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Hans Diefenbacher (Hrsg.): Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft.

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Hans Diefenbacher (Hrsg.): Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft. Terrorismus und politischer Anarchismus im Kaiserreich

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Sachliteratur

Hans Diefenbacher gab 1996 diesen Sammelband zum Anarchismus heraus.

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Datum 13. Juli 2025
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Das Besondere daran ist, dass alle Autoren (und eine Autorin) wissenschaftliche Referenten der „Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg“ waren. Mit anderen Worten hatten diese es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, dem anarchistischen Denken etwas Aufmerksamkeit zu widmen. Warum sie dies taten, lässt sich aus dem Vorwort des Herausgebers nicht wirklich herauslesen. Gingen ihnen für dieses Jahr ihrer Beschäftigung ihre Themen aus? Oder kann ihm doch eine heimliche Sympathie für den Anarchismus unterstellt werden, welche er jedoch nicht allzu offen zur Schau stellen wollte?

So oder so trug diese Aufsatzsammlung zur fundierteren Beschäftigung mit anarchistischen Themen bei, als sie allgemein – auch im akademischen Rahmen – üblich war und ist. Betont sachlich begründet Diefenbacher insofern auch in seiner Einführung, dass das Schreckensbild einer chaotischen oder gewalttätigen Ideologie für Wahnsinnige in Frage stellt. Damit stellt er fest, dass Beschäftigungen mit Anarchismus stets mit einer Negation der Negation beginnen: Sprich, die Zurückweisung des Zerrbildes des Anarchismus ist gleichzeitig ein Bestandteil seiner Selbstdefinition. Richtigerweise wird auf die Grundlagen der Antiautoritären Internationale (1864-1872) verwiesen und Bakunin als ein wichtiger Angelpunkt bei der Entstehung der explizit anarchistischen Bewegung Europas angesehen.

Ein besonderes Augenmerk scheint im vorliegenden Band dabei auf der Phase der „Propaganda der Tat“ zu liegen – von welcher sich die Autoren vehement abgrenzen. (Dazu morgen Notizen zum Beitrag von Wolfgang Bock.) Eine sachlich-kritische Beschäftigung mit dem Anarchismus tut sicherlich allgemein gut. Leider zeigt sich auch beim vorliegenden Sammelband, dass die Autoren mal von ihrem hohen Ross steigen und einfach mit real existierenden Anarchist*innen in ihrem Umfeld hätte sprechen können. Immerhin reproduzieren sie mit der reflexartigen Warnung vor „Dogmatismus“ und „Gewalttätigkeit“ Vorurteile, die vermutlich nicht einmal auf eigene Erfahrungen gründen.

Abschliessend formuliert Diefenbacher, in für eine Anthologie gewohnter Bescheidenheit und Allgemeinheit:

Die Geschichte der anarchistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden. Es ist die Geschichte einer in sich noch einmal zersplitterten Minderheit, die dennoch immer wieder politisch wirksam wurde […]. Die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist jedoch nicht untergegangen; von ihr geht immer wieder die Kraft einer regulativen Idee aus, um so mehr, als die vom Marxismus ausgehende Variante der Vorherrschaft der Arbeiterklasse ihre Überzeugungskraft am Ende des 20. Jahrhunderts verloren hat.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen ein weites Spektrum von einander teils sogar widersprechenden Ideen. Der Traum vom neuen Menschen, mit dem die beste aller Gesellschaftsordnungen neu zu verwirklichen sei, wurde auch von Anarchisten geträumt. Offenkundig sind jene, die diesem Ideal nacheifern, besonders anfällig für Dogmatismus jeglicher Art.

Der vorliegende Band soll also nicht mehr, aber auch nicht weniger, als einige der anarchistischen Modelle für eine Gesellschaftstheorie vermitteln und erneut zur Diskussion stellen. Welcher Ertrag eine solche Diskussion für die Entwicklung einer anderen Art des Wirtschaftens und der Arbeitsteilung angesichts der Arbeitslosiggkeit und des technischen Fortschritts, für die Entwicklung neuer Formen der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums innerhalb und zwischen den Generationen und schliesslich für die Entwicklung von Strukturen für einen schonenderen Umgang mit den Ressourcen der Natur haben könnte – dafür gibt auch dieser Band allenfalls erste Hinweise. (S. 23)

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Hans Diefenbacher (Hrsg.): Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996. 229 Seiten. ca. SFr. 27.00. ISBN: 978-3534129959.