Lucas Zeise: Das Finanzkapital Globus der Geldschöpfung

Sachliteratur

Finanzmarkt, Finanzkapital, Finanzkrise sind Reizworte in linken Debatten. Wer eine kleine Einführung in das Thema sucht, ist hier gut aufgehoben.

Skyline in Frankfurt am Main mit EZB.
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Skyline in Frankfurt am Main mit EZB. Foto: Epizentrum (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

4. Oktober 2020
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Die letzten Wochen haben eine Weltwirtschaftskrise noch nicht abzusehenden Ausmasses eingeläutet. Seit der Entscheidung von Regierungen und Unternehmen, die Produktion und Zirkulation von Waren aufgrund der unklaren Folgen durch das grassierende Coronavirus massiv zurückzufahren, mehren sich die Abgesänge auf die Weltwirtschaft.

Doch wichtige Elemente der Krise (zum Beispiel die Kursstürze auf internationalen Börsen) als auch ihrer politischen Bearbeitung (zum Beispiel die Neuauflage grosser Wertpapierankäufe durch die Europäische Zentralbank oder Rettungspakete für Grosskonzerne) lassen sich ohne ein grundsätzliches Verständnis des finanzgetriebenen Kapitalismus kaum verstehen. Lucas Zeises kleine Einführung in das „Finanzkapital“ hilft, mittels Rückgriff auf klassische Autoren wie Rudolf Hilferding oder Wladimir I. Lenin und neue empirische Beispiele die gegenwärtigen Verwerfungen in groben Zügen einzuordnen.

Schillernde Mythen

Auf 130 Seiten wechselt Zeise beständig zwischen griffigen theoretischen Zusammenfassungen und empirischen Illustrationen. So räumt er etwa mit diversen Vorurteilen über die moderne Geldwirtschaft auf: Geld wird durch private Geschäftsbanken auf elektronischem Wege aus dem Nichts erzeugt, statt von Zentralbanken gedruckt; Banken sind zentrale kapitalistische Steuerungsinstanzen mit strukturellem Hang zum Grössenwahn, statt blosse Vermittlerinnen zwischen Sparern und Schuldnern; und Kapitalmärkte dienen grossen Kapitalgruppen zur Spekulation, statt Unternehmen zur Investitionsfinanzierung.

Diese Klarstellungen sind insbesondere in Krisensituationen wie der jetzigen wichtig, weil verzerrte Darstellungen in Gestalt von „Rechtfertigungsmyth[en]“ (S. 18) zur rhetorischen Absicherung von klassenspezifischen Politiken genutzt werden. Nicht weniger wichtig ist aber, die Lenkungswirkung seitens grosser Finanzakteure wie Banken oder institutioneller Investoren (wie Versicherungen, Pensionsfonds oder Asset Manager) zu betonen.

Denn in Abwesenheit demokratisch verfasster Geldschöpfung fallen Banken, die Kredite gewähren, und Investoren, die über Unsummen finanzieller Ressourcen verfügen, eine strukturelle Macht über die Ausgestaltung des Wirtschaftsprozesses in die Hände. Um nur eines von vielen angebrachten – obgleich von Zeise nicht angesprochenen – Beispielen zu nennen: In Zeiten der Klimakrise ist „Geld der Sauerstoff, mit dem das Feuer der globalen Erwärmung brennt“ (McKibben, 2019), indem die Kreditvergabe an Öl- und Gasunternehmen voranschreitet.

Diese Macht über den Wirtschaftsprozess steht im krassen Widerspruch zu den Sonntagsreden über die „freie Konkurrenz“ auf dem „freien Markt“, auf dem der Kunde vermeintlich das letzte Wort hat. Dieses Thema vertieft Zeise, indem er versucht, den mehr als hundertjährigen Begriff des Finanzkapitals zu erneuern und dafür alte und neue Interpretationen zu Monopolunternehmen heranzieht. Die Verbindung zwischen Finanzakteuren und Industrieunternehmen macht für ihn letztlich das eigentliche Finanzkapital aus, welches sich allerdings im Verlauf des 20. und jungen 21. Jahrhunderts deutlich verändert hat.

Insbesondere die Internationalisierung – erst der Industrie, dann des Finanzsektors – und das massive Wachstum von Krediten und Schulden stehen im Vordergrund, so dass ein immer mobileres Finanzkapital entsteht. Nichtsdestoweniger wird dessen Existenz und Aktivität jedoch stets nationalstaatlich ermöglicht oder eingeschränkt, wenngleich auch die Kapazitäten hierfür von Staat zu Staat unterschiedlich sind.

Zentralbankisierung des Kapitals

Die Möglichkeiten für diese „Teilmenge der Klasse der Kapitalisten“ (S. 8) wären aber ohne unterstützende Staaten undenkbar, weshalb ein Kapitel auch der „Nutzung des Staats“ (S. 74) gewidmet ist. Zwar sind Zeises Bemerkungen an dieser Stelle durchaus einsichtsvoll, bleiben jedoch etwas blass.

Dies liegt daran, dass die Staatskonzeption funktional bleibt, also vor allem die Rolle zur Absicherung der unmittelbaren Kapitelverwertung hervorhebt. Wichtige staatliche Aspekte politischer Herrschaft, etwa die Rolle zur Konstruktion nationaler Gemeinschaften und ein wenigstens rudimentärer Klassenkonsens, werden nicht diskutiert. Fairerweise wird dieser Mangel bereits zu Beginn des Textes eingeräumt, so dass Zeise weithin die „Herrschaft des Finanzkapitals [...] vor allem auf der ökonomischen Ebene“ (S. 11) darstellt.

Für diese Herrschaft ist die Institution der Zentralbank, nun ja, zentral. Als Bindeglied zwischen Staat und Finanzsektor, das zumeist von „Experten“ (oft international im Rahmen von Lobbyorganisation wie die in der „Group of Thirty“ vernetzten Banker*innen) angeführt wird, ist es für Zeise von hoher Bedeutung, die fundamental undemokratische Struktur „unabhängiger“ Zentralbanken zu beschreiben:

„Die Geldpolitik der Notenbanken erscheint als klassenmässig neutral, greift jedoch systematisch in die Verteilung des Reichtums zugunsten der oberen und zu Ungunsten der unteren Klassen ein.“ (S. 98)

Diese Darstellungen dürften Leser*innen, die den Verlauf der sogenannten Staatsschuldenkrise des vergangenen Jahrzehnts mitsamt ihrer durch technokratische Kommissionen verordneten Sparzwänge und Strukturanpassungsprogrammen verfolgten, zwar nicht überraschen, aber sie ist wichtig, um auch in der bestehenden Krise daran zu erinnern, diese Politiken zu verfolgen und zu kritisieren. Monetäre Moral und globale Gefahr

Bei einem zunehmend internationalisierten Finanzsystem ist es zudem notwendig, die Netzwerke des Kapitalmarktes zu verstehen. Auch hier liefert Zeise, inspiriert von alten und neuen Imperialismusdebatten von Autoren wie Hilferding, Lenin oder Prabhat Patnaik, wichtige Beobachtungen über die „Hackordnung“ (S. 114), nach der die meisten Staaten des Globalen Nordens deutlich niedrigere Zinsen (im Falle Deutschlands in den letzten Jahren teils gar negative) zahlen als jene des Globalen Südens.

Auf diese Art werden Ungleichheiten zementiert und um die vermeintliche moralische Überlegenheit von Gläubigern über Schuldnern erweitert. Dies wird etwa an der gegenwärtigen hitzigen Debatte um einheitliche – jetzt „Corona-“ und früher „Eurobonds“ genannte – Schuldinstrumente der Eurozone, an deren (Miss-)Erfolg sich wahrscheinlich der Fortbestand der „Fehlkonstruktion“ (S. 122) der Eurozone (und damit der EU) entscheiden wird, einmal mehr deutlich.

Zeise beendet sein Büchlein mit einer Warnung vor diesem System, das aus einer instabilen und immer stärker „finanzialisierten“ Weltwirtschaft im Zusammenspiel mit zunehmend aggressiv-nationalistischen und autoritären politischen Tendenzen resultiert. So liest sich Zeises Buch vor allem für Leser*innen, die bislang nur flüchtig die Geschehnisse auf den Finanzmärkten verfolgt haben, als ein eindringlicher Appell, sich am Widerstand gegen ein undemokratisches und verstärkt feudalistisch anmutendes Finanzsystem zu beteiligen.

Tobias Klinge
kritisch-lesen.de

Lucas Zeise: Das Finanzkapital. PapyRossa Verlag, Köln 2019. 135 Seiten, ca. 14.00 SFr, ISBN 978-3-89438-688-7

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