Heiner Jestrabek, André Lorulot: André Lorulot (1885-1963). Leben und Ideen eines Freidenkers Libre-penseur - Freidenker

Sachliteratur

Anarchismus lebt: Erstaunlicherweise gilt in Wirtschaft, Politik und Kultur Anarchismus heute wieder als hoffähig.

André Lorulot, 1912.
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André Lorulot, 1912. Foto: Edition de l'Idée Libre (PD)

3. April 2024
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Und wie andere Begriffe gegenwärtig auch wird Anarchismus substantiell entkernt, inhaltlich verdreht und damit medial gleitfähig. So konnte ein Javier Milei (*1970) mit seiner Propaganda für einen Anarchokapitalismus Ende 2023 die Wahl zum argentinischen Präsidenten gewinnen, obwohl bekannt ist, dass er die politische Handpuppe des Multimillionärs und reichsten argentinischen Kapitalisten Eduardo Eurnekian ist. Mit klassischem politischen Anarchismus und Freidenkertum hat weder die Person Milei noch sein politisches Programm etwas zu tun. Deshalb ist es wichtig, dass Heiner Jestrabek diesen Band über einen tatsächlichen Anarchisten und Freidenker zusammengestellt und veröffentlicht hat:

In bekannter Weise hat Jestrabek das Buch gegliedert und illustriert: Nach einem längeren Beitrag über Lorulots „Leben, Werk und Ideen eines Freidenkers“ (7-26), der „Literatur Bibliographie Oeuvre Lorulots“ (27-34) folgen autobiographische Texte von Lorulot „Ma vie..., mes Idées.../ Mein Leben...meine Ideen“ (35-192) von Freunden 1973 zusammengestellt und Auszüge aus der religionskritischen Satireschrift „La vie comique de Jésus - Das komische Leben des Jesus“ aus dem Jahr 1934 (193-245) mit Illustrationen im Comicstil von Armageol (eigentlich Armand Gros bzw. Armand Mougeol 1891-1974).

André Lorulot, eigentlich Roulot, wurde 1885 in Paris in armen Verhältnisse geboren, sein Vater als Lithograf tätig, alkoholabhängig und gewalttätig, starb früh an einer Bleivergiftung. Wie in der Zeit üblich arbeitete André 14-jährig als Lehrling, Bote, Buchhalter und bildete sich autodidaktisch in Geschichte, Literatur und Philosophie weiter. Er fand im Vorkriegsfrankreich Anschluss an radikaldemokratische und sozialistische Kreise, schloss sich dann anarchistischen Kreisen um die Zeitschrift „L'Anarchie“ von Joseph Albert (1875-1908) an und wirkte als politischer Redner und Schriftsteller.

Nach Alberts Tod übernahm Lorulot die Leitung der Zeitschrift (1909-1911), davor 1906-1908 beteiligt er sich an der libertär-kommunistischen Wohn- und Arbeitsgemeinschaft „Colonie libertaire“ in Saint-Germain-en-Laye (Yvelines) und wurde als Antimilitarist mehrmals strafrechtlich verfolgt.

Nach dem Krieg engagierte sich Lorulot verstärkt in der Freidenkerbewegung und agitierte gegen den Klerikalismus: Er wirkte ab 1921 als Herausgeber der Zeitung „L'Antireligieux“, 1928 von „La libre pensée“ und als erfolgreicher wie verfolgter Redner der Freidenkerbewegung in allen französischen Departements, in Nordafrika, Belgien und der Schweiz.

Selbstredend engagierte er sich gegen den Faschismus, die deutsche Besatzung und den französischen Kolonialismus. Er hielt ungefähr 2500-3000 Vorträge, gab eine Vielzahl von Broschüren und Bücher, darunter die Satirezeitschrift La Calotte heraus, schrieb sogar Theaterstücke, Romane und Rundfunkbeiträge.

Er starb 1963 in Herblay und ist auf dem Friedhof Père Lachaise (Paris) beerdigt.

Nachdem er den Opportunismus der Sozialisten in Person Aristide Briand (1862-1932) im Zusammenhang mit seiner Verurteilung wegen eines antimilitaristschen Flugblattes 1907 persönlich erfahren (S.12) und sich entgültig mit Ende des 1. Weltkrieges vom militanten Anarchismus eines Viktor Serge (1890-1947) distanziert hatte, nahm er fortan einen unabhängigen aufklärerischen Standpunkt ein: Sein Ideal wurde und blieb seitdem das genossenschaftliche, wie er in seiner Schrift „Ein Blick in die Zukunft“ (153-166) ausführt:

„Mein Ideal ist und bleibt das genossenschaftliche Ideal, das ich dem etatistischen Sozialismus und dem Kommunismus weit überlegener finde. Das Genossenschaftssystem respektiert die individuelle Autonomie; es versucht nicht, die Persönlichkeit zu absorbieren und zu zermalmen; es entlohnt jeden nach seinem Verdienst und seiner Anstrengung; es gewährt privaten Initiativen ein Höchstmass an Freiheit, das mit dem Interesse der Gemeinschaft vereinbar ist.“(156) „Es muss die Genossenschaftsrepublik aufgebaut werden! Das repräsentative System muss verbessert werden, damit der Parlamentarismus endlich zu einer Regierung des Volkes DURCH DAS VOLK wird.“ (166)

Wilma R. Albrecht

Heiner Jestrabek, André Lorulot: André Lorulot (1885-1963). Leben und Ideen eines Freidenkers. Verlag freiheitsbaum, edition Spinoza 2024. 249 Seiten. ca. SFr. 18.00. ISBN: 978-3-922589-75-4.