Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem III Die grosse Expansion des kapitalistischen Weltsystems

Sachliteratur

Wallerstein erzählt die Geschichte der politisch-ökonomischen Expansion des kapitalistischen Weltsystems im langen 18. Jahrhundert.

Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J. aus dem Jahr 1801. Coalbrookdale gilt als eine der Geburtsstätten der industriellen Revolution, da hier der erste mit Koks gefeuerte Hochofen betrieben wurde.
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Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J. aus dem Jahr 1801. Coalbrookdale gilt als eine der Geburtsstätten der industriellen Revolution, da hier der erste mit Koks gefeuerte Hochofen betrieben wurde. Foto: The Yorck Project (PD)

13. Juni 2017
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In seinem vierteiligen magnum opus erzählt Immanuel Wallerstein die Geschichte seit dem 15. Jahrhundert als Historie des kapitalistischen Weltsystems. Nach dem Übergang vom Feudalismus zur europäischen Weltwirtschaft (1450-1600, Band I) und dem niederländischen Hegemoniezyklus (1600-1750, Band II) wird die grosse Narration im dritten Band mit der politisch-ökonomischen Expansion der Weltwirtschaft unter britischer Hegemonie zwischen 1750 und 1850 fortgesetzt.

Die britische Hegemonie

Im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems endete zwischen dem Frieden von Paris 1763 und 1815 die „letzte Phase des fortwährenden und offenen Ringens zwischen den beiden Anwärtern auf die Hegemonie“ (S. 80), Frankreich und Grossbritannien. Der Siebenjährige Krieg markiere Wallerstein zufolge einen „Wendepunkt“ (S. 102) im Kampf um die Vorherrschaft, der den geringfügigen englischen Vorsprung (starker Staat und das Kolonialreich als Zulieferer und Absatzmarkt) in deutliche Vorteile verwandelt.

Der Krieg festigte die „Unterminierung der französischen Ökonomie in zwei entscheidenden Bereichen“ (S. 102): Erstens wurde der Komplex aus Handel und Industrie an der Atlantikküste ausgebremst und zweitens glitt der französische Staat in eine Verschuldungsspirale. Wallerstein beschreibt detailliert, wie vor allem Grossbritanniens Baumwollindustrie derweil „auf Kosten aller anderen Länder [...] einen plötzlichen Anstieg der relativen Produktionseffizienz“ (S. 112) erreichte und unter dem Protektionismus des starken englischen Staates gedieh. Die 1780er-Jahre waren „das goldene Jahrzehnt britischen industriellen Wachstums“ (S. 121). Der französische Staat wurde darüber hinaus durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg geschwächt.

Die Unterstützung der England untreuen Nordamerikaner machte den Trend zur Staatsverschuldung endgültig zu einem akuten Problem: Frankreich ging dem Bankrott entgegen. Ausserdem wurde der Streit zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb des französischen Staates über den Umgang mit der drohenden Niederlage gegen England nicht gelöst. Vielmehr gipfelt er in der Französischen Revolution. Schritt für Schritt kam es so zu „einer beträchtlichen Vergrösserung der französisch-britischen Disparitäten“ (S. 122). Grossbritannien gewann bis 1815 endgültig die Oberhand in Produktion, Handel und Finanzwesen und errang somit die Hegemonie im kapitalistischen Weltsystem.

Die Ausdehnung der europäischen Weltwirtschaft

Mit der ökonomischen Expansion der Weltwirtschaft im 18. Jahrhundert kam es zu einem „bedeutsamen Inkorporierungsschub“ (S. 181): Neben Indien, dem kolonialen Sprungbrett für den Erfolg der britischen Verknüpfung von Handel und Industrie, wurden zwischen 1750 und 1850 das Osmanische Reich, das Russische Reich und Westafrika in die Arbeitsteilung des kapitalistischen Weltsystems eingegliedert. Anhand dieser vier Beispiele entfaltet Wallerstein sein „Verlaufsmodell“ für den Inkorporierungsprozess: die neuen Gebiete sind der Weltwirtschaft erst äusserlich (externe Zonen), werden dann integriert und in Semiperipherien oder Peripherien des kapitalistischen Weltsystems verwandelt. Dieses Modell habe sich wiederholt, bis „an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schliesslich der gesamte Globus in die kapitalistische Weltwirtschaft einbezogen“ (S. 184) worden war.

Vor ihrer Eingliederung exportierten Indien, Russland, das Osmanische Reich und Westafrika Luxusgüter in die europäischen Zentren. Die Stärke ihrer politischen Organisation, die die Kontrolle über den Aussenhandel einschloss, sorgte dafür, dass sie unabhängig vom kapitalistischen Weltsystem bleiben konnten. Die Zentren waren jedoch nun dazu in der Lage, diese „monopolistische Barriere“ (S. 192) niederzureissen. Den einsetzenden Inkorporierungsprozess sieht Wallerstein in der „unbedingten Notwendigkeit der Weltwirtschaft“ begründet, „ihre Grenzen auszudehnen“ (S. 184). „Bedeutsame Produktionsprozesse“ an allen vier Standorten wurden bis spätestens 1850 (in Westafrika vielleicht etwas später) zum „integralen Bestandteil von mehreren jener Warenketten“ umgewandelt, „welche die fortlaufende Arbeitsteilung der kapitalistischen Weltwirtschaft ausmachen“ (S. 185).

Im Zuge ihrer Inkorporierung sind auch die politisch-ökonomischen Strukturen der Neulinge verändert worden. Die (Semi-)Peripherien wurden zu Rohstoffexporteuren für die Zentren und zugleich zu Importeuren von deren Fertigerzeugnissen. Dies schliesst auch eine gezielte Deindustrialisierung ein, im Falle Indiens etwa die Zerstörung der einheimischen verarbeitenden Textil-Industrie. Ausserdem wurden in den neuen Peripherien ökonomische Grosseinheiten in der Primärproduktion geschaffen oder im Handel mit den Primärgütern an den „Flaschenhälsen der Warenströme“ (S. 220) positioniert. In Indien entstanden die Indigo-Plantagen, im Osmanischen Reich die „plantagenähnlichen çiftlik“ (S. 222) für die Baumwoll- und Maisproduktion und in Westafrika Palmölplantagen, wo sich zudem einer der „Flaschenhälse in der Vertriebs- und Verkaufsstruktur“ (S. 224) für den weltweiten Sklavenhandel bildete.

Im Zuge der „Einbindung der jeweiligen Produktionssphäre in die Warenketten der Weltwirtschaft“ (S. 241) wurde schliesslich die „verstärkte Anwendung von Zwang gegen die Arbeitskraft“ (S. 241) forciert. In Russland erlebte zum Beispiel Ende des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts die „barshina“, die drückendste Form Leibeigenschaft durch Fronverpflichtung, ihre Hochzeit.

Die „zunehmende Einbindung in die Produktionsnetzwerke der Weltwirtschaft“ (S. 261) wurde von der „Einflechtung der jeweiligen politischen Strukturen in das Staatensystem“ (S. 247) begleitet. Die sich entwickelnden Staatsapparate durften aus der Sicht „des bestehenden Staatensystems weder zu stark noch zu schwach sein“ (S. 247). Nach innen konnten sie den Produktionsprozess beeinflussen und nach aussen die Integration ins internationale Währungssystem sowie die Interaktion mit den diplomatischen Netzwerken des Staatensystems gewährleisten. In Indien verschwinden zum Beispiel das Mogulreich und andere kleine staatliche Einheiten zugunsten eines einheitlichen Kolonialstaats. Allein dem Russischen Reich gelang es, die Peripherisierung zumindest abzufedern. Durch ökonomische Zugeständnisse an Grossbritannien, den gleichzeitigen Aufbau eines starken Staatsapparats mit einer grossen Armee und die Expansion im Osten erkämpfte sich Russland den Status einer Semiperipherie.

Ein Jahrhundert ohne Revolutionen?

In der Ideal-Standard-Interpretation ist das lange 18. Jahrhundert ein Jahrhundert der Revolutionen: der grossen Französischen, der industriellen in Grossbritannien und der antikolonialen in den Amerikas. Einen „plötzlichen, dramatischen und weit reichenden Wandel“ (S. 7), mit dem vor allem „Diskontinuität“ (S. 7) betont werde, hat es im kapitalistischen Weltsystem seit dessen Konstitution im 15 Jahrhundert bis 1850 laut Wallerstein allerdings nicht gegeben. Denn „keine der grossen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts“ habe eine „grundlegende Herausforderung“ (S. 371) für das kapitalistische Weltsystem dargestellt. „Vielmehr“, so Wallerstein weiter, „bedeuteten sie dessen weitere Konsolidierung und Verfestigung.“ (S. 372)

Die industrielle Revolution beispielsweise sei weniger ein einzigartiger Prozess der Entwicklung technischer (bessere/neue Maschinen und Mechanisierung) und humaner (Fabrik als neue Organisationsform) Produktivkräfte gewesen. Vielmehr solle man die Entwicklung „als Re-Urbanisierung und Re-Konzentration der führenden Industrien sowie als Bestrebung“ verstehen, „den Grössenmassstab der Produktion (scale)“ (S. 111) durch „verstärkte Mechanisierung des Produktionsprozesses“ (S. 84) zu erhöhen.

Auch die Französische Revolution ist laut Wallerstein vom Standpunkt der kapitalistischen Weltwirtschaft aus „weder eine grundlegende ökonomische noch eine grundlegende politische Transformation“ (S. 78) gewesen. Das Bürgertum habe sich nicht an die Macht gekämpft. Es hatte sie seit der Konstitution des kapitalistischen Weltsystems inne. Analog zur englischen Revolution hätten vielmehr verschiedene Fraktionen „innerhalb der Bourgeoisie“, die als Aristokratie und Bourgeoisie erschienen, einen „heftigen Kampf“ (S. 144) um die „Reformen des französischen Staatswesens“ (S. 160) geführt. Daher sei es auch unzutreffend, die Französische Revolution als bürgerlich oder liberal zu klassifizieren. Sie habe vielmehr den Moment angezeigt, an dem „der ideologische Überbau den Anschluss an die ökonomische Basis“ (S. 78) gefunden habe. Die „kulturell-ideologische Sphäre“ sei „endlich in Einklang mit der ökonomischen und politischen Realität“ (S. 161) gebracht worden. Diese „Revolution […] im Bereich der Werte“ (S. 57, Fussnote 171) zeige daher auch nicht „den Beginn der bürgerlich-kapitalistischen Epoche an, sondern den Zeitpunkt ihrer vollständigen Reifung“ (S. 162).

Die siedlergetragene Dekolonisierung der Amerikas, Wallersteins Begriff für die Unabhängigkeitsbewegungen in Nord- und Südamerika, stuft er als „eine wirklich bemerkenswerte Umgestaltung des Staatensystems“ (S. 276) ein. Es habe sich aber lediglich um einen zeitweilig mit Waffengewalt ausgetragenen Streit zwischen den Kapitalisten beiderseits des Atlantiks darüber gehandelt, „wie die Einkünfte innerhalb der Elite verteilt werden sollten“ (S. 277). Die europäischen Siedler, die im Laufe der Zeit die Landwirtschaft und vor allem den Handel in den Kolonien dirigierten, waren bestrebt, ihren Anteil auf Kosten der Kolonialherren zu vergrössern.

Die siedlergetragene Dekolonisierung sowohl der Vereinigten als auch der lateinamerikanischen Staaten hat laut Wallerstein aber zweierlei eindeutig gezeigt. Erstens sorgen die ökonomischen Strukturen des kapitalistischen Weltsystems stets dafür, dass die nationale politische Unabhängigkeit bloss eine relative bleibt. Die neuen Mitglieder im internationalen Staatensystem sahen sich alle „auf die eine oder andere Weise der politisch-ökonomischen Bevormundung durch die neue Hegemonialmacht Grossbritannien ausgesetzt“, wenngleich es den Vereinigten Staaten auch gelang, „die Rolle eines Statthalters (und damit eines potenziellen, später tatsächlichen Rivalen) einzunehmen“ (S. 371).

Zweitens mussten die Subalternen erkennen, dass der Kampf für die nationale Unabhängigkeit nicht zwingend ein Garant für soziale Verbesserungen sein muss. „Die Volksbewegungen“ in den Amerikas – der Indianer im Norden, der Sklaven, Schwarzen, Mulatten usw. im Süden – „wurden unterdrückt und durch die politischen Transformationen eher eingeschränkt denn entfesselt“ (S. 372).

Revolten und die erste antisystemische Revolution

Dennoch ist die Beteiligung der Ausgebeuteten an den Klassenkämpfen jener Zeit für Wallerstein keineswegs vergebens oder für die Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems unbedeutend gewesen.

Indigene Aufstände in Spanisch-Amerika, wie zum Beispiel unter der Führung Túpac Amarus II. 1780 bis 1783 in Peru, zählten zu einem der wesentlichen Motive für die Ausbildung der Unabhängigkeitsbewegungen. Sie hätten die kreolischen Siedler zum Handeln gezwungen. Gleichzeitig habe die Angst eben jener kreolischen Siedler infolge der „erfolgreichsten Sklavenrebellion in der Geschichte des kapitalistischen Weltsystems“ (S. 349) und der „Gründung der ersten schwarzen Republik“ (S. 347) auf St. Domingue/Haiti 1804 aber auch die Loslösung der spanisch-amerikanischen Kolonien verzögert. Die schwarzen Sklaven Haitis und die „indianische Landbevölkerung“ (S. 318), die den Kern der indigenen Revolten stellten, mussten zur Kenntnis nehmen, dass auf die neuen Herren Amerikas weder im antikolonialen Kampf noch in der postkolonialen Gesellschaft Verlass war. Haiti wurde international isoliert, während die „soziale Polarisierung“ (S. 344) in den Amerikas sogar zunahm.

Das Pendant zu diesen Aufständen in der (Semi)Peripherie war „die erste bedeutende antisystemische (d.h. antikapitalistische) Bewegung der Geschichte des modernen Weltsystems“ (S. 161) im Zentrum – die Revolution innerhalb der Französischen Revolution. Die „französischen 'Volksmassen'“ (S. 161), Bauern und Sansculotten, wehrten sich gegen die „kapitalistische Offensive“ (S. 149), welche die Französische Revolution darstellte. Sie lehnten das Reformprogramm der „kapitalistischen Schichten“ (S. 151) ab, das darauf abzielte, die kollektiven Rechte der Bauern aufzuheben – was gleichbedeutend mit der Proletarisierung der Bauern war. Stattdessen forderten sie Brot und politische Rechte. Als Volksaufstand sei die Revolution „freilich ein Misserfolg“ gewesen, der aber die „intellektuelle Grundlage für alle nachfolgenden antisystemischen Bewegungen“ (S. 161) bilden sollte.

Wallersteins ungetrübter Blick auf die Verdammten dieser Erde in den Peripherien und die Ausgebeuteten in den Zentren, auf die beschränkte Reichweite der Revolutionen und auf ihre Funktionalität für die Entwicklung des Weltsystems im langen 18. Jahrhundert ist die grosse Stärke des dritten Bandes.

Christin Bernhold und Christian Stache
kritisch-lesen.de

Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem III. Die grosse Expansion. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert. Promedia Verlag, Wien 2004. 463 Seiten. ca. 35.00 SFr., ISBN: 3-85371-223-1

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