Rudolf Geist: Die Wiener Julirevolte Der Brand des Wiener Justizpalastes 1927

Sachliteratur

Schattendorf und die Folgen. „Dieser feige, infame Mord darf nicht ungesühnt bleiben“, schreibt Robert Geist. Dieser Gedanke war es auch, der die spontanen Proteste nach dem skandalösen Freispruch in Wien auslöste.

Angesengte Aktenstücke aus dem Justizpalast vom 18. Juli 1927 im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien.
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Angesengte Aktenstücke aus dem Justizpalast vom 18. Juli 1927 im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Foto: Pappenheim (PD)

5. Dezember 2017
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Es war eine elementare Empörung, die sich zur Aktion verdichtete und im Moment ihrer Überreizung jedes rationale Kalkül verlor. „Seitz, Deutsch, Bauer und Tandler hatten die Pflicht übernommen, den Brand zu löschen, die Ruhe herzustellen.“1 Das sollte misslingen, denn die aufgestaute Wut war schon zu gross, sie konnte sich nur noch blindwütig entladen. So brannte der Justizpalast. „Die Massen waren nicht als organisierter Heereskörper, sondern als unorganisierter Heerhaufen erschienen. Sie waren von der Polizei überfallen worden“, notiert der sozialdemokratische Journalist Julius Braunthal (zit. nach Duczynka, a.a.O., S. 331) „Die Erbitterung über die unbegründeten Attacken und Säbelhiebe ist unermesslich“, meint unser Augenzeuge Robert Geist.

Zweifellos war der Juli 1927 „ein düsterer Wendepunkt in der Geschichte der österreichischen Arbeiterschaft“ (Ilona Duczynska, Der demokratische Bolschewik. Zur Theorie und Praxis der Gewalt, München 1975, S. 332), ja der Wendepunkt der Ersten Republik schlechthin. Mit aller Deutlichkeit dokumentiert er die Schwäche der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterbewegung. In entscheidenden Momenten versagte die Partei. Nicht Agieren stand auf der Agenda, sondern Resignieren. Die sozialdemokratische Parteispitze verfügte (nicht nur in diesen Tagen) weder über Strategie noch Taktik. Duczynska spricht gar von einer „Anti-Führung“. (A.a.O., S. 110)

Weder offensiv noch defensiv kam die Parteiführung der SDAP mit der Lage zurecht. Und man lernte auch nicht dazu. Zu zaghaft um zu führen, zu schwach um abzuwiegeln. Noch deutlicher als 1927 sollte sich das 1933 und 1934 zeigen. Auch da war wurde die Partei überrascht und wusste überhaupt nicht, was man tun sollte. Geübt war man lediglich darin, Niederlagen theoretisch zu (v)erklären. Alles was nach Entschlossenheit roch, war dieser Führung fremd. Bestenfalls spaltete sich der Apparat in freiwillige und unfreiwillige Kapitulanten. Karl Renner war immer ein unerträglicher Opportunist gewesen und Otto Bauer stets ein unverbesserlicher Zauderer.

Hielten sich die beiden gesellschaftlichen Lager bis dahin noch gegenseitig in Schach, so wurde die Arbeiterbewegung in den nächsten Jahren sukzessive Schachmatt gesetzt. Der Juli 1927 demonstrierte, dass das Drohpotenzial der Sozialdemokratie nur eine Drohkulisse gewesen ist. Trotz Republikanischem Schutzbund erwies sich die Arbeiterschaft als nicht wehrhaft. Was folgte, war die Demontage des Austromarxismus.

Die von Robert Geist verfasste Dokumentation der Vorfälle ist an Dramatik kaum zu überbieten. Sprachlich roh, ja naturbelassen kommt des Autors Pamphlet so richtig in Fahrt. Manche Sätze wirken geschliffen, aber noch viel mehr wirken ungeschliffen und unfertig, aufgekratzt und wuchtig. Sie sind wahrlich roher Stoff. Das Entsetzen des Augenzeugen ist diesen Zeilen anzumerken. Die aufgeladene Dramaturgie der Ereignisse ist in ihrer ganzen Grobheit spürbar. Die Sprache folgt dem erregten Zungenschlag der Zeit. Das erhitzte Klima merkt man diesem Text an, er hat nichts Distanziertes, er ist Teil des Geschehens, ihm unmittelbar entsprungen.

Zwar ist niemand im Justizpalast umgekommen, doch gerade dieses gemeine „Hauptgerücht“ des Tages machte fleissig die Runde: „Im Justizpalast sind bei hundert Wachleute erstickt, verbrannt und gelyncht, viele haben sich mit ihrer letzten Kugel selbst erschossen!“, hiess es. Das heizte die Mordsstimmung richtig an. Revolutionären wird immer das vorgeworfen, was man gern mit ihnen anstellen würde. Denn dann kann man bittere Rache nehmen, und das tat die Polizei auch: „Hassverzerrte, tierisch gewordene Gesichter, hektisch rot und blau gedunsen, so schossen sie die Menschen „wie Hasen“ ab. Die zweite Salve machte den Platz vor dem Palais leer, d.h. es lagen bei hundertfünzig Verwundete, die Toten nicht zu zählen. Und nun huben die Treibjagden des Nachmittags an.“ Chaos und Panik beherrschten die Szene.

„Die von nichts als dem Räumungsbefehl gehetzte Wache kommt, legt an, und im Moment der Flucht schiesst sie in die unzählbare Menge! Kopfschüsse, Bauchschüsse, Herzschüsse, Arm-und Fusszerschmetterungen, fallende Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen, Arbeiter und Bürger. Alles läuft, läuft, läuft!“ Der Schicksale sind viele und der Anonymität entrissen gehen sie so: „Karl Fränze, 15 Jahre alt, Lehrling, war auf das gegenüberliegende Hausgerüst geklettert. Aus Angst. Ein Wachmann legt an, zielt, das Kind platscht herunter. Adele Stanek, 15 Jahre, wurde durchs Fenster der elterlichen Wohnung, Lerchenfelderstrasse 35, erschossen.“ In der Rahlgasse spielte sich Folgendes ab: „Und alles wogte stumm und sterbend die Stiege hinab, Mensch über Mensch tretend, gellend, ächzend, fallend.“ Es war ein „barbarisches Abschiessen“, Ausdruck „staatlicher Karabinerkultur“.

Die Ordnungskräfte reagierten kopflos, aber nicht ziellos. Ordnen wollten sie nicht, sondern niederkartätschen. Die Polizei wütet, auch als schon alles vorbei ist: „Das ist Pöbel, die sind nicht mehr wert als dass man sie erschiesst!“, sagte der Polizeikommissar des dritten Bezirks. „Danach verhaftete die Polizei etwa dreihundert, schlug sie blutig und blöde, jeden, jede, die denunziert worden war.“

Doch wer waren diese „Bestien der Autorität“, wie Geist sie nannte. Der Grossteil von ihnen waren Polizisten aus der Bundeshauptstadt. Und das verweist auf eine ganz besondere Tragik. „Bei der Vertrauensmännerwahl der Wiener Polizei im März hatte die sozialdemokratische Gewerkschaft viertausend von fünfeinhalbtausend Stimmen erhalten, und doch war die Gendarmerie gegen die Arbeiterschaft einsetzbar gewesen“, lesen wir bei Peter Kulemann. (Am Beispiel des Austromarxismus. Sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Österreich von Hainfeld bis zur Dollfuss-Diktatur, Hamburg 1979, S. 350) Im Mantel der Staatsmacht haben Sozialisten auf Sozialisten geschossen.

Nicht das Personal bestimmt den Staat, sondern der Staat sein Personal. Und der Staat war in seinem Element und er offenbarte seine repressiven Züge ganz ungeschminkt. 1929, zwei Jahre später, kam es auch zu einer der Sozialdemokratie abgepressten Verfassungsnovelle, in der die Staatsautorität gestärkt wurde. Vor allem die Kompetenzen des fortan direkt zu wählenden Bundespräsidenten wurden erheblich ausgeweitet, das Parlament hingegen wurde geschwächt. Der austrofaschistische Ständestaat scharrte bereits in den Startlöchern.

„Das „rote Wien“ ist geschlagen“, resümierte Robert Geist. Dem war so. Dem ersten Morden folgte auch nicht das Erschrecken, man setzte vielmehr auf Demütigung. „Verlangen sie keine Milde“, das war die klare Losung des katholischen Prälaten Ignaz Seipel, seines Zeichens Bundeskanzler der Republik und Vorsitzender der Christlichsozialen. In der schwarzen Reichspost wurde glatt so getan als seien die Mörder ermordet worden und nicht die tatsächliche Opfer, die stets als „rotfaschistische Gewalttäter“ gebrandmarkt wurden. Das erinnert freilich schon an den späteren „Linksfaschismus“-Vorwurf gegenüber den Achtundsechzigern.

Franz Schandl
streifzuege.org

Fussnoten:

1 Alle nicht ausgewiesenen Zitate stammen von dem in diesem Band veröffentlichten Text von Robert Geist.

Nachwort zur Broschüre Dieter Braeg (Hg.), Rudolf Geist, Die Wiener Julirevolte. Bericht eines Augenzeugen, Buchmacherei, Berlin 2017