Zur Broschüre „Inhabit – Anleitung zur Autonomie“ Raus aus der Apokalypse, rein in den Neuanfang

Sachliteratur

Eine US-amerikanische Gruppe veröffentlichte vor einiger Zeit eine Broschüre mit dem Titel „Inhabit – Anleitung zur Autonomie“.

Zur Broschüre „Inhabit – Anleitung zur Autonomie“.
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Zur Broschüre „Inhabit – Anleitung zur Autonomie“. Foto: Nils Sahlström (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

15. Oktober 2019
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„Inhabit“ lässt sich schwer übersetzen und meint in etwa den Willen, diese Erde weiter bewohnen zu wollen, indem die alte Welt durch neu geschaffene Welten ersetzt wird. Heruntergebrochen lautet die Botschaft: Trotz der täglichen, umfassenden Katastrophe, in welcher wir heute leben, eröffnet die fundamentale Systemkrise neue Wege für anarchische Formen des Zusammenlebens in denen Alles für Alle ist und die Entfremdung der Menschen voneinander und zur Natur aufgehoben wird. Neben den zerstörerischen Folgen der heutigen Gesellschaftsformation birgt diese auch die Potenziale für den Neuaufbau einer besseren Zukunft.

An das lineare Entwicklungsdenken gekoppelt ist allerdings die wichtige Einsicht, dass die Apokalypse ein Prozess ist, in dem wir längst hier und heute leben. Sie ist von Menschen verursacht und kein Ereignis, was uns in baldiger oder ferner Zukunft als Schicksalsschlag nach kosmischer Gesetzmässigkeit ereilen wird. Die zahlreichen Katastrophenfilme zeichnen dahingehend ein völlig falsches Bild der multiplen Krise, mit der wir bereits konfrontiert sind und auf welche das politische System mit autoritärer Verhärtung reagiert.

Jedenfalls gilt es sich in dieser Situation laut „Inhabit“ zu entscheiden: Lassen wir die Dinge einfach laufen und lehnen wir uns zynisch zurück oder stehen wir auf, um uns zu organisieren und unsere Leben in die eigenen Hände zu nehmen? Die eindeutig anarchistische Schrift trägt in ihrer Sprache quasi religiöse Züge und ist von romantischen Formulierungen aufgeladen. So wird zum Beispiel von verbindenden Erlebnissen des Zusammenkommens bei Protestaktionen und Platzbesetzungen geschrieben. Eine Idee des sich „echt“ und „nicht-entfremdet“ anfühlenden Lebens in Freiheit bildet den Hintergrund des Szenarios einer post-apokalyptischen Gesellschaft, wie sie auch von K.I.Z. In „Hurra, diese Welt geht unter“ besungen wird.

Ebenfalls ausgemalt wird die Notwendigkeit und aufopferungsvolle Schönheit des Kampfes gegen Regierung und Faschist*innen. Derartiger Pathos erinnert stark an Gedankenfiguren des umstrittenen (aber oft auch missverstandenen), dem Syndikalismus nahestehende, Sozialphilosophen Georges Sorel. Es würde nicht überraschen, hätten sich die Autor*innen direkt von ihm inspirieren lassen. Tatsächlich kann „Inhabit“ ziemlich eindeutig eine mythische Dimension unterstellt werden, nur dass der ersehnte Generalstreik weniger jener der Arbeiter*innen in der Produktion ist, sondern auf umfassende Weise in der Lebenswelt aller sich Angesprochenen durchgeführt werden soll.

Böse Zungen könnten behaupten hierbei handle es sich um eine weitere Variante, deklassierten weissen Mittelschichtskindern ein revolutionäres Gefühl zu vermitteln – was ich allerdings für etwas billig halte. Vom primitivistischen Denken abzugrenzen ist die Vision von „Inhabit“ deswegen, weil in ihr Zivilisation, Kultur und Technik nicht als Grundfehler, sondern als ambivalent angesehen werden. Die von ihnen entwickelten Artefakte und Hybride sollen nicht vernichtet, sondern gehackt werden.

Bereichernd wirkt diese Erzählung, weil es wichtig, sinnvoll und auch legitim ist, Menschen bei ihren Gefühlen (beispielsweise Ohnmachtserfahrungen durch zerstörerische Naturereignisse, Gewalterfahrungen, Sinnlosigkeit und Last der Arbeit etc.) anzusprechen. Dazu mit Zuspitzungen zu arbeiten ist ebenfalls nachvollziehbar, wird die zwangsläufige Verschärfung vorhandener gesellschaftlicher Konflikte zu Grunde gelegt (die immer weitere Kreise der Bevölkerung des globalen Nordens direkt betreffen).

Die Autor*innen der Broschüre übertreiben jedoch, da sie keine Reflexion darüber anstossen, woher damit verbundene Ängste kommen. Denn jene stehen im Zusammenhang mit der Situation einer zweifellos langfristig niedergehenden sogenannten „westlich-europäischen“ Kultur und insbesondere ihren absteigenden Klassen. Eine derartige Erzählung könnte schnell in einen nationalkonservativen „Kulturpessimismus“ oder neurechten Vorstellungen der „Dekadenz“ umschlagen. (Was durch das zugrundeliegende egalitäre Menschenbild aber hoffentlich gebannt ist.) Zudem mag es in anderen Grossmächten wie dem aufstrebenden China hingegen – trotz Klimawandel, Überwachung, enormer Ungleichheit und politischen Unruhen – derzeit insgesamt eher eine Aufbruchsstimmung geben.

Was in „Inhabit“ mit Hilfe von (post)apokalyptischen Bildern beschrieben wird, ist also keine universelle Analyse des allgemeinen Weltzustandes, sondern das Spiegelbild eines spezifischen Gefühlsgemischs, welches aus bestimmten materiellen, sozialen und politischen Veränderungen erwächst. Gegen den Zynismus eine Vision der Hoffnung zu formulieren, sollte insbesondere die Aufgabe von Anarchist*innen sein. Dafür ist es meiner Ansicht nach wichtig, das richtige Mass an emotionaler Ansprache und möglichst sachlichen und transparenten Begründungen zu finden, „um die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen“.

Die strategische Agitation durch „Inhabit“ (und anderen Broschüren) ist berechtigt. Sie genügt dann emanzipatorischen Ansprüchen, wenn sie nicht instrumentell angewendet wird, sondern den Adressat*innen Spielräume für eigene Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungsoptionen lässt, zum Austausch anregt und motivierend wirkt. Dahingehend ist „Inhabit“ kritisch zu betrachten. Nur weil ich beispielsweise die Schrift eher als anregende poetischen Motivationsschub empfinde, zu welcher ich aber gleichzeitig eine pragmatische Distanz bewahre, könnten andere das Katastrophen-Setting auf problematische Weise wörtlich nehmen.

Nun noch einige Einblicke in die Broschüre. Die Ausgangspunkte von „Inhabit“ lauten:
  • Unsere Zeit ist stürmisch und voller Möglichkeiten.
  • Wir kommen von etwas Zerbrochenem, dennoch stehen wir.
  • Wir haben die Macht einen unumkehrbaren Bruch zu vollziehen.
  • Es fehlt nichts – schau dich um, gibt ihm eine Form.
Darauf aufbauend werden die neun Instruktionen, also „Anweisungen“ erläutert. Sie lauten: (1) Findet zueinander, (2) Gründet Knotenpunkte, (3) Werdet belastbar, (4) Teilt eine Zukunft, (5) Eröffnet den Kampf, (6) Erweitert das Netzwerk, (7) Baut Autonomie auf, (8) Schafft neue Infrastrukturen, (9) Werdet unregierbar.

Insofern die gesamte Erzählung und die gegebenen Vorschläge nicht neu sind, ist „Inhabit“ eher als Motivationshilfe oder Agitationsmittel zu verstehen, nicht jedoch als Analyse oder Handwerkszeug zu konkreter Organisierung. Die Idee, als Grundlage dezentrale autonome Knotenpunkte („hubs“) zu etablieren, welche sich vernetzen und damit die neue Gesellschaft aufbauen, soll dazu anregen, sich hier und heute verbindlich und langfristig zusammenzuschliessen – ein Anliegen, dass auf jeden Fall für eine Gesellschaftsveränderung im anarchistischen Sinne (aber auch schon für Menschen, die in politische Kämpfe treten) unerlässlich ist. Darüber hinaus interessant ist das spezielle Verhältnis zu Technik und die damit verknüpfte Idee, alles Mögliche hacken zu können. Als Diskussionsanstoss ist die Agitations-Broschüre erwähnenswert. Ansonsten soll jede*r selbst beurteilen, ob sie*er dem pathetischen Stil etwas abgewinnen kann oder ihn nicht eher problematisch empfindet. Rein von der Aufmachung her (Design, Bilder, Satz etc.) kann man sich allerdings einiges davon abschauen.

Zum Abschluss dieses Beitrages zitiere ich noch die übersetzten letzten Sätze des Textes:

„Es gibt keinen zukünftigen Notfall, auf den wir uns vorbereiten müssen.

Wir sind schon hier - mit jedem dystopischen Element, jedem Mittel der Revolution. Die entsetzlichen Konsequenzen unserer Zeit und ihr schönes Potential entfalten sich überall. Wir widersetzen uns dem Ende der Welt, indem wir neue Welten ausbreiten. Wir werden unregierbar - unnachgiebig gegenüber ihrem gnadenlosen Gesetz, ihrer zerbröckelnden Infrastruktur, ihrer wertlosen Wirtschaft und ihrer Sinn-entleerten Kultur.

Gewaltsam setzen wir einen Anspruch auf Glück – dass das Leben in unserer materiellen Macht liegt, in unserer Weigerung, verwaltet zu werden, in unserer Fähigkeit, die Erde zu bewohnen, in unserer Fürsorge füreinander und in unseren Begegnungen mit allen Lebensformen, die diese ethische Wahrheiten teilen.“

Jens Störfried

Der Text ist auf Englisch, französisch und spanisch verfügbar auf: inhabit.global