisen. Die zweite Säule ihrer Kritik ist ein teleologisches Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung. Aufgrund seiner inneren Widersprüche, bewege sich der Kapitalismus zwangsläufig auf einen „allgemeinen wirtschaftlichen Krach“ (S. 21) zu. Der Zusammenbruch sei der Moment in der das Proletariat die Gesellschaft revolutionieren könne, Sozialismus deshalb eine „geschichtliche Notwendigkeit“ (S. 64). Bernstein glaube nicht mehr an eine krisenhafte Selbstzerstörung des Systems und gebe den Sozialismus damit insgesamt auf.

Obwohl dieser Geschichtsdeterminismus selbstverständlich zu verwerfen ist, kann man aus Luxemburgs Schrift heute noch einiges herausholen. Eine linke Gesellschaftskritik sollte beispielsweise Gewerkschaften und die bürgerliche Repräsentativdemokratie als kapitalistische Formprinzipien durchschauen. Mit ein wenig Gedankentransfer regt Luxemburg auch zur Kritik der postmodernen Konsumkritik an. Leider glauben auch viele Linke, man bekämpfe Ausbeutung und Umweltzerstörung, wenn man im Bio-Supermarkt shoppen gehe. Obwohl die Revisionist_innen den Streit letztlich für sich entschieden haben, bleibt „Sozialreform oder Revolution?“ ein lesenswerter marxistischer Klassiker.

Felix Matheis
kritisch-lesen.de

Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution. Manifest Verlag 2018. 144 Seiten, ca. SFr 15.00 ISBN 978-3-96156-053-0

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.

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