Michel Onfray: Die reine Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird Ein (anti-)politischer Egoismus und Hedonismus

Sachliteratur

Es gab ein Buch, das mich in letzter Zeit nachdenklich gemacht hat. Und zwar Die reine Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird, von Michel Onfray, welches 2008 auf deutsch erschienen ist.

Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Onfray in São Paulo, Januar 2012.
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Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Onfray in São Paulo, Januar 2012. Foto: Fronteiras do Pensamento (CC BY-SA 2.0 cropped)

18. November 2020
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Interessant finde ich weniger die Inhalte an sich, sondern der Kontext, in dem es geschrieben ist. Denn Onfray startete gewissermassen als Anarchist. Sein erstes Buch (1989) war eine Studie zum französischen Individualanarchisten George Palante, welcher sich auf Stirner und Nietzsche bezog.

Onfray stellt sich explizit in diese individualanarchistische Tradition und formuliert davon abgeleitet eine vehemente Kritik an gängelnden, normierenden und repressiven Institutionen, sowie an jeglichen Ideologien, welche Einzelne zwingen und unterwerfen. Grosse Bekanntheit erlangte er mit seinem Buch Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss (2006) und wurde durch seine Schriftstellerei so erfolgreich, dass er 2002 eine Art Volkshochschule in Caen gründete, in welcher er seinen eigenen Stil ausprägen konnte.

Dieser besteht insbesondere darin, dass er die hedonistischen Strömungen der europäischen Philosophie als Tradition durch die Geschichte hindurch, in den Vordergrund stellt. Dazu schrieb er zwischen 2006 und 2013 einen Gegengeschichte der Philosophie in neun Bänden, von denen hier insbesondere der fünfte L'eudémonisme social – de Godwin à Bakounine interessant sein könnte. Wichtig ist zudem, dass Onfray sich als „Postanarchisten“ bezeichnet und aus dieser Position heraus eine vehemente Kritik an der EU, am Islam und an „liberalen“ Politikformen der Linken entwickelt – ohne deswegen jedoch das Subjekt der Klasse zu rehabilitieren.

Ausgehend vom Stil des vorliegenden Buches, entsteht der Eindruck, Onfray reduziert komplexe politische und philosophische Überlegungen, zu denen es verschiedene Ansichten gibt, auf eine möglicherweise unzulässige Weise. Anders gesagt: Er schreibt definitiv populärwissenschaftlich, um sich einen Namen zu machen und seine Bücher zu verkaufen. Dagegen ist nicht prinzipiell etwas einzuwenden, denn Schreiben kann ein Beruf wie jeder andere auch sein und Bücher zu produzieren, die sich verkaufen ist nichts anderes, als Musik zu machen, die sich verkauft.

Im Gegenteil begrüsse ich es, wenn bestimmte Inhalte, wie in diesem Fall die individualanarchistische Perspektive an eine breitere Öffentlichkeit vermittelt werden. Dazu ist eine Vereinfachung unumgänglich. Sie kann sogar ein strategisches Mittel sein, um in den öffentlichen Diskurs zu intervenieren, Kritik zu üben und Menschen für emanzipatorische Veränderungen zu mobilisieren.

Dennoch habe ich den Eindruck, Onfray ist der Erfolg zu Kopf gestiegen. Denn im Anliegen, seinen Einfluss weiter auszubauen, scheut er nicht davor zurück, mit Rechtsextremen zu kooperieren, um eine Spektren-übergreifende Front gegen die neoliberale Oligarchie zu bilden. Möglicherweise strebt er sogar selbst nach einem Posten im Zuge der nächsten französischen Wahlen. Dies ist insofern von Belang, als dass seine individualanarchistische Herkunft und Argumentation ausgeprägte anti-politische Stossrichtung aufweisen, welche er jedoch in die Formulierung einer dezidiert populistischen Politikform kanalisiert.

Auch wenn die politische Landschaft und Diskussion in Frankreich eine andere sein mag, begreife ich diese Konsequenz nicht und finde es bedauerlich, dass sich nicht mehr Intellektuelle wie er tendenziell autonomen Basisbewegungen zuwenden, anstatt doch wieder im Parteienzirkus mitmischen zu wollen. Meiner Ansicht nach prägt Onfray also wirklich einen spezifischen Stil und eine ungewohnte, populistische Politikform, die er weit verbreiten kann. Gleichzeitig ist vieles von dem, was er im vorliegenden Buch schreibt (beispielsweise eine grundlegende Kritik an der christlichen Sexualmoral, die Trennung von Körper und Geist, die Darstellung, dass wahrer hedonistischer Genuss und Selbstentfaltung für möglichst viele nicht durch die neoliberale Wettbewerbsgesellschaft realisiert werden können etc.) überhaupt nichts Neues.

Narizisstische Kränkung als Ausgangspunkt für eine radikale hedonistische Philosophie des Widerstands

Die reine Freude am Sein beginnt mit einem 44 Seiten langen Vorwort, in welchem Onfray im Wesentlichen seine traumatischen Erlebnisse schildert, die er zwischen zehn und 14 in einem katholischen Waisenheim des Salesianer-Ordens machen musste. Darauf möchte ich inhaltlich gar nicht im Detail eingehen, sondern nur betonten, dass ich es für legitim halte, das eigene Denken und die eigene Motivation, etwas verändern zu wollen, aus den persönlichen Erfahrungen, die oftmals auch persönliche Betroffenheiten beinhalten, heraus zu begründen.

Es entsteht im Wesentlichen der Eindruck, dass Onfray eine ausgeprägte narzisstische Kränkung erfahren hat, welche ihn konsequenterweise zur Beschäftigung mit Egoismus und darauf aufbauend dem Hedonismus führt. Als Eigenbrötler fühle ich mich persönlich mich davon zugleich angesprochen, als auch extrem genervt. Ich finde, es total out, seiner individuellen Kränkung noch positive Aspekte abgewinnen zu wollen und durch den Nihilismus zum wahren Leben zurück zu finden. Das habe ich schon hundertmal gehört. Was mich langweilt ist, dass die Überlegung dabei stehen bleibt, während der Egoist ja trotzdem nie den Hals voll kriegen und Erfüllung finden wird.

Damit tappt meines Erachtens auch der Hedonismus immer wieder in die Falle nicht grundlegend kapitalismuskritisch und aktivierend zu werden, sondern sich dort mehr oder weniger zu begnügen, wo die Einzelnen ihr persönliches Stück vom Glück erstritten haben. Das gekränkte Ego bestätigt sich somit in seiner Kränkung fortwährend selbst, anstatt diesen Zustand wirklich überwinden zu können. Dies nämlich würde bedeuten, seine gesellschaftliche Konstitution und Konstruktion als Subjekt zu begreifen und zu hinterfragen, anstatt in einem trotzigen: „So bin ich eben“ und „Ich habe auch das Recht zu geniessen und das nehme ich mir!“ zu verharren.

Gleichwohl ist das Subjekt, welches eine gesellschaftliche Problembeschreibung, eine Kritik daran und einen Ausweg daraus formuliert, stets Teil dieses Zusammenhangs und kann ihm nicht einfach entfliehen. Insofern kann ich Onfray durchaus als Produkt dieser Gesellschaft und als rebellisches Subjekt begreifen. Schwierig wird es dort, wo die Rebellion zum Selbstzweck individueller Selbstbestätigung und/oder Selbstbefreiung wird, wie es im Egoismus leider tendenziell angelegt ist. Um eine emanzipatorische Ausrichtung zu gewinnen, müsste eine ethische Wertbasis entwickelt und diese in einem kollektive Prozess verwirklicht werden. Dies jedoch widerspricht dem Egoisten, welcher in jeglichen Normvorstellungen bereits Zwang und Einschränkung wittert – unabhängig davon, wie sie zu Stande kommen.

Damit wird deutlich, dass ich mich hiermit von dieser Position abgrenzen will, sowohl was ihre theoretischen, als auch, was ihre praktisch-politischen Folgerungen angeht. Dennoch finde ich Stil und Inhalt von Onfrays Buch legitim und anregend.

I. Eine Landkarte des Elends

An dieser Stelle fasse ich deswegen das sechste und letzte Kapitel Eine herrschaftsfreie Politik zusammen.

Zu Beginn wendet sich Onfrey gegen das „imperiale liberale Denken“ und bestimmt den Liberalismus als klaren Gegner seiner Position (235ff.). Die neoliberale Politikform sei auch durch das Versagen und das Mittragen der Linken durchgesetzt wurden. Denn die

„sozialistische und regierende Linke […] [habe] die Truppen des liberalen Siegers ideologisch geeint und dabei auf Arroganz gesetzt, um ihre tatsächliche Zusammenarbeit durch verbalen Widerstand gegen die Modalitäten der Grundhaltung zu verbergen. Die Rechte hat keinerlei Probleme, ihr angestammtes Territorium zu feiern. Die Demokratie ist wirkungslos geworden“ (238).

Viele Alt-Linke stützten nunmehr das „System“, darunter auch Trotzkisten, Maoisten, Alt-Achtundsechziger, Althussianer usw.. Doch es gäbe auch

„nach wie vor eine Linke, die keinen Verrat begangen hat und den Idealen aus der Zeit vor der Machtausübung treu geblieben ist. […] Wie es aussieht, wird diese links bleibende Linke von ihren Gegnern nicht als linke Linke bezeichnet, sondern als links von der Linken, also als fundamentalistische Linke. Die semantische Verschiebung […] wird von den Liberalen betrieben, die sich bemühen, dieses Denken in Misskredit zu bringen und es den Utopien unreifer und verantwortungsloser Hirne zuzuordnen“ (239).

An dieser Stelle wird schon der Populismus Onfrays deutlich: Im Grunde genommen wären alle System-Lakaien geworden bis auf einige wenige, welche er nun aber unter den ‚ursprünglichen' Anliegen wieder vereinen möchte. Zweifellos trifft diese Kritik zu, denn viele Teile der Linken haben Regierungspolitiken unterstützt, organisieren sich selbst so, um an die Macht zu kommen etc.. Die Rede von ‚Verrat' ist jedoch unsinnig, weil sie politische Entwicklungen und Auseinandersetzungen auf eine vorrangige Frage der Haltung reduziert. Dazu dient auch, dass Onfray ‚den' Liberalismus als hassenswertes Lager darstellt, ihn jedoch völlig unbestimmt lässt, so als wäre es allen absolut klar, dass wir von einer ‚neoliberalen Oligarchie' beherrscht werden würden. Wenn ich diesen Begriff als extrem ausgeprägte Klassengesellschaft lese, würde ich ihm persönlich sogar zustimmen, wende damit jedoch ein bestimmtes Verständnis an, welches Onfray nicht voraussetzt.

Einen guten Punkt macht er allerdings, indem er schreibt, dass viele Leute tatsächlich von der bestehenden Ordnung und ihren Diskursen ausgeschlossen, marginalisiert und ausgebeutet werden , entweder nomadisierend und rechtlos oder sesshaft und unfrei wären. Hierzu ein längerer Eindruck:

„Millionen aus dem Gesellschaftskörper ausgeschlossene Menschen, ausgespuckt von der als demokratisch bezeichneten Denkungsart. Nie von jemandem vertreten, nirgends aufgerufen, unaufhörlich abgesondert, unsichtbar in den Welten der Kultur, der Politik, der Literatur, des Fernsehens, der Medien, der Werbung, des Kinos, der Reportagen, der Universität, der Verlage, aus der Sicht verbannt – die Oligarchen wollen nicht an die Existenz dieser Beweise erinnert werden, die als Ausgesonderte belegen, dass das System gut und mit voller Kraft funktioniert. Jede Rückkehr dieses Verdrängten versetzt sie in Wut, und sie erlauben sich alles, um es zu vernichten, zu verhindern und zu zerlegen. Und das natürlich auch unter Rückgriff auf radikal unmoralische Lösungen. Die Ablehnung dieses leidenden Anteils der Bevölkerung, das Scheinwerferlicht auf den sauberen Elendsgebieten der Erde, das Abreissen der Verbindung zwischen dem Intellektuellen und der Gesellschaft, die Verleugnung des schmutzigen Elends, der Zerfall der regierenden Linken, das verfälschte Ergebnis einer anarcho-liberalen Tendenz – deren Liberalismus gut zu erkennen ist, während der anarchistische Anteil völlig verborgen bleibt -, all das sorgt entweder dafür, dass man politischen Wahlentscheidungen fernbleibt, für reine Proteststimmen oder für ein weiteres Anwachsen des Nebels der extremen Rechten. Die Verleugnung des schmutzigen Elends bringt eine Wiederkehr des nihilistischen Verdrängten mit sich“ (S. 243f.).

Onfray spricht von einem „Faschismus im Kleinen“, welcher im Unterschied zum früheren nicht auf die direkte Übernahme der Staatsmacht durch einen Putsch abziele, sich jedoch ebenso auf eine mystische Volksgemeinschaft und transzendentale Körper wie Rasse, Volk, Nation oder Reich beziehe, mit denen das Privatleben dem Kollektiv geopfert werde (S. 245). Onfray hat ebenfalls Recht, wenn er schreibt, der Faschismus könne sich im liberalen, bürokratischen Europa als echte Alternative inszenieren – ein Prozess, der seit 2005 weiter fortgeschritten ist. Es sei ‚heute' eher der „Mikrofaschismus“ der sich wie ein Rhizom verbreite, denn die emanzipatorische gesellschaftliche Alternative. Was jedoch die genaueren Inhalte dieses Faschismus' sind, lässt Onfray wiederum im Unklaren.

II. Eine hedonistische Politik

Auf dieser Analyse aufbauend tritt Onfray für eine „hedonistische PolitiK“ ein. Er fragt sich, wo die Linke ist und feiert die Tradition des Links-Nietscheanismus, welchen er zu reaktivieren anstrebt. Dazu dient zunächst die – meines Erachtens nach plausible – Befreiung vom pauschalen Faschismusvorwurf. Mit dieser Herangehensweise könnten Familie, Lohnarbeit, Askese, Religion, Konsumgesellschaft, Staat und Nationalismus grundlegend kritisiert und stattdessen das Individuum gefeiert werden (249ff.). Um dies zu fördern scheinen neue

„Formen notwendig, in denen diese linke Nietzsche'sche Denkweise zu strukturieren ist. Ich plädiere für herrschaftsfreie Formen. In der Geschichte der politischen Ideen gilt die Tradition der anarchistischen Linken nicht viel. Erschüttern wir doch auch da die Geschichtsschreibung, die seit ziemlich langer Zeit die Geschichte des Anarchismus in einer Reihe von Klischees festmacht, welche es verdient haben, dass an sie hinter sich lässt“ (253).

Die anarchistische Geschichte, Theorie und Praxis erscheine Onfrays Ansicht nach inkonsistent, schwer greifbar und nicht zeitgemäss. Er nennt dabei Godwin, Stirner, Faure, Bakunin und Kropotkin als inspirierende Figuren, in deren Geist auch Foucault, Deleuze und Guatarri, Hardt und Negri gedacht und geschrieben hätten – ohne, dass sie sich selbst als Anarchisten bezeichneten. Dieser gängigen These stimme ich in Hinblick auf die der erst genannten zu, meine damit aber vermutlich dennoch einen anderen Anarchismus als Onfray. Diesem gilt als geschichtsphilosophischer – und ich denke damit : überhöhter – Bezugspunkt der Mai 68, welchen es zu vollenden gälte. Was ihn an diesem insbesondere inspiriert ist, dass durch die Proteste jener Zeit alte Hierarchien und Autoritäten insgesamt bröcklig und angreifbar und die alte Ordnung und Moral verachtet wurden.

Dann wirft Onfray aber wieder alles durcheinander, wenn er wettert:

„Beenden wir doch diesen in der Tat elenden Zustand. Konzentrieren wir uns besser auf eine an Gramsci orientierte Wiedereroberung der Linken, lahmgeworden wegen ihres Verzichts auf Ideen, auf den sie sich eingelassen hat, um sich jenen Meistbietenden verkaufen zu können, die ihr wieder den Genuss der Präsidialpaläste oder der Pfründe der republikanischen Macht ermöglichen“ (257).

III. Eine Praxis des Widerstands

Um dies zu erreichen sollen wir eine „Praxis des Widerstands“ entwickeln. Dies gälte, weil keine Vorstellung von Revolution und Aufstand mehr vorhanden seien. Nachvollziehbar finde ich die Aussage mit der Onfray vom Ereignis-Charakter von Revolution wegkommen möchte:

„Die Revolution besteht auch nicht in radikaler Veränderung, Abschaffung der Vergangenheit, nicht in einer tabula rasa. Es ist noch nie möglich gewesen, durch Zerstörung der Erinnerung etwas aufzubauen, was bleibt und Dauer verdient. Der Hass auf die Vergangenheit, die Geschichte, die Erinnerung – jene Symptome, unserer sich verfinsternden Epoche – erzeugt Trugbilder, Gespenster und unfruchtbare Geschichtsperioden. Bücherverbrennungen, bilderstürmende Erregung, brennende Häuser und Vandalismen verschiedener Art bringen uns der Bestialität näher, setzten aber keineswegs Fortschritte der Vernunft in Gang“ (260).

Es geht ihm um Revolution als Aufhebung im Sinne Hegels, nämlich mit ihr

„bewahren und darüber hinaus gegen – im dialektischen Prozess, der es erlaubt, sich auf das Gegebene, das Vergangene, die Geschichte, die Erinnerung zu stützen, um den Anstoss zu erhalten, der unter Beachtung dieses Ausgangspunktes darüber hinaus geht und neue Möglichkeiten der Existenz schafft. Diese Dialektik ist kein radikaler Bruch, sondern Überlappung und klare Evolution auf ferne Horizonte hin“ (260)

Dazu bezieht er sich auf Etiénne de la Boetie und führt im Wesentlichen das Revolutionsverständnis aus, welches Gilles Deleuze und Félix Guattari bereits dreieinhalb Jahrzehnte zuvor entwickelten. Theatralisch und die entscheidenden Begriffe (Faschismus, Liberalismus) im Unklaren lassend, agitiert er mit individual-anarchistischer Stossrichtung:

„Die Natur dieser Faschismen im Kleinen verpflichtet zu Widerstandshandlungen im Kleinen. Setzen wir angesichts der vielfältigen Erscheinungen negativer Kräfte doch Gegenkräfte ein, stoppen wir die Ausstrahlung dunkler Energie. Wir sollten nominalistisch denken: Der Liberalismus ist kein platonisches Wesen, sondern eine greifbare, in eine Gestalt gekleidete Wirklichkeit. Mit Vorstellungen kämpft man anders als mit konkreten Situationen. Auf immanentem Gebiet definiert sich revolutionäre Aktion durch die Weigerung, sich zum Triebriemen des Negativen machen zu lassen.

Hier und jetzt, nicht morgen oder in einer strahlenden, späteren Zukunft – denn morgen ist niemals heute… Die Revolution wartet nicht auf den guten Willen der grossen Geschichte, sie nimmt in vielfältigen Situationen an Orten Gestalt an, wo man sie in Gang setzt: in der eigenen Familie, in der Werkstatt, im Büro, beim Partner, zu Hause, unter dem Dach der Familie, sobald ein Dritter in eine Beziehung eintritt, überall. […] Nachdem Deleuze das Ende jeder möglichen Revolution durch einen Aufstand konstatiert hat, ruft er die Individuen dazu auf, revolutionär zu werden. Die Aufforderung behält ihre uneingeschränkte Wirksamkeit und ihr ganzes Potenzial“ (260f.).

Statt eine Gegenhegemonie aufzubauen oder sich in Kleingruppenaktionen zu verlieren, strebte Onfray eine Zusammenführung der verschiedenen vereinzelten Widerstandsakte an, denn die Haltung der Verweigerung sei gut und jene

„vereinzelte Aktion erlaubt es, ihre sofortige Unterdrückung anzugehen. Wenn man nicht zum Märtyrer berufen ist – nutzlos und kontraproduktiv –, wandelt sich Heldentum ohne Abstimmung mit anderen kostbare Energie in totalen Verlust um. Permanenter Widerstand ja, und wenn man sein Leben so eingerichtet, dass es nicht Teil des Funktionszusammenhangs der verhängnisvollen Maschine wird, umso besser. In der Realität aber muss man sich abstimmen, die Kräfte bündeln, die Chancen für einen Sieg der eigenen Kräfte vergrössern: verlangsamen, bremsen, zurückhalten, anhalten, die Maschine ineffizient und unbenutzbar werden lassen. Vom passiven Widerstand bis zur Sabotage“ (262f.).

Wiederum nichts Neues bietet er an, wenn er dazu Stirners Idee des Vereins der Egoisten sowie Sorels Betonung der Bedeutung der mythologischen Dimension von Politik ins Feld führt (263). Onfrays Vorstellungen von widerständigem Handeln, seiner Koordinierung und den damit verbundenen Zielen finde ich wenig überzeugend. So schreibt er, seine Schwammigkeit mit Poesie übertünchend:

„Die von den Liberalen aller Kontinente angestrebte – sofern es sich dabei nicht schon um eine Realität handelt… – Weltregierung fordert eine angemessene Abwehr heraus. Zunächst durch die Schaffung eines Ideals der Vernunft – das Rhizom des Widerstands – dann durch klar definierte Ziele – eine hedonistische Politik. Fortan verfügt man über ein Ziel und die Mittel, es zu erreichen. Diese Politik wird sich nicht dadurch moralisch stärken, dass sie grosse, nicht anwendbare Systeme erschafft, sondern indem sie kleine Dinge, fürchterlich wie ein Sandkorn im Getriebe einer perfektionierten Maschine, hervorbringt. Ende der unbescheidenen Geschichte, Beginn der bescheidenen, aber wirkungsvollen Geschichte.

Dieses Widerstandsrhizom entfaltet sich auf dem Gebiet des Einzelnen, in der Beispielhaftigkeit eines widerständigen Lebens oder der Anhäufung von Situationen des Widerstands – oder, weiter gefasst, in kollektiven Räumen, jenen der Vereinigungen von Egoisten. Die alternativen Netzwerke werden vom Moment ihrer spontanen, freiwilligen und überlegten Gründung an sofort nützlich. Die Übereinkunft zum Handeln in diesen Vereinigungen ist punktuell, wechselseitig, verlängerbar und kann jederzeit aufgekündigt werden. Eine solche Addition von Kräften muss sich damit begnügen, die zum passiven Widerstand oder zur Sabotage notwendige Energie anzustreben. Sobald die Wirkung erzielt ist, löst sich die Assoziation auf; sie zerfällt, und die Mitglieder verlieren sich in der Natur“ (264f.).

Das individualanarchistische Anliegen, freie, dynamische und aktive Assoziationen statt beispielsweise verkrusteter, statischer und eingesessener Gewerkschaften zu schaffen, hat zwar seine Berechtigung und seinen Sinn – wirkt jedoch merkwürdig ausverkauft, wenn es im Zusammenhang mit Onfrays schäumender Wutbürgerlichkeit steht.

Eigenwillig ist ebenfalls, dass er sich für die hedonistische Politik auf den hedonistischen Utilitarismus Jeremy Benthams bezieht und dies damit begründet, jede „hedonistische Politik sorgt sich um das grösste Glück der grössten Zahl. Dieses Ziel ist nach wie vor aktuell“ (267).

Seiner Vorstellung sei die

„hedonistische und herrschaftsfreie postmoderne Politik ist bestrebt, punktuell Bereiche zu schaffen, befreite Räume und nomadisierende Gemeinschaften, die nach den bereits genannten Kriterien errichtet werden. Keine nationale oder globale Revolution, sondern Momente, die den dominierenden Vorbildern fehlen. Die Revolution vollzieht sich in ihrem eigenen Umkreis, geht von sich selbst aus und bezieht ausgewählte Einzelne ein, an diesen brüderlichen Erfahrungen teilzuhaben. Diese auf Wahl beruhenden Gesellschaften im Kleinen setzen wirksame Widerstände im Kleinen ein, um die herrschenden Faschismen im Kleinen für den Augenblick in Schach zu halten. Die Ära kleinräumigen Denkens, in der wir uns befinden, zwingt zu permanenter Aktion und zu fortwährendem Einsatz“ (268).

Abgesehen davon, dass ich eine Orientierung auf lange Sicht hin inzwischen deutlich wichtiger finde, als das unbestimmte Hin- und Herhasten zwischen Hals- und Kopflosen Aktionen, empfinde ich auch hier wieder die Unbestimmtheit der Begriffe problematisch. Dies betrifft erneut das unklare Verständnis von „herrschenden Faschismen im Kleinen“. Werden sie nicht näher benannt können sich darin alle möglichen Personen wiederfinden.

Im Zweifelsfall jedoch definiert Onfray selbst, was als ‚faschistisch' gilt oder nicht. Seine narzisstische Kränkung ist dahingehend jedoch keine gute Ausgangsbasis. Zwar ist eine vehemente Kritik der erzwingenden und normierenden Aspekte staatssozialistischer Ansätze erforderlich. Dennoch ist keineswegs jede Norm-Setzung und ebenfalls nicht ihre Durchsetzung, – auch nicht tendenziell – ‚faschistisch', denn es kommt auf die dazu angewandten Mittel an, wer an diesem Prozess partizipiert und aus welcher Position heraus Menschen agieren.

Beispielsweise ist die selbstbestimmte Normsetzung und konsequente Durchsetzung von feministischen Positionen und Haltungen in einem bestimmten Raum nicht ‚faschistisch', nur weil ein Typ sich in seiner ‚Freiheit' eingeschränkt fühlt, sein T-Shirt nicht ausziehen oder Frauen anmachen zu dürfen. Das mag Leute nerven. Normsetzungen können mit Zwang einher gehen. Die Setzung und Verselbständigung bestimmter Moralregime kann und sollte kritisiert werden. Mit ‚Faschismus' hat dies aber nichts zu tun.

Dennoch kann ich nicht leugnen, dass ich der Schreibweise Onfrays auch hier und dort erliege, dass ich mich von ihm einstricken und verführen lasse, da ich mich mit grundlegenden Punkten identifizieren kann (z.B. auch der Kritik an der Linken). Nett, vehement, aber versöhnlich klingt es, wenn er schreibt:

„Das Streben nach einem besseren Staat, nach einer befriedeten Gesellschaft, einer glücklichen Kultur entspringt einem kindlichen Wunsch. In dieser Welt mächtiger liberaler Netzwerke wollen wir konkrete Utopien errichten, kleine Inseln, die man sich wie punktuelle, überall und bei jeder Gelegenheit, unter allen Bedingungen reproduzierbare Abteien der Thelemiten denken kann. Epikureische Gärten im freien Umherschweifen. Wo wir uns gerade befinden, wollen wir die angestrebte Welt herstellen und jene meiden, die abgelehnt wird. Politik der kleinen Schritt, gewiss, Politik in Zeiten des Krieges, klar, Politik des Widerstands gegen einen mächtigeren Feind als man selbst – aber immerhin Politik“ (268).

Die Suche nach Politik, Onfrays qualitativem Umschwung von Anti-Politik hin zu (Anti-)Politik entspringt aus einer nihilistischen, kleinteiligen Haltung heraus, welche durchaus im Individualanarchismus verbreitet bzw. in dieser Tradition verhaftet ist. Die Konsequenzen, welche er daraus zieht, teile ich jedoch nicht. Eine Auseinandersetzung mit ihm schien mir dennoch sinnvoll zu sein, insofern er sich selbst als Anarchisten bezeichnet – und auf dieser Basis kritisiert werden sollte. Abschliessend schreibt er:

„Die anarchistische Position bietet zu allen Gelegenheiten und unter allen Umständen eine existenzielle Praxis an. Eine Anarchie, welche die Gesellschaft nach den Grundsätzen eines vorher festgelegten Modells erzeugen wollte, bewegte sich unvermeidbar auf eine Katastrophe zu. Eine anarchistische Gesellschaft? Wahrhaft eine düstere und unwahrscheinliche Perspektive. Herrschaftsfreies Verhalten dagegen, und das auch in einer Gesellschaft, die angeblich die Anarchie verwirklicht – das ist eine ethische und damit politische Lösung! Denn das Ziel bleibt hier wie anderswo dasselbe: Individuelle und gemeinschaftliche Möglichkeiten für echte innere Ruhe und für effektive, gelassene Heiterkeit zu schaffen“ (269f.).

Jonathan Eibisch

Michel Onfray: Die reine Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird. Piper 2008. 272 Seiten, ca. 14.00 SFr ISBN: 978-3492051361