Niki Kubaczek / Monika Mokre (Hrsg.): Die Stadt als Stätte der Solidarität Solidarität braucht Vorstellungskraft

Sachliteratur

Der grosse Sammelband ordnet die Kämpfe und Hoffnungen um die Solidarische Stadt in einer postmigrantischen Gesellschaft.

Resilient house community.
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Resilient house community. Foto: Map crew eberswalde (CC BY-SA 4.0 cropped)

14. Oktober 2021
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Auch wenn kritische Wissensproduktion sich ihre Gegenstände gesellschaftlichen Erfordernissen gemäss suchen sollte, unterliegt sie, durch Aufmerksamkeits- und Verwertungsökonomien, Trends und Theoriemoden. Ursprünglich komplexe Konzepte verkürzen sich zu Schlagworten. So erging es zuletzt der „Autonomie der Migration“, den „Commons“ und den „Solidarischen Städten“. Der von Niki Kubaczek und Monika Mokre herausgegebene Sammelband „Die Stadt als Stätte der Solidarität“ versucht Hoffnungen zu ordnen, die mit der Idee der Stadt als besonderem Ort postmigrantischer Widerständigkeit und Solidarität verknüpft sind, und hinterfragt kritisch die Praxis von Aktivist_innen in der Unterstützungsarbeit für Flüchtende.

Daneben stellt das Buch eine Vielzahl von politischen Kämpfen dar, die als (urbane) solidarische Infrastrukturen verstanden werden können. Die dreizehn Texte bieten Material zur Geschichte des Kirchenasyls, den Frühstücksprogrammen der Black Panthers, dem Alltag der zivilen Seenotrettung oder den Kämpfen gegen Bildungssegregation in Ungarn. Diskutiert werden die lokalen Praxen im Rahmen breiter gefasster Fragen, die sich quer durch die Beiträge ziehen und aus denen sich ein paar Thesen zusammenfassen lassen.

Solidarität in der postmigrantischen Gesellschaft

Der Band ist vielfach eine Selbstreflexion antirassistischer Arbeit seit dem Sommer der Migration 2015. Im massenmedialen Diskurs wurde die „Willkommenskultur“ ins Kollektiv der guten Deutschen/Österreicher eingemeindet, doch in den Initiativen selbst traten radikale Ungleichheitsverhältnisse zutage. Wo Solidarität normalerweise auf Wechselseitigkeit beruht, entstanden Erwartungen der Dankbarkeit, die schnell enttäuscht wurden. Die behördlichen Blockaden projizierten viele Engagierte auf die Geflüchteten und legten diesen das Scheitern der Bemühungen zur Last.

Im City Plaza in Athen bestanden diese Ungleichheiten dank spalterischer EU-Migrationspolitik auch zwischen Migrant_innen, sodass eingeübte Konkurrenz ein solidarisches Miteinander unterminierte. Die Bewohner_innen fanden jedoch Umgangsweisen – feste Pflichten für das Gemeinsame machten Migrant_innen und Aktivist_innen zu Mitgliedern einer Gemeinschaft: Für die Bewohner_innen bedeutete dies eine „Form der politischen und sozialen Emanzipation im Alltagsleben“ (S. 58).

Auch die Idee der Solidarischen Stadt verspricht eine gegen nationale Brüderlichkeit gerichtete Gemeinsamkeit. Als antirassistisches Projekt soll sie Ausweg sein aus den „alltäglichen Ausschlüssen und Grenzziehungen“ (S. 207).

Die genaue Ausgestaltung ist vielerorts ein Suchprozess – städtische Ausweispapiere (wie beispielsweise in New York oder Zürich) können den Zugang zu kulturellen und sozialen Institutionen öffnen und urbane Vielfalt „gegen die Idee der Nation [einbringen], weil die Stadt immer schon offensichtlich macht, dass das Gemeinsame nie homogen gewesen ist“ (S. 215). Diese Betonung von Heterogenität verweist auf die problematische Romantisierung von Subalternität.

In antirassistischen Initiativen geschieht es nicht selten, dass Rassismuserfahrungen mit einer emanzipatorischen Haltung gleichgesetzt werden. Doch natürlich wählen auch Menschen mit Migrationsbiographien FPÖ, AfD oder sind aktiv bei den Grauen Wölfen. Daher müsse es darum gehen, die solidarische Stadt zu entwerfen „nicht als Romantik, sondern als ganz realer […] Kampf um ein schönes Leben für alle“ (S. 228).

Im postfaschistischen Konglomerat Deutschlands/Österreichs umschliesst dies, antirassistische und antifaschistische Arbeit zusammen zu denken, sowohl antimuslimischen Rassismus als auch politischen Islam zu bekämpfen, so Avraham und Kubaczek. Solidarität müsse ohne Wunsch nach einer gemeinsamen Geschichte auskommen, ohne davon auszugehen, dass die postmigrantische Gesellschaft ein Auflösen von Ungleichheit oder ideologischer Grausamkeit in harmonische Vielfalt bedeutet. Solidarische Infrastrukturen

Der Blick auf Verstetigung, den viele Beiträge verfolgen, verdichtet sich im Begriff der solidarischen Infrastrukturen, die sowohl die wenig sichtbare Basis von politischen Kämpfen meinen, als auch Institutionen, in denen sich Solidarität dauerhaft organisiert.

Im Beitrag zur Kampagne gegen Racial Profiling wird das Konzept in seiner ersten Bedeutung vorgeschlagen. Mohamed Wa Bailie hatte sich gegen eine willkürliche Polizeikontrolle zur Wehr gesetzt und verlor das Gerichtsverfahren, doch in der Kampagne sind zahlreiche Infrastrukturen der Solidarität entstanden, die die Aktivitäten erst ermöglicht hatten: (Gegen)Wissen, neue Widerstands- und Fürsorgepraxen. Mohamed selbst beschrieb die Solidarität als Befreiung und dieses „Empowerment“ sei Resultat der Infrastrukturen der Solidarität.

Ähnlich beschreibt Maurice Stierl von Watch the Med – Alarmphone die Ermöglichung politischen Handelns durch Infrastrukturen. Zwar hat das Alarmphone schon über 6.000 Boote in der Seenotrettung begleitet, doch handelt es sich um weit mehr als ein auf den Seeraum begrenztes Projekt. Es schafft Verbindungen zwischen dem Mittelmeer, den Häfen, den Städten. Letztere seien „Knotenpunkte der unautorisierten Migration“, die sich zu „Infrastrukturen der Bewegungsfreiheit“ verknüpfen (S. 37).

Letzterem zuzuordnen sind die politischen Projekte der solidarisch-kollektiven Produktion und Verteilung von Lebensmitteln in marginalisierten Stadtvierteln. So gaben die Black Panthers in den 1970ern in den USA kostenfreies Frühstück aus, um die Nachteile schwarzer Schüler_innen auszugleichen. Bei den in Kuba angesiedelten Organopónicos handelt es sich um circa 7.000 urbane Gärten, die genossenschaftlich Lebensmittel erzeugen. Ernährungssouveränität im Sinne des Aufbaus solidarischer Infrastrukturen wird hier als ein radikales Projekt verstanden, welches die Eigentumsverhältnisse von Produktionsmitteln (Boden) berührt.

Auf solidarische Potentiale im Bereich sozialer Reproduktion schauen die Rom_nja-Aktivist_innen von Ame Panzh: inklusiver öffentlicher Personennahverkehr, Projekte gegen Bildungssegregation, feministische Stadtplanung oder Repräsentation im öffentlichen Raum, die dem Vergessen der Vernichtung der Rom_nja im Nationalsozialismus und danach entgegenwirkt. Der Titel ihres Textes – „Die solidarische Stadt braucht Vorstellungskraft“ – bündelt dabei, was der Sammelband im Ganzen versucht: selbstorganisierte Infrastrukturen zu beleuchten, um von der Praxis aus Vorstellungskraft für eine andere Gesellschaft zu entwickeln.

Vorstellungskraft entwickeln

Lesenswert macht das Buch die Vielfalt der Beiträge, Textsorten und Beispiele. Die Gespräche mit Akteur_innen solidarischer Infrastrukturen lockern die akademische Strenge auf und ziehen lose Fäden zusammen. Der Band bietet eine spannende, aber ob der geschilderten Verhältnisse auch bedrückende Lektüre.

Die Beiträge wagen sich an Themen, die im kurztaktigen Rhythmus und aus Sorge vor blockierenden Konfrontationen im Aktivismus öfters umgangen werden. So findet eine kritische Auseinandersetzung mit Critical Whiteness-Diskussionen statt: Solche Verständnisse von Ungleichheit begreifen „die Materialität von Rassismus als schlechte Manieren […], die man sich abtrainieren könnte“ (S. 136), statt sich solidarisch gegen strukturelle Verankerungen zu organisieren. Marginalisierte Subjektpositionen sind eben kein Abonnement auf die Wahrheit.

Ganz heraus kommen einige Texte jedoch nicht aus einem Duktus, der zur Verklärung subalterner Sprechpositionen beiträgt und Ungleichheit als Differenz ohne emanzipatorische Transformationsperspektive festschreibt (bei Zaman, Tsianos und, teilweise, Avraham und Kubaczek).

Das oftmals als positiv gesetzte Heterogene der Stadt ist eben auch tiefe gesellschaftliche Ungleichheit. Politische Praxis sollte nicht ausschliesslich Homogenität dekonstruieren und auf die Anerkennung von Mannigfaltigkeit abzielen, sondern Veränderungen auf den Weg bringen.

Die politischen Visionen des Buches bleiben jedoch häufig auf versprengte Kämpfe der Selbstorganisierung beschränkt, denn emanzipatorische Horizonte in den Blick zu bekommen ist schwierig; gerade aus der fragilen Ausgangslage in vielen antirassistischen Kämpfen, in denen wenig Zeit bleibt für Fragen nach einer solidarisch-emanzipatorischen Zukunft: Wie sieht die Stadt aus, die Ankommen, Weggehen, bedürfnisorientiertes Leben ermöglicht, Mobilität nicht erzwingt?

Wie sieht die Stadt aus, in der statt sinnbefreitem Lohnarbeitszwang Lebensmittelproduktion, Sorgearbeit, medizinische Leistungen, Bildung basisdemokratisch organisiert werden? Wie ist eine urbane Selbstverwaltung beschaffen, die Not und Prekarität überwindet? Der Band liefert viele Impulse, doch die gemeinsamen Strategien, um über die rassistische, patriarchale, post-faschistische Gegenwart eines autoritären Kapitalismus hinauszugelangen, diese Vorstellungskraft, gilt es noch zu entwickeln.

Norma Tiedemann
kritisch-lesen.de

Niki Kubaczek / Monika Mokre (Hrsg.): Die Stadt als Stätte der Solidarität. transversal texts, Wien 2021. 313 Seiten, ca. 19.00 SFr, ISBN 978-3-903046-26-9

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