Rita Laura Segato: Wider die Grausamkeit Für einen feministischen und dekolonialen Weg

Sachliteratur

Rita Segato, Anthropologin aus Argentinien/Brasilien, untersucht in diesem aufregenden Buch die Gewaltgeschichte Lateinamerikas im Hinblick auf ein Patriarchat der Grausamkeit.

Die Anthropologin Rita Segato in Brasilia, Februar 2018.
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Die Anthropologin Rita Segato in Brasilia, Februar 2018. Foto: Beto Monteiro - Secom UnB (CC BY 2.0)

10. November 2021
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Wie pseudo-tolerant die kapitalistische Ordnung auch immer erscheinen mag, sie übt weiterhin in all ihren Aspekten - Familie, Schule, Fabrik, Behörde - über die Ganzheit des begehrenden sexuellen und affektiven Lebens ihre totalitäre Herrschaft aus, die auf Eigentum, der Herrschaft des Männlichen, Ausbeutung und Mehrwert gegründet ist. Unermüdlich fährt sie mit ihrer dreckigen Arbeit fort - der Kastration, Zerstörung, Folterung und Kontrolle des Körpers; sie graviert ihre Gesetze in unser Fleisch ein, schweisst ihre Sklavereimaschine in unser Bewusstsein.

Mit jeder täglichen Beschränkung und Frustration auferlegt der Kapitalismus seine Normen, prägt seine Charaktere, verteilt seine Rollen, sendet seine Programme. Mit jedem nur erdenklichen Mittel treibt er die Wurzeln des Todes in unsere Eingeweide, nimmt unsere Organe in Beschlag, verfälscht unsere Lebensfunktionen, verstümmelt unsere Lust, unterwirft alle Erfahrungen der Kontrolle seiner Henker-Verwaltung.

(aus: Nieder mit der Ermordung des Körpers, Wicked Messengers 1975)

Rita Segato, Anthropologin aus Argentinien/Brasilien, untersucht in diesem aufregenden Buch die Gewaltgeschichte Lateinamerikas im Hinblick auf ein Patriarchat der Grausamkeit. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über Rassismus, Geschlecht, Kapitalismus und Kolonialismus.

Ein Schwerpunkt ihrer Untersuchung ist die verstörende Menge an Femiziden im mexikanischen Ciudad Juárez. Sie erkennt darin nicht persönliche Gewaltakte, sondern eine habitualisierte Grausamkeit, ein Spektakel der Grausamkeit. Und eine Rekonstruktion des kolonialistischen Systems.

Den Hintergrund dieser Morde bilden die fortgeschrittene Unterwerfung der Menschen unter die Bedingungen des Warensystems und die Rückkehr und Ausweitung von knechtähnlicher, halbsklavischer und sklavischer Arbeit, bei Männern wie bei Frauen. Durch die Ausprägung und Verstärkung des „narzisstischen und konsumistischen Genusses“ und der Isolierung der Menschen entsteht eine Desensibilisierung gegenüber dem Leid der Mitmenschen, sowie eine Vielfalt an Formen der Schutzlosigkeit und Prekarität des Lebens.

Die jeglichen Inhalts entleerten Beziehungen zwischen Personen, ein reines Verhältnis aus Funktionen, Zweckmässigkeiten und Interessen, machen diese zur Schau gestellte Grausamkeit der massenhaften Femizide möglich. Die Unterwerfung der Frauenkörper als ursprünglicher kolonialer Akt wird wie ein Trauma wiederholt.

Die Strategie der Verdinglichung, oder auch die Pädagogik der Grausamkeit, setzt sich bis in die permanente Beeinflussung durch die Massenmedien fort.

Paradigmatisch steht für die Strategie der Grausamkeit das Patriarchat. Es ist die erste "Pädagogik der Macht und der Enteignung", eine Lektion in Hierarchie.

Rita Segato setzt dagegen „die weiblich kodierte Politizität als eine Politik der raumzeitlichen und sozial kommunitären Verwurzelung“. Nicht „utopisch“ ist sie, sondern ein konkreter Ort.

Hier wird pragmatisch verhandelt, orientiert an unvorhersehbaren Ereignissen, auf den Entwicklungsprozess ausgerichtet, nicht auf die Prinzipien einer Moral.

Das „historische Projekt der Bindungen“ im Gegensatz zum „historischen Projekt der Dinge“: das ist als Denkmodell und als Etappenziel unserer Aktivitäten immer wieder ein Leitstern!

Ihre eigenen Feldstudien bei den Orishas im Nordosten Brasiliens liessen Rita Segato diese religiöse afro-brasilianische Gemeinschaft erkunden, insbesondere im Hinblick auf das Geschlecht und seine Zuschreibungen und Hierarchien. Sie entdeckte ein freies, unendlich raffiniertes, komplexes und libertäres System, eine „Transitivität der Geschlechter“.

Alle Komponenten von „Geschlecht“ sind hier als bewegliche Schichten vorhanden, die die Person zusammensetzen wie ein auf verschiedene Weise konstruierbares Puzzle. Männlichkeit und Weiblichkeit sind die beiden Pole eines Kontinuums, zwischen denen vielfältige Übergänge bestehen. Jedem Menschen steht die Möglichkeit offen, hinsichtlich seiner geschlechtlichen Zusammensetzung ein gemischtes Wesen zu sein, und in seinem Erleben durch verschiedene Register des Geschlechts zu zirkulieren.

Sobald die Institutionalität in das (vorkoloniale, dekoloniale, antikoloniale, nicht-koloniale) Gemeindeleben eindringt, also die Institutionen das Zusammenleben strukturieren, verlieren die Menschen ihre Autonomie, und es entsteht ein anderes Konzept von Sexualität.

Die staatlich-unternehmerisch-medial-christliche Front = die Frontlinie des kolonial-modernen Staates zerreisst das Gewebe der auf Gegenseitigkeit basierenden Beziehungen und lässt das Ausmass an Gewalt wachsen.

Die Theologie des Kapitals errichtet das Mandat der Männlichkeit und gleichzeitig damit das Mandat der Eigentümerschaft.

In der kolonialen-postkolonialen westlichen Moderne ist „Geschlecht“ eine analytische Kategorie, die vorgibt, darüber Auskunft zu geben, wie herrschende und hegemoniale Vorstellungen die Welt der Sexualität, der Affekte, der sozialen Rollen und der Persönlichkeit ordnen. Der Begriff konstruiert ein symbolisches Feld, das die Klassifizierung der Körper vollzieht, indem sie diese in ein binäres Modell zwängt, obschon man auch von einer offenen Vielfalt körperlicher Formen ausgehen könnte. Hier herrscht die binäre Ausrichtung der Zuschreibungen von sexuellen Orientierungen, Persönlichkeiten, Sensibilitäten, Rollen u.a.m.

Als Kategorie kartographiert das Wort Geschlecht Verhaltensweisen, identifiziert Normen, die das soziale Leben ordnen. „Geschlecht“ wird damit Bezugspunkt der Norm gegen den unaufhaltsamen Fluss der menschlichen Erfahrung, in dem jedes Subjekt Übergänge sehr viel freier erleben kann, die nicht unbedingt in Sprache fassbar sind, und schon gar nicht in Normen.

Die Identifizierung und Kartographisierung bestimmter geschlechtlicher/sexueller Zuschreibungen ist dem freien Spiel eher abträglich. Die Durchlässigkeit der Geschlechter, die Vielfalt an Formen der Travestie, des Nicht-Brauchbaren, Nicht-Verwertbaren, die Akzeptanz des Androgynen, die performative Natur der Geschlechterpositionen in den Stammesgesellschaften der vor-kolonialen Zeit verschwinden.

Die Übernahme einer institutionellen Position durch Frauen, z.B. in Staat oder Wirtschaft, bedeutet, sich an die Regeln des männlichen „Ethos“ anzupassen. Das Patriarchat und mit ihm die Strategien der Grausamkeit zwingen das Unvorhersehbare des Lebens, sich der Messbarkeit und Konsumierbarkeit, den Nützlichkeitserwägungen des Kapitalismus zu unterwerfen. Die Institutionalisierung des Zusammenlebens ist Ausdruck des Unterwerfungsprozesses.

Im fortgeschrittenen Kapitalismus und seinem immer schnelleren Leerlauf entwickelt sich ein zweiter Staat und mit ihm eine zweite Realität: Die Mafia oder mafiaähnliche Organisationen oder nicht-demokratisch kontrollierte Grosskonzerne oder Mega(Meta)institutionen sind ein kriegerisches Universum, das nicht benannt wird, eine Kriegsmaschinerie hinter den Kulissen einer Welt, die nur noch als Bild existiert, als Narrativ.

Para-Staatlichkeit oder Para-Ökonomie ist eine gewalttätige Art, das Leben einzufangen, das sich aus dem offiziellen, zur Phrase verkommenen Narrativ (der „westlichen“, staatlichen Demokratie, Gleichberechtigung, Freiheit o.ä.) gelöst hat oder nicht zu integrieren bereit war oder ist. Die parastaatlichen Mächte funktionieren durch öffentliche Zurschaustellung von Willkür und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Grausamkeit. Dieses System sieht Rita Segato in Mexiko am Werk, aber längst nicht nur dort. Es ist ein weltweit funktionierendes Verhängnis der Grausamkeit.

Rita Segato spricht von dekolonialen Entwicklungen, wenn sie die Loslösung aus dem Kolonialismus bezeichnet. Postkoloniale Institutionen erhalten die Institutionen des Kolonialismus mit neuer Besetzung aufrecht. „Rasse“(Raza) ist Ausdruck der Zuschreibung einer biologischen Grundlage zu einer Ungleichheit, die sich als Konsequenz eines Kriegsgewinns eingestellt hat. Rita Segato betrachtet die Zuschreibung des „Anderen“ als unbrauchbar: der oder die „Andere“ ist erst durch den kolonialistischen Blick entstanden. „Rasse“ und „Geschlecht“ sind historische Erfindungen mit dem Ziel der Herrschaft.

Während das Kapital und die Moderne von Natur aus kurzsichtig sind, ist die strategische Intelligenz der „Pueblos“, der indigenen Gemeinschaften, von einer behutsamen Zeitlichkeit, mit einem langfristigen Blick verbunden. Ihre Intelligenz lehrt, die Ambivalenz, die Realität des Inkonsequenten und Widersprüchlichen auszuhalten. Das war die praktische Erfahrung der „Subalternen“ des Kolonialismus: Sie versuchten, in den „Falten“ der Strategie der Grausamkeit zu überleben, um ihr „historisches Projekt der Bindungen“ zu erhalten. Das kommunitäre Subjekt der vor- oder postkolonialen Zeit akzeptiert die Gleichzeitigkeit von A und Nicht-A. Es ist die Überlebensstrategie der dekolonialen Kommunität.

Die Utopie ist in einem dekolonialen Sinn die Freiheit der Geschichte, ihre Offenheit und Unvorhersehbarkeit. Die stattfindenden Revolten destabilisieren Normen und Hierarchien, setzen an der Pragmatik der Vielseitigkeit an. Man kann in ihnen die „Schattenspiele eines archaischen Imaginären“ erkennen, ihre Symbolik und Rituale.

Die Kolonial-Moderne und der Kapitalismus haben die Pluralität der Träume reduziert und vereinheitlicht. Für andere Arten des Glücks, für Investitionen in die Dauerhaftigkeit einer Welt, in der Bindungen Priorität haben - für diese andere Welt ein Vokabular zu finden, um den Ungehorsam zu fördern und in die Praxis umzusetzen, dafür streitet auch Rita Segato mit diesem faszinierenden Buch.

Hanna Mittelstädt

Rita Laura Segato: Wider die Grausamkeit. Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2021. ca. 22.00 SFr. ISBN 978385476-904-0