Paul Helfritzsch: Gefragt durch Andere Keine Inseln im Meer

Sachliteratur

Kann es Solidarität geben? In einer philosophischen Suchbewegung wird nach einem Miteinander, Nebeneinander und Füreinander gesucht.

Demonstration von Kurden in Köln, Oktober 2014.
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Demonstration von Kurden in Köln, Oktober 2014. Foto: image_author

31. Oktober 2021
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„Gefragt durch Andere“ von Paul Helfritzsch setzt die Suche nach Strukturen und Darstellungsformen fort, in denen ein Füreinander möglich und das Gegen- und Nebeneinander zurückgedrängt wäre, eine Suche, die Helfritzsch in „Als Andere unter Anderen“ (2020) begonnen hat.

Eingreifendes Denken und trotziges Festhalten

Seine Arbeit – das wird deutlich – will Helfritzsch als ein eingreifendes Denken verstehen und begibt sich dafür auf die Suche nach einer solidarischen, grazilen, einer feinfühligen und um ein wahrhaftes Füreinander bemühten Haltung. In fünf Essays ergründet er, wie soziale Strukturen als formgebend für unser Tun, unser Denken und Sprechen wirken. An Anschaulichkeit gewinnt der Text durch detailliert beschriebene, situative Beispiele: eine universitäre Prüfungssituation, das Lesen eines Buches, das Nutzen einer App oder die Aufschrift auf dem Papierstück am Ende eines Teebeutels.

Sein Buch beginnt er mit dem Thema der Andersartigkeit und den verschiedenen Formen, in welchen wir als Andere unter Anderen sein können: das Nebeneinander, das Gegeneinander und das Füreinander. In phänomenologischer Tradition spricht Helfritzsch gegen ein Verständnis des Subjekts als Monade an: Wir sind keine vereinzelten Inseln in einem grossen Meer, die ab und an miteinander kollidieren, sich vergleichen und dann wieder auseinanderdriften können.

Die Anderen sind die Bedingung unserer eigenen Möglichkeiten zu handeln, zu denken, zu sprechen – die historische und soziale Lage, in die wir hineingeboren wurden, formen unser Welt- und Selbstverhältnis. Mit dem Modell des Stolperns will Helfritzsch eine Erfahrung konzeptualisieren, in der das Bestehende und unsere Gewohnheiten ins Wanken geraten. Gegenüber dem souveränen Stand, den wir zuvor vermeintlich innehatten, tritt nun ein Ungleichgewicht ins Leben ein. In der Erfahrung des Stolperns werden wir des Abstands oder auch des Widerspruchs gewahr zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte.

Die Schwere der Aufgabe besteht dann darin, an diesen Ereignissen, die uns ins Stolpern bringen, trotzig festzuhalten und die durch sie erforderten Veränderungen und Antworten gestaltend im eigenen Leben umzusetzen. „Das Prinzip Trotz“ (S. 39) ist eine Widerstandsgeste, die der ständigen Wiederholung bedarf, um jenen Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken, die sich in unserer alltäglichen Erfahrungswelt sedimentiert haben und die meiste Zeit unsichtbar bleiben.

Von Landnahmen und Aufständen

Der Essay „Vermittelt durcheinander“ befasst sich mit der Spannung zwischen demokratischen Gründungsabsichten und der kapitalistischen Landnahme digitaler Netzwerke, während es Helfritzsch im daran anschliessenden „Mehr Werte für wen?“ unter anderem darum geht, die wechselseitige Vermittlung von Politik, Ökonomie, Kultur und der Sphäre des Privaten herauszustellen. Corona verdeutliche – so seine plausiblen Ausführungen – einmal mehr, dass die Trennung von Politik, Ökonomie und Gesellschaft eine analytische, eine abstrakte sei, während die Bereiche in Wahrheit durcheinander vermittelt sowie vielfach miteinander verschränkt seien. Die Widersprüche zwischen diesen Sphären und ihren jeweiligen normativen Eigenlogiken böten ihrerseits Stolpergründe, die zu emanzipatorischen Veränderungen in Form von Anerkennungs-, Umverteilungs- oder Demokratisierungsprozessen führen könnten.

Nancy Frasers Ausführungen (2017) ergänzt Helfritzsch um das Konzept des Aufstandes, dessen Möglichkeit er im Bereich des Privaten verortet. Der vorletzte Essay „Erlittene Subjektivität. Unterwerfung, Beleidigung, Verantwortung“ ist ein Versuch, die Bedingungen der Subjektivierung im Anschluss an Louis Althussers Anrufungstheorie zu konkretisieren und zu erweitern. Im letzten Essay „Die Manifestation der Unterschiede“ versucht Helfritzsch eine Kritik an der maskulinen Identität und der maskulinen Identitätspolitik zu formulieren.

Differenzen aufzeigen, anstatt sie zu glätten

Insgesamt ist in Helfritzschs Essaysammlung eine Spannung festzustellen, die sich in vielen poststrukturalistischen Theorien findet – eine Spannung zwischen das Ganze der Gesellschaft betreffenden, systemtheoretischen Thesen und solchen, die einen identitätspolitischen oder auch klassentheoretischen Weg einschlagen. Helfritzsch vermeidet es, diese Konfliktlinie zu thematisieren – dabei müssten an ihr die politischen und praktischen Konsequenzen seiner Thesen ausbuchstabiert werden. Auch die Ambivalenz der digitalen Landnahme lässt der Autor undiskutiert: Für die Ungesehenen und Ungehörten Räume zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, sich politisch wirksam darzustellen, ist in diesen Tagen, in denen die Spaltungslinien der Gesellschaft sich vertiefen, von unbedingter Bedeutung. Zugleich sind diese Räume ambivalent.

Beispielsweise ist die Kommodifizierung der sozialen Netzwerke und die Degradierung der Benutzer*innen zu ausbeutbaren Konsument*innen nicht nur ein Prozess der Vereinheitlichung, der Produktion von Konformismus und der „Auflösung der Andersheit“ (S. 63). Gerade die Andersheit und ihre Darstellung können sich unter dem Aspekt des Alleinstellungsmerkmales als originell oder authentisch oder exotisch auf dem Markt gut verkaufen und verkauft werden. Konformismus und Individualismus gehen hier Hand in Hand, die zunehmende Berechenbarkeit der Konsument*innenmasse geht mit der Streuung und Be-Werbung ihrer Unterschiede einher.

Freiheit – wovon und wozu?

In vielen Passagen verwendet der Autor die Begriffe Macht oder Unterdrückung trotz des poststrukturalistischen Hintergrundes sehr traditionell: Macht als Repression. Der herausfordernde Gedanke bestünde dementgegen darin, Machtstrukturen auch noch dort zu erkennen, wo sie positive und ermächtigende Wirkungen zeigen. Doch verbleibt Helfritzsch an vielen Stellen innerhalb alter Muster. Daraus ergeben sich auch Konsequenzen für das Freiheitskonzept: Obwohl Helfritzsch betont, dass es ihm nicht nur um private, negative Freiheit geht (Freiheit „von“), sondern auch um positive Freiheit (Freiheit „zu“), tritt in seinen Ausführungen vorrangig die Forderung nach negativer Freiheit in Erscheinung, über die Marx höhnisch schimpfte:

Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem andern unschädlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade. […] Jene individuelle Freiheit […] [bildet] die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden. (MEW 1, 364)

Helfritzschs Konzept des Füreinander, das sich gegen die Monadenvorstellung ausspricht, gewänne an Plausibilität, wenn er die positiven Aspekte der Freiheit stärker betonen und ins Zentrum rücken würde.

Kritik als Selbstkritik

Was dieses Buch insgesamt jedoch überaus lesenswert und erfrischend macht, ist die Ablehnung einer verobjektivierenden Distanznahme. Helfritzsch kann und will sich in seinen eigenen Erwägungen nicht aus der Affäre ziehen – Frage und Gegenstand bringen ihn selbst notwendig mit ins Spiel. Was er sich zu fragen vorsetzt, betrifft und befragt ihn selbst zugleich als Fragenden, steht ihm nie äusserlich oder gleichgültig gegenüber. Sein Buch ist als Plädoyer für die theoretische wie praktische Infragestellung einer Normalität zu lesen – eines alltäglichen Neben- und Gegeneinanders –, die von sich aus den Schein generiert, alternativlos und unveränderbar zu sein.

Helen Akin
kritisch-lesen.de

Paul Helfritzsch: Gefragt durch Andere. Über digitale Vernetzung, Wertschöpfung, Pathos & Identität. transcript Verlag, Bielefeld 2021. 203 Seiten. ca. 34.00 SFr., ISBN: 978-3-8376-5472-1

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