Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem IV Der Siegeszug des Liberalismus

Sachliteratur

Im vierten Band der Reihe „Das moderne Weltsystem“ analysiert Wallerstein, wie und warum sich der Liberalismus im langen 19. Jahrhundert als Geokultur durchgesetzt und sowohl konservative als auch sozialistische Strömungen gebändigt hat.

Eisenwalzwerk, Öl auf Leinwand, 1875.
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Eisenwalzwerk, Öl auf Leinwand, 1875. Foto: Adolph Menzel (PD)

15. Juni 2017
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Der letzte von vier Bänden aus der Reihe „Das moderne Weltsystem“ hebt sich von seinen drei Vorgängern ab: Zwar richtet der Autor seinen Blick in Anschluss an Band III auf das lange 19. Jahrhundert. Allerdings steht hierbei nicht die Fortsetzung der zyklenhaften und von struktureller Ungleichheit geprägten Entwicklung des Weltsystems im Mittelpunkt der Betrachtung. Stattdessen geht es im vorliegenden Band um etwas „in der historischen Entwicklung des modernen Weltsystems bis dahin noch nie dagewesen[es]: etwas, das wir seine Geokultur nennen“ (S. 321).

Liberale Geokultur und politische Metastrategie

Wallerstein bezeichnet Ideen, Werte und Normen als Geokultur, wenn sie „im ganzen Weltsystem weitgehend geteilt werden“ (S. 320). Im 19. Jahrhundert habe sich der zentristische Liberalismus gegenüber den beiden anderen „Hauptideologien des modernen Weltsystems“ (S. 321), Konservatismus und Radikalismus, als Leitideologie durchgesetzt. Ideologien werden hier als „politische Metastrategien“ (S. 15) „für den Umgang mit der Moderne“ (S. 25) verstanden, die als kulturelles Erbe der französischen Revolution notwendig die Weltbühne betraten. Denn erstens bedurfte es nun, da politische Veränderungen zum Alltag gehörten, Begründungen für das Für und Wider des Wandels. Zweitens entstand ein Widerspruch zwischen der egalitären Rhetorik einerseits und der real existierenden politischen und ökonomischen Ungleichheit andererseits. Entsprechend wurden Strategien entwickelt, diesen Widerspruch zu übertünchen.

Der Konservatismus war die „erste ideologische Reaktion auf die geokulturelle Umgestaltung durch die Französische Revolution“ (S. 16) und strebte danach, politische Veränderungen einzuschränken. Der Radikalismus wollte „den Fortschritt durch einen harten Kampf gegen alle Widerstände beschleunigen“ (S. 25). Der Liberalismus gab vor, „wirtschaftliche Entwicklung in Verbindung mit einer Verbesserung der Gesellschaft“ (S. 130) erreichen zu können. Das Projekt der Liberalen war darauf ausgelegt, Veränderungen zum eigenen Vorteil zu kontrollieren, sozialistische Bestrebungen einzuhegen und damit letztlich das kapitalistische Weltsystem zu stabilisieren. Sowohl beim Aufbau liberaler Staaten und im Kampf um die politische Teilhabe in denselben als auch in den historischen Sozialwissenschaften hat der Liberalismus, wie Wallerstein an diesen drei Sphären aufzeigt, dieselbe Rolle gespielt: Er hat Konservatismus und Radikalismus gezähmt, praktisch in Ausdrucksformen seiner selbst verwandelt und sie damit letztlich entsorgt. „Die grosse politische Errungenschaft des Liberalismus von 1830 bis 1875“, schreibt der Autor, war „die Bändigung der gefährlichen Klassen“, während „seine grosse ideologische Errungenschaft die Bändigung des Konservatismus“ (S. 167) war.

Die Bändigung der „gefährlichen Klassen“

Die zähmende Rolle des Liberalismus verdeutlicht Wallerstein zum Beispiel anhand der Arbeiter-, Frauen- und Minderheitenbewegungen, die allesamt die „Kehrseite der Einbeziehung aller Staatsbürger“ (S. 170) zu spüren bekamen: den Ausschluss aus der Staatsbürgerschaft. Das Credo „Gleiche Rechte für Alle“ galt im kapitalistischen Weltsystem stets nur für einen Teil der Gesellschaft, die Zugehörigkeit zu „Allen“ wurde in sozialen Kämpfen entschieden. „Die Dominierten organisierten sich“ (S. 180) im 19. Jahrhundert. Doch alle antisystemischen Bewegungen dieser Zeit wurden alsbald durch den Einfluss liberaler Kräfte eingedämmt.

In Frankreich kam es zum Beispiel zu ernsthaften Konflikten, nachdem 1824 der reaktionäre Karl X an die Macht gekommen war und sich gleichzeitig mit dem Konjunkturabschwung ab 1825 die soziale Situation im Land drastisch verschlechtert hatte. Die dreitägige Volksrevolution vom 27. bis zum 29. Juli 1830 wurde rasch vom Liberalismus der Restauration aufgefangen und führte zur aufgeklärten Julimonarchie unter Louis-Philippe. Auf ähnliche Weise setzten die britischen Liberalen 1832 die Reform Bill durch, die die Macht der Minister im Verhältnis zu den Abgeordneten schwächte und „die Mittelschicht scheinbar ins politische Leben integrierte“ (S. 94). Die Arbeiterklasse hat allerdings in England genauso wie in Frankreich nichts als Ernüchterung erfahren „und eine ungünstigere Stellung für die nächste Runde des Kampfes“ (S. 95) erhalten. Sobald die Mittelschicht „ihr droit de cité erlangt hatte, [legte sie] ihre Aufmerksamkeit sofort auf die Eindämmung der Forderungen der werktätigen Klassen“ (S. 103, Herv. Im O.).

Die Feuerprobe für die Dominanz des Liberalismus

1848 aber gipfelten die wachsenden Unruhen in der „ersten Weltrevolution des modernen Weltsystems“ (S. 188). Geographisch war diese zwar auf Europa beschränkt, Wallerstein interpretiert sie dennoch als Feuerprobe für die langfristige Dominanz der neuen Geokultur. Die „europaweite Revolution“ (S. 110) begann als Bedrohung des „internationalen liberalen Regimes“ (S. 117). Den Liberalen waren die Herrschaftssysteme erneut zu starr und illiberal geworden, sodass sie sich, de facto im Bündnis mit den Radikalen, gegen die Repräsentanten ihrer Regierungen auflehnten. Als sie erkannten, „dass die Unterschichten womöglich die Lage ausnutzen und das Ganze zu weit treiben könnten“ (S. 112), agierten sie 1848 wie schon 1830 und schlossen neue Bündnisse gegen den Feind von links. Die Radikalen erlitten dementsprechend „im Wesentlichen eine politische Niederlage“ (S. 188), während die Liberalen den Sieg davontrugen.

Nach 1848 war auch der Absolutismus in Europa endgültig eingedämmt, die aufgeklärten Konservativen hatten erkannt, dass der starke „Wohlfahrtstaat des grand capitalisme“ (S.132) hilfreich ist, um Kapital zu akkumulieren und es vor dem „Sturm der Unzufriedenheit der Arbeiterklasse“ (S. 136) zu schützen. Radikale wie Konservative waren zu „blossen Spielarten des zentristischen Liberalismus“ (S. 96) geworden. Die Zähmung der ArbeiterInnenbewegung und damit die Konsolidierung der liberalen Herrschaft gipfelten darin, dass „1914 alle sozialistischen Parteien für den Krieg stimmten (mit den Bolschewiki als besondere Ausnahme)“ (S. 201) und damit die imperialistische Politik der Zentren verteidigten. Die Liberalen der kapitalistischen Zentren gingen aus den Revolutionen des 19. Jahrhunderts mit gestärkten Staaten in den Händen hervor.

Der starke liberal-imperiale Staat

Ebenso wie die beiden anderen Ideologien, schreibt Wallerstein, habe der Liberalismus, trotz aller Behauptungen, gegen den Staat zu sein, nie antistaatliche Politik verfolgt. Im Gegenteil war er „immer die Ideologie eines starken Staates im Schafspelz des Individualismus“ (S. 24). Der Aufbau starker liberaler Staaten erfolgte zunächst in England und Frankreich. Unter britischer Hegemonie gingen die beiden Länder ein „stillschweigendes aber tiefgehendes Bündnis ein“, eine „Entente Cordiale“, und untermauerten damit ihre Stärke nicht nur im Innern, sondern „auch innerhalb des Weltsystems“ (S. 24). Die aufgeklärte „Vorstellung eines Westens, der militärisch stark ist, wirtschaftlich dominiert und gegenüber dem wirtschaftlich rückständigen ‚unfreien Osten' die Fahne der individuellen Freiheit hochhält, sollte ein Muster für den Rest des 19. und 20. Jahrhunderts werden“ (S. 89).

Das liberale laissez-faire blieb auch nach aussen stets „eher Mythos als Realität“ (S. 122), wie Wallerstein etwa anhand der britischen Freihandelspolitik verdeutlicht. Von dieser profitierte England, weil es „damals in allem überlegen war: Handel, Finanzen und Industrie“ (S. 125). Die Briten waren an Offenheit aber nur in dem Masse interessiert, das ihren wirtschaftlichen Interessen diente. So gesehen ist Freihandel „auch nur eine Spielart des Protektionismus“. Denn er schützt „die Vorteile jener, die zu einer bestimmten Zeit wirtschaftlich effizienter sind“ (S. 142). Zudem ist der „Freihandelsimperialismus“ (S. 145) ein Mittel der informellen Kontrolle anderer Staaten, damit diese nichts unternehmen, dass der heimischen Industrie schaden könnte.

Die liberale Haltung gegenüber dem Kolonialismus war ebenfalls rein rhetorisch. „Was den liberal-imperialen Staat auszeichnete“, fasst Wallerstein zusammen, „war seine Orientierung auf intelligente Reformen durch den Staat, die gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum (oder vielmehr die Akkumulation von Kapital) fördern und die gesellschaftlichen Klassen bändigen (indem man sie in die Bürgerschaft eingliederte und ihnen einen – wenn auch kleinen – Teil des Kuchens der imperialen Wirtschaft anbot)“ (S. 163).

Ein bedeutendes Werk mit einigen Schwächen

Die eindrückliche Darstellung der Dialektik des Liberalismus ist die grosse Stärke des vorliegenden Bandes. Sie birgt gleichzeitig aber auch diverse Schwächen.

Wallersteins „positive“ Konzeptualisierung von Ideologien als politische Projekte der Moderne – worunter er Liberalismus ebenso fasst wie Sozialismus –, gibt die Unvereinbarkeit von Ideologie und Wahrheit auf. Ideologie wird, anders als bei Marx, nicht als falsches Bewusstsein von den gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden, das deren Veränderung im Weg steht. Ihre Definition ist hier vielmehr vom Anspruch auf Befreiung vollkommen getrennt. Gleichzeitig bleibt unterbestimmt, welchen Anteil Bewusstseinsbildung sowie politische und ökonomische Interessen und Praxis an der Herausbildung von Ideologien, wie Wallerstein sie versteht, haben. Deshalb bleibt er eine befriedigende Erklärung schuldig, warum Ideologien eine „aussergewöhnliche Erfindung des 19. Jahrhunderts“ (S. 37) sein sollen.

Auch die Interpretation, dass die sozialen Kämpfe der „Dominierten“ gegen die „Dominierenden“ des 19. Jahrhunderts vorrangig als Kämpfe gegen den Ausschluss von den Privilegien der Staatsbürgerschaft zu verstehen seien, greift zu kurz. Dass diese Exklusion eine grosse Bedeutung hatte, steht ausser Frage. Wallerstein lässt aber den Klassenwiderspruch, wie er sich aus der gesellschaftlichen, politisch-ökonomischen Struktur des Weltsystems ergibt, unterbelichtet. Genauer gesagt macht der Autor keinen qualitativen Unterschied zwischen dem politisch-ökonomischen Klassenwiderspruch und politisch-ökonomischen Herrschaftsverhältnissen. Letztere werden im vorliegenden Band vorrangig ohne Bezug zu ihrer ökonomischen Funktionalität erklärt. Analog dazu werden auch die Kämpfe der ArbeiterInnenbewegung und ihre Beziehung zu anderen sozialen Kämpfen als auf die „nationale Frage“ beschränkt dargestellt. Wallerstein meint sogar, der Blick derjenigen antisystemischen Bewegungen, die auf eine soziale Revolution fokussierten, sei notwendig „innerhalb der Nation“ (S. 188) verblieben – begründet diese Behauptung aber nicht.

In Band IV reproduziert sich damit eine Schwäche, die das Werk insgesamt durchzieht: Der Kapitalismus als historisch besondere Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit und damit die Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehung zwischen Kapital und Arbeit spielen zwar eine Rolle – in Wallersteins Theorie jedoch stets eine untergeordnete. Das kapitalistische Weltsystem wird in erster Linie durch die ungleichen Beziehungen zwischen Zentrum, Peripherie und Semiperipherie bestimmt. Entsprechend bleibt auch die klassentheoretische Bestimmung der dominanten Akteure des politischen Liberalismus unscharf.

Methodisch bleibt am Ende der Lektüre der vier veröffentlichten Bände die Frage offen, in welchem Verhältnis die zwei grossen zyklischen Prozesse zueinander stehen, auf die Wallerstein sich in der Darstellung der Entwicklung des modernen Weltsystems bezieht – „der eine ist jener der Kontratjew-Zyklen, die jeweils rund fünfzig bis sechzig Jahre dauern – Zyklen des Wachstums und der Stagnation der Wirtschaft als Ganzes. Der zweite ist viel langsamer: Der Prozess des Aufstiegs und des Niedergangs von Hegemonialmächten im internationalen Staatensystem.“ (S. 320) Der Vorhang zu und das Ende offen?

Nicht nur um der Klärung der genannten Fragen Willen bleibt zu hoffen, dass Wallerstein sein Werk fortsetzt. Es seien noch mindestens zwei Bände zu schreiben, um die weitere Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems zu analysieren, heisst es in der Einleitung zu Band IV. Offen bleibt vorerst leider auch, weshalb genau, wie Wallerstein in diesem Band behauptet, das kapitalistische Weltsystem im Laufe des 21. Jahrhunderts, „vielleicht bis 2015“, seinen „endgültigen Niedergang erfahren“ (S. 14) haben wird.

Christin Bernhold und Christian Stache
kritisch-lesen.de

Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem IV. Der Siegeszug des Liberalismus (1789-1914). Promedia Verlag, Wien 2012. 416 Seiten. ca. 33.00 SFr., ISBN: 978-3-85371-347-1

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