Philipp Mattern: Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – das Beispiel Berlin. Vergessene Splitter der Hoffnung

Sachliteratur

Die Mieterbewegung hat nichts an Aktualität verloren und bietet einen reichen Erfahrungsschatz für die kämpfenden Mieter*innen von heute.

Die besetzte Mainzer Strasse in Berlin-Friedrichshain, 1990.
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Die besetzte Mainzer Strasse in Berlin-Friedrichshain, 1990. Foto: Umbruch Bildarchiv (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

7. März 2019
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Die zurückgekehrte Wohnungsfrage ist ein Kristallisationspunkt sozialer Kämpfe in den Städten. Die Hoffnungen vieler Linker liegen in diesen Tagen in den wachsenden Protesten gegen die sozialen Verheerungen als Folge der neoliberalen Wohnungspolitik der vergangenen 25 Jahre. Berlin gilt deutschlandweit als eine Art Avantgarde der stadtpolitischen Bewegung. Jüngst sorgten die Kampagne #besetzen und die Verhinderung des Google Campus in Kreuzberg für bundesweite Schlagzeilen. Die Stadt kann auf eine reiche Geschichte von Widerständen gegen die Unzumutbarkeiten kapitalistischer Stadt- und Wohnungspolitik zurückschauen.

Der kompakte Sammelband „Mieterkämpfe“ dokumentiert die Berliner Kämpfe der vergangenen 146 Jahre in elf Beiträgen. Der Herausgeber Philipp Mattern erklärt in der Einleitung die Notwendigkeit des Buches mit der Beobachtung, dass trotz des derzeit grossen Interesses an den Konflikten am Wohnungsmarkt, die „Erfahrungen vergangener Auseinandersetzungen um Wohnraum [kaum] Eingang in die politische Diskussion finden“ (S. 7). Er stellt fest:

„Die MieterInnen Berlins haben diese Stadt niemals nur passiv bewohnt, sondern sie traten stets als Subjekte in Erscheinung. Indem sie für ihre Interessen kämpften, haben sie die Stadt gestaltet, sie mit Leben gefüllt, ihr ein eigenes Gesicht gegeben“ (S. 7).

Diese zentrale These zieht sich durch den gesamten Band und formuliert dessen Anspruch. Das Buch will die Geschichte der Wohnungspolitik und Stadtentwicklung aus Perspektive der Mieter*innen erzählen.

Der Sammelband basiert auf einer Artikelserie im MieterEcho, der Zeitschrift der Berliner MieterGemeinschaft sowie auf Beiträgen aus der Ausstellung „Kämpfende Hütten“. Der Herausgeber hat das vorliegende Material für die Buchveröffentlichung gemeinsam mit den Autor*innen erweitert und durch einen Beitrag zur heutigen Situation sowie eine Zeitleiste ergänzt.

Von den Krawallen zur Organisierung

Die Reise durch die Geschichte der Mieterkämpfe beginnt im Jahr 1872 mit den Blumenstrassenkrawallen in Friedrichshain. Der Historiker Axel Weipert nimmt die Leser*innen mit in die beengten Verhältnisse in den Berliner Mietskasernen zu Beginn der Industrialisierung. Immobilienspekulation und die völlige Rechtlosigkeit der Mieter*innen befeuerten die ständige Angst vor dem Verlust des eigenen Wohnraums und erzwangen eine heute kaum vorstellbare Mobilität der Arbeiter*innen. Die Widrigkeiten riefen allerdings auch Widerstände hervor. Die Zwangsräumung des Tischlers Ferdinand Hartstock brachte schliesslich das Fass zum Überlaufen.

Weipert schildert kenntnisreich, wie der Protest gegen die Räumung in dreitägigen Krawallen mit Hunderten Verletzten mündete. In der anschliessenden Analyse macht der Historiker den entscheidenden Grund für die folgenlose Niederschlagung des Protests aus: Der fehlende organisatorische Rückhalt der Mieter*innenschaft, der dafür sorgte, dass die spontanen Proteste schnell zerrieben wurden.

Die Organisierung der Mieter*innen in Räten und Vereinen während der Weimarer Republik steht im Zentrum des Beitrags von Henning Holsten und Stefan Zollhauser. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stellte sich die Wohnungsfrage von neuem. „Ein Mietervertrag wurde zu einem schützenswerten und zu verteidigenden Gut“ (S. 29), erklären Holsten und Zollhauser den massenhaften Zulauf zu den Mietervereinen. Gleichzeitig erlebte die Mieterbewegung eine Spaltung. Auf der einen Seite standen die reformorientierten Mieterorganisationen, die teils nationalistische Töne anstimmten. Auf der anderen Seite bekamen die auf Selbsthilfe setzenden und häufig kommunistisch orientierten Mieterräte immer mehr Zulauf. Die KPD versuchte, die sich zuspitzende Wohnungsfrage in den Wirren der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise für eine Radikalisierung der Mieterbewegung zu nutzen und ihre Basis zu verbreitern.

Der Beitrag macht deutlich, wie die Kommunist*innen gemeinsam mit den Mieter*innen über eine Strategie der kleinen Erfolge, wie etwa erkämpfte Mietminderungen oder die Rücknahme von Kündigungen, immer mehr Zuspruch in der Mieterschaft gewannen. Diese Strategie taucht aktuell auch in der Debatte um eine stärkere Basisorganisation in der gesellschaftlichen Linken wieder auf. Initiativen gegen Zwangsräumungen und Widerstände gegen Mietsteigerungen durch Modernisierungen setzen ebenfalls an der direkten Betroffenheit und Alltagserfahrung der Menschen an.

Zu diskutieren wäre im Hinblick auf die historischen Erfahrungen, ob es heute nicht an einer politischen Organisation fehlt, die die vielen Einzelforderungen zu einer grösseren, antikapitalistischen Erzählung zusammenführt und eine langfristig arbeitende Basis der Organisierung bildet. Die Erfahrungen vieler Basisaktivist*innen, sich im „Klein-Klein“ des Handgemenges zu verlieren, und das Auslaufen der Aktivitäten protestierender Mieter*innen nach einiger Zeit illustrieren diese Leerstelle eindrücklich.

Leerstelle Nationalsozialismus

Im nationalsozialistischen Deutschland wurde die Mieterbewegung zerschlagen und die Mieterorganisationen gleichgeschaltet. Im Sammelband klafft für die Zeit des deutschen Faschismus eine Lücke. Dabei wäre ein Beitrag sehr interessant gewesen, der sich mit dem Verbleib der kämpfenden Mieter*innen, der Gleichschaltung und Eingemeindung der Mieterverbände in den NS-Staat oder Widerstandshandlungen aus einzelnen Häusern heraus beschäftigt.

Die Erzählung des Buchs setzt erst wieder in den protestreichen 1960er und 1970er Jahren ein. Beiträge dokumentieren den Übergang von der Kahlschlagssanierung zur behutsamen Stadterneuerung, die Instandbesetzungbewegung in West-Berlin und die selbstorganisierten Kämpfe von Migrant*innen um ihr Recht auf Stadt. Max Welch Guerra von der Bauhaus-Universität in Weimar widmet sich mit einem sehr lesenswerten Artikel der Unterschriftenkampagne gegen die Aufhebung der Mietpreisbindung für Altbauten in West-Berlin und umkreist dabei die wohnungspolitische Sondersituation der geteilten Stadt.

Die Massenaktion gegen den sogenannten „Weissen Kreis“, der jene Städte kennzeichnete, in denen die Mietpreisbindung aufgehoben war, kann als Vorläufer der heutigen Volksentscheidskampagnen gelten. Trotz grosser Zustimmung in der Bevölkerung konnten sie den Übergang von einer politisch festgesetzten Miete mit klar zuweisbaren Verantwortlichkeiten hin zu einer anonymen, von scheinbar naturwüchsig marktwirtschaftlichen Mechanismen bestimmte Miete nicht verhindern. Die Entpolitisierung der Wohnungsfrage war die Folge, welche nur durch die vehementen Mieter*innenkämpfe der letzten Jahre wieder repolitisiert wurde.

Andreas Hüttner und Azozomox graben in einem Artikel die fast vergessene Geschichte der Mieter*innenproteste im Märkischen Viertel (MV) aus. In der zwischen 1964 bis 1974 errichteten Stadtrandsiedlung entzündeten sich Konflikte nicht mehr wie zu Zeiten der Wohnungsnot um das „Ob“ überhaupt Wohnen, sondern um das um das „Wie“. Eine Konstellation, wie sie für die sozialstaatlich-autoritär verwaltete Stadt des Fordismus typisch war. In der Stadtrandsiedlung fehlte es an sozialer Infrastruktur für die häufig kinderreichen und armen Bewohner*innen. Als Reaktion bildeten sich dutzende stadtpolitische Initiativen im Viertel.

Hüttner und Azozomox schildern, wie politisierte Studierende aus der APO und linke Gruppen Stadtteilzellen und die Märkische Viertel Zeitung gründeten und Mieterräte einberiefen. Die Autor*innen verweisen dabei auch auf die dokumentierten Aktivitäten von Ulrike Meinhof im MV. Im von den Autor*innen erwähnten „vorläufigen Strategiepapier MV“ analysierte Meinhof die Klassenzusammensetzung und Bedürfnisse der Bewohner*innen des Viertels. Daraus leitete sie die strategische Überlegung ab, sich auf die Forderung nach einem Jugendzentrum zu konzentrieren, denn „die Bereitstellung von Räumen für Jugendliche [...] wäre überhaupt erst der Anfang der Zusammenarbeit mit Jugendlichen“ (Meinhof 1970). Ähnliche Überlegungen wurden auch im Vorfeld der derzeit aus dem Boden spriessenden Stadtteilläden angestellt, die Ausgangspunkt einer neuen Organisierung von unten werden sollen.

An dieser wie an vielen anderen Stellen beweist das Buch eine grosse Aktualität. Gleichzeitig stellt man mit etwas Ernüchterung fest, dass viele der heute diskutierten Strategien bereits ausprobiert wurden und in ihrem Ziel scheiterten, die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse zu überwinden. Dabei reift die Erkenntnis über die enormen Integrationskräfte der kapitalistischen Stadt, die Proteste für eine Intensivierung der urbanen Mehrwertproduktion und einer Einhegung von Widerständen produktiv nutzbar macht.

Dennoch oder gerade deshalb ist der Sammelband so lesenswert. Hinzu kommt die bunte Mischung der Autor*innen – bestehend aus Journalist*innen, Historiker*innen und Wissenschaftlicher*innen, von denen sich viele selbst als kämpfende Mieter*innen in die Stadt einbringen. Offen bleibt, inwiefern sich die gemachten Erfahrungen angesichts neuer Phänomene wie der wachsenden urbanen Digitalwirtschaft und der Touristification ganzer Stadtteile auf heutige Strategien der stadtpolitischen Bewegung übertragen lassen und wie es gelingen kann, die grosse Diversität der heutigen Mieterproteste zu einem linken gegenhegemonialen Projekt zu verbinden, das die neoliberale Stadtpolitik grundsätzlich überwindet.

Philipp Möller
kritisch-lesen.de

Philipp Mattern (Hg.): Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – das Beispiel Berlin. Bertz + Fischer, Berlin 2018. 208 Seiten. ca. 19.00 SFr. ISBN: 9783865057495

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