Hendrik Lackus / Olga Schell (Hrsg.): Mall of shame. Kampf um Würde und Lohn. Her mit dem schönen Leben!

Sachliteratur

Migrant:innen sehen sich häufig prekären Arbeitsverhältnissen ausgesetzt. Eine Gruppe Arbeiter:innen kämpfte jahrelang gegen die Ungerechtigkeiten auf dem Bau der Mall in Berlin.

Baustelle der Mall of Berlin, Oktober 20212.
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Baustelle der Mall of Berlin, Oktober 20212. Foto: Dirk Ingo Franke (CC BY 3.0 unported - cropped)

15. September 2021
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Arbeit bedeutet für viele Kampf um ein besseres Leben. Arbeit und Migration bedeuten meist doppelten Kampf. Dass dieser sich lohnen kann, hat vor kurzem das Ergebnis des Streiks in Bornheim beim Unternehmen Spargel Ritter gezeigt. Über hundert Saisonarbeitende hatten im April 2021, pünktlich zum Start der neuen Erntesaison, eine aussergerichtliche Einigung erzielt und Nachzahlungen für die Ernte 2020 erhalten. Ausgangspunkt dieses Kampfes waren 100.000 Euro nicht gezahlter Lohn. Unterstützt wurde der hartnäckige, ein Jahr andauernde Kampf durch die FAU (Freie Arbeiter:innen Union) Bonn.

Auch das von Hendrik Lackus und Olga Schell herausgegebene Buch „Mall of Shame - Kampf um Würde und Lohn“ verweist nun im Einstieg auf den oben genannten aktuellen Kampf und dessen Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten mit dem mehrere Jahre andauernden Arbeitskampf rumänischer Bauarbeiter, die im Auftrag von Subunternehmen auf der Baustelle der Mall of Berlin gearbeitet hatten. Mehrere dieser Subunternehmen gingen bankrott und einige der Bauarbeiter wurden sogar mehrfach um ihren Lohn betrogen. Der Investor Harald Huth sah keinen Grund bei den Arbeitern finanziell für eine Entschädigung zu sorgen.

Weil ihnen kein Lohn gezahlt wurde, starteten die Arbeiter zunächst einen Protest und begannen, nahezu täglich über ihre Lage direkt vor der Baustelle der Mall zu informieren. Einige Zeit schliefen sie sogar in einem Container auf der Baustelle. Auch hier war es die FAU (Berlin), die den Protest der Arbeiter und die folgenden mehrjährigen gerichtlichen Verhandlungen über Lohnzahlung tatkräftig unterstützte:

„Ihre Hilfe war sehr wichtig, sie haben uns mit Geld unterstützt und mit andere Sachen. Wir haben angefangen Proteste zu machen. Sie sind mit Fahnen gekommen und mit Flyern, die wir an die Leute verteilt haben und so etwas.“ (S. 63)

Brücken der Solidarität

Die Autor:innen hatten selbst den Kampf der protestierenden Arbeiter:innen begleitet und bezeichnen sich als solidarische Unterstützer:innen. Ihre eigene Rolle kommt im Buch ebenso zur Sprache wie die ungleiche soziale Herkunft einiger Gewerkschaftsmitglieder und der protestierenden Arbeiter:innen:

„Nicht wenige der aktiven Mitglieder sind in einem akademischen bzw. universitären Arbeitsumfeld unterwegs. [...] Es ist eine grosse Herausforderung trotz unterschiedlicher Ausgangslagen, Gemeinsamkeiten zu entwickeln. Unserer Meinung nach kann es diese Gemeinsamkeit in Kämpfen jedoch nur geben, wenn bestehende Unterschiede wahrgenommen werden und die jeweils spezifischen Ausgangsbedingungen und Lebensrealitäten der Beteiligten berücksichtigt und im wechselseitigen Aushandlungsprozess verstanden werden.“ (S. 194)

Den Autor:innen geht es um die Sichtweisen der ehemaligen Protestierenden auf ihren damaligen Kampf. Heute lebt nur noch einer von ihnen in Berlin. Für die im Buch abgedruckten Interviews fuhren die beiden Herausgeber:innen dorthin, wo es die übrigen Arbeiter:innen bei ihrer Suche nach Lohnarbeit geführt hatte. Die Beurteilungen ihres Kampfes fallen unterschiedlich aus. Allerdings geben viele an, dass der gemeinsame Kampf wichtig war. Auch die Unterstützung der FAU (Schlafplätze, juristische Hilfe, Flyerdruck, sonstige finanzielle Unterstützung, Pressearbeit, Recherche etc.) wird häufig als sehr positiv bewertet. Negativ wird der verlorene Kampf vor Gericht eingeschätzt. Aber auch wenn die Klagen um den geprellten Lohn allesamt zu Ungunsten der Arbeiter:innen ausfielen, liegt mit dem Buch, neben einer gelungenen historischen Bestandsaufnahme und einer Dokumentation der Misere vieler Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund auf dem deutschen Arbeitsmarkt, reichlich Reflexionsmaterial für zukünftige Arbeitskämpfe vor.

Neben der Rekonstruktion und Bewertung der Ereignisse um die von den Protestierenden sogenannte „Mall of Shame“ unternehmen die Herausgeber:innen den Versuch, diese Ereignisse in andere Kämpfe und Formen widerständigen Handelns von Arbeiter:innen einzuordnen. So ist beispielsweise ein Interview mit dem mittlerweile wieder aus der Haft entlassenen rumänischen Arbeiter Daniel Neagu abgedruckt. Weil er keinen Lohn auf einer Baustelle erhalten hatte, setzte er sich in einen Bagger und riss kurzerhand mehrere Häuser, die er zuvor mitgebaut hatte, ein und filmte sich dabei. In zwei Beiträgen des Berliner Juristen Klaus Stähle werden zudem arbeitsrechtliche Fragen erläutert. Den Abschluss bildet ein Artikel der Sozialwissenschaftler Peter Birke und Felix Blum, die sich Fleischfabriken und Arbeitsmigration unter anderem im Oldenburger Münsterland widmen und dabei versuchen, einen Bogen zwischen Grenz- und Verwertungsregime zu schlagen und möglichen Widerstand dagegen auszuloten.

Internationale Solidarität

„Die Migration haben wir nicht in Rumänien erfunden. Sie besteht seit Jahrtausenden. Niemand verlässt sein Land, weil es ihm dort gut geht.“ (S. 26)

Auch Deutschland ist seit vielen Jahren ein Einwanderungsland. Die vorliegende Veröffentlichung lässt die Verschränkungen von kapitalistischer Ausbeutung und rassistischer Arbeitsmigration, sowie die Lebensrealität der davon Betroffenen deutlich werden.

Dabei kommen die Kämpfenden selbst zu Wort. Und der Band kann als wertvolle Literatur für kommende Kämpfe gelten, denn Erfahrungen, die Menschen aus ihren Herkunftsländern mitbringen, sind auch gewerkschaftlich nicht zu unterschätzen. Dass im Kapitalismus die Taktik des Gegeneinander-Ausspielens – sowohl von Belegschaften als auch um Löhne und Sozialleistungen – angewendet wird, ist zwar keine neue Erkenntnis.

Dennoch zeigt das Buch anschaulich, wie Klassenunterschiede zwar nicht sofort zu überwinden sind, aber Solidarität untereinander möglich ist. Denn nicht nur Solidarität auf der Strasse wird gebraucht, sondern auch ein langer Atem, um die derzeitigen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen und Netze von Subunternehmen und Briefkastenfirmen zu durchschauen. Es gilt sowohl materielle und sozio-kulturelle Unterschiede als auch Sprachbarrieren zu überwinden.

Die fragmentierte Situation von Arbeiter:innen und die vielen Wechsel der (Arbeits-)Orte erleichtern die Kämpfe nicht. Viele Probleme und Proteste geraten daher schnell in Vergessenheit. Denn obwohl die Zeit des Mall-of-Shame-Protests noch nicht lange her ist, können (oder wollen) sich viele Arbeiter nicht mehr genau an diese Zeit in Berlin erinnern, die unter anderem von Gewalt und Obdachlosigkeit geprägt war.

Die Kombination aus Interviews mit Arbeiter:innen und Analysen zu Migration und Arbeit veranschaulicht prekäre Arbeitsbedingungen von Migrant:innen. Die Herausgeber:innen wollen mit ihrem Buch nicht bloss dokumentieren, sondern sie versuchen, zu klären, wie eine Zukunftsperspektive aussehen und wie man wilde Streiks unterstützen kann.

Schliesslich handelt es sich hier nicht um Einzelfälle, wie am genannten Einstiegsbeispiel der protestierenden Spargelstecher:innen klar wird. Dass hinter der Misere System steckt, macht die darauffolgende Entwicklung klar: Während der andauernden Corona-Pandemie stimmten inmitten der Spargel Erntesaison (ebenfalls im April 2021), auf Druck der Landwirtschaftsverbände und des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, die Abgeordneten des Bundestags einer Ausweitung der sozialversicherungsfreien Zeit für Beschäftigte in der Saisonarbeit zu. Diese ist nun von 70 auf 102 Tage ausgedehnt worden. Das heisst auch, dass die unter diesen Voraussetzungen Beschäftigten in Zeiten einer lebensbedrohlichen Pandemie keine Krankenversicherung haben. So sind einer weiteren Benachteiligung von migrantischen Arbeiter:innen Tür und Tor geöffnet, denn sie sind diejenigen, die meistens den deutschen Spargel ernten.

Ein Umdenken ist zwingend nötig, wenn das oft auf Demonstrationen geforderte Motto „Hoch die Internationale Solidarität“ Wirklichkeit werden soll, zum Beispiel indem gewerkschaftliche, syndikalistische und realpolitische Beratung, Unterstützung und Rechtsschutz für alle gleichermassen gewährleistet und wilde Streiks sowie Arbeitsniederlegungen unterstützt werden.

Mathias Fiedler
kritisch-lesen.de

Hendrik Lackus / Olga Schell (Hrsg.): Mall of shame. Kampf um Würde und Lohn. Die Buchmacherei, Berlin 2020. 197 Seiten, ca. 17.00 SFr. ISBN 978-3-9822036-6-9

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