Milo Probst: Für einen Umweltschutz der 99%. Eine historische Spurensuche. Eine anarchistische Perspektive auf die radikale Ökologiebewegung

Sachliteratur

Als ich das neu erschienene „Für einen Umweltschutz der 99%“ des Schweizer Historikers Milo Probst in die Hand nahm, war ich zunächst skeptisch.

Eine anarchistische Perspektive auf die radikale Ökologiebewegung
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Eine anarchistische Perspektive auf die radikale Ökologiebewegung Foto: Cover zum Buch.

17. März 2022
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Handelte es sich dabei um ein verkürzt gedachtes Wir-gegen-die? Würde die Flugschrift eine energische oder naive Handlungsaufforderung sein – welche sich aber nicht ernsthaft der katastrophalen sozialen und ökologischen Situation stellt, in welche uns die herrschende Klasse hineinmanövriert hat? Sollte das Buch darauf abzielen, ein linksliberales Milieu mit einem schlechten Gewissen dazu zu motivieren, sich politisch zu engagieren oder am Ball zu bleiben?

Doch selten kann ich sagen, dass mich ein Autor so mitgerissen und überzeugt hat. Probst gelingt es, die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Revolution zu verdeutlichen und dazu an der Herausbildung eines pluralen und intersektionalen Kollektivsubjektes zu arbeiten. Er bedient sich dazu einer selbstreflektierten und pointierten Schreibweise, mit der gesellschafts- und herrschaftskritische Theorie, sein Kerngebiet der Geschichtswissenschaften wie auch Erfahrungen aus der zeitgenössischen Klimagerechtigkeitsbewegung gelungen miteinander verknüpft werden.

Intersektionalität muss praktisch sein

In einem einleitenden Kapitel umreisst Probst zunächst in einer verständlichen Sprache seinen Ansatz, positioniert sich als Anarchist und zeigt zugleich, dass sein Denken durch eine intensive akademische Beschäftigung geprägt ist. Die sieben folgenden Kapitel handeln von der Wiederaneignung des utopischen Denkens und der Erschliessung eines progressiv-emanzipatorischen Verständnisses von Natur- und Umweltschutz. In ihnen geht es um die Schnittpunkte der ökologischen Frage mit Klassenkämpfen („Umweltschutz der Armen“) und Antirassismus („abolition ecology“), mit Feminismus („Ökologie der Sorge“), der Eigentumsfrage bzw. der Vergesellschaftung („Commoning“) und einer postkolonialen Dezentrierung des eurozentristischen Blicks.

Die überschaubaren Abschnitte beginnen jeweils mit einem fokussierten Einstieg, welcher es ermöglicht, den geschichtswissenschaftlich erschlossenen Themengebieten zu folgen. Diese werden illustriert mit den Erfahrungen des argentinischen Anarchisten Pierre Quiroule, welcher Tiere in sein Solidaritätsverständnis mit einschloss; mit dem gegen Luftverschmutzung engagierten Sozialisten Edward Carpenter und durch Maximiliano Tornet, einen verbannten kubanischen Unabhängigkeitskämpfer, der Ende der 1880er-Jahre in Südspanien einen ökologischen Arbeitskampf anführte. Weiterhin lesen wir von Joseph Cinques, der mit anderen entflohenen Sklav*innen in Maroon-Gemeinschaften ein Interesse an der Erhaltung eines Waldes als Schutzraum hatte; von Louise Michel, die neuartige Beziehungen zur Natur knüpfen konnte, und von der mexikanischen sozialen Revolution, welche das eurozentrische Revolutionsverständnis in Frage stellte.

Geschichte lebendig erforschen und beschreiben

Diese Verbindung aus biografischen Erzählungen und ihren historisch-gesellschaftlichen Kontexten, der Fokus auf anarchistisch inspirierte Personen und Lebenswelten bei Einbeziehung der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist eine bestimmte Weise des historischen Denkens, die Probst sich angeeignet hat. Dass er darüber hinaus die einzelnen Themengebiete, Perspektiven und Umgebungen in der globalen ökologischen Frage zusammenführt, zeigt den umfassenden sozial-revolutionären Anspruch, welchen er in seine Herangehensweise legt. Dies zu entwickeln, gelingt dem Autor, weil sein Denken gleichermassen durch eine umfangreiche Kenntnis der anarchistischen Geschichte wie durch Eindrücke aus zeitgenössischen Debatten und sozialen Bewegungen geprägt ist.

Statt tote Geschichte zu deuten, arbeitet er auf fundierte Weise deren Bedeutung für die Kämpfe der Gegenwart heraus. So kann schliesslich auch mit drei fest verankerten Vorurteilen aufgeräumt werden: Erstens sind ökologische Fragen keine, die erst nach der so genannten postmateriellen Wende in den 1970er-Jahren gestellt wurden. Vielmehr kamen sie bereits im 19. Jahrhundert auf.

Zweitens wurden Umweltthemen nicht nur in progressiven oder auch konservativen Milieus des Bürger*innentums, sondern ebenso von proletarisierten und bäuerlichen Zeitgenoss*innen behandelt – die freilich andere Perspektiven auf sie entwickelten. Daran anknüpfend räumt Probst, drittens, mit der falschen Vorstellung auf, ökologische und soziale Probleme könnten getrennt voneinander betrachtet werden. Wenn das in vergangenen Zeiten getan wurde, dann – ähnlich wie heute – durch die herrschenden Klassen, welche rebellische Subjekte gegeneinander ausspielen. (1)

Demnach wird auch der Anspruch verständlich, alle anderen Dimensionen von Herrschaft – das Patriarchat, den Staat, die weisse Vorherrschaft etc. – in das Projekt einer universellen (aber nicht eurozentrisch-universalistischen) menschlichen Emanzipation einzubeziehen und für libertär-sozialistische gesellschaftliche Alternativen zu ihnen zu kämpfen. Dies gelingt im besprochenen Buch und inspiriert nicht zuletzt anarchistische Theorie und Praxis.

Jonathan Eibisch

Fussnoten:

(1) Eine ähnliche Herangehensweise vertritt auch Jedediah Purdy in: „Die Welt und wir. Politik im Anthropozän“, Berlin 2020; siehe: https://www.untergrund-blättle.ch/buchrezensionen/sachliteratur/jedediah-purdy-die-welt-und-wir-politik-im-anthropozaen-6597.html

Zuerst veröffentlicht in: Graswurzelrevolution #466