Goran Musić: Making and Breaking the Yugoslav Working Class Unruhe in der Selbstverwaltung

Sachliteratur

Die Arbeiterselbstverwaltung war eine Besonderheit des jugoslawischen Sozialismus. Eine Doktorarbeit untersucht die sozialen Ungleichheiten in diesem System.

Arbeiter in der TAM-Fabrik bei Maribor, Mai 1961.
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Arbeiter in der TAM-Fabrik bei Maribor, Mai 1961. Foto: Dragiša Modrinjak (PD)

6. August 2021
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Die Augen zusammengekniffen, vom grellen Sonnenlicht und den schweren theoretischen Fragen: So mögen Linke aus Ost und West auf Einladung der Belgrader Praxisgruppe auf der Adria-Insel Korčula zwischen 1963 und 1974 wichtige gesellschaftliche Fragen diskutiert haben. Eine davon: die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung. Mit grosser Faszination blickten antistalinistische, westdeutsche Linke auf ein Modell, das sich die Losung „die Fabriken den Arbeitern“ auf die Fahnen geschrieben hatte. Fast fünf Jahrzehnte später existiert dieser Reiz nur noch als Fossil, mit seiner Versteinerung ist auch das Wissen in Nischen verschwunden.

Sozialgeschichtliches Interesse an der Arbeiterselbstverwaltung

Seit einigen Jahren gibt es nun einen transnationalen Kreis von Historiker:innen, die zur jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung forschen. Mit mikrogeschichtlichen und sozialhistorischen Ansätzen untersuchen sie die Erfahrung der Arbeiter:innen und die inneren Widersprüche dieses ökonomischen Modells. Einer von ihnen ist Goran Musić, der mit „Making and Breaking the Yugoslav Working Class“ jüngst seine Doktorarbeit veröffentlichte. Darin geht er der Frage nach, wie Fabrikarbeiter:innen in Jugoslawien die wiederkehrenden Krisen wahrnahmen.

Er spannt einen Bogen von den Anfängen der Arbeiterselbstverwaltung 1950 bis in den langen Sommer der Streiks des Jahres 1988. Während zwischen 1980 und 1988 Jugoslawien zu den europäischen Ländern mit der höchsten Streikaktivität zählte, wurden besonders zwei Metall-Unternehmen in Jugoslawien zum Sinnbild für die Arbeitskämpfe: TAM im wohlhabenden Norden, in der Nähe der slowenischen Stadt Maribor und IRM in der Nähe der Hauptstadt Belgrad, im ökonomisch nicht so stark prosperierenden Süden Jugoslawiens.

Anhand dieser beiden Fallbeispiele erzählt Musić eine Geschichte des Auseinanderklaffens zwischen Versprechen der Selbstverwaltung und der Erfahrung der Arbeiter:innen als Geschichte sozialer Ungleichheit. Ungleicher Lohn im Land der Brüderlichkeit und Einheit

Im Jahr 1968 verdienten TAM-Arbeiter:innen 39 Prozent mehr als ihre jugoslawischen Kolleg:innen. Von Norden nach Süden verlief in Jugoslawien ein Lohngefälle, das von vielen als ungerecht angesehen wurde. Trotz Umverteilungsinstrument drifteten die sozialen Realitäten weit auseinander. Gleichzeitig klaffte auch zwischen Fabrikarbeiter:innen auf der einen und Büroarbeiter:innen in der Verwaltung der Fabrik, sowie Ingenieur:innen und Manager:innen auf der anderen Seite eine grosse Lohnlücke.

Über die Lohnhöhe entschied formal der Arbeiterrat einer Firma, unter Einflussnahme von Manager:innen und Direktor:innen – innerhalb des politischen Rahmens der Bundesregierung. Je nach Phase der Selbstverwaltung hatten sie grösseren oder kleineren Entscheidungsspielraum. Während die erste Phase der Selbstverwaltung in den 1950ern noch von der starken Identifikation mit der Fabrik und dem Konzept getragen war, bröckelte mit marktorientierten Reformen ab der zweiten Hälfte der 1960er die Einheit innerhalb der Fabrik und die Lohnunterschiede wurden zum Zündstoff.

Entfremdung von der Selbstverwaltung

Musić nimmt in beiden Fabriken unter dem Druck grösserer Profitabilität und dem erstarkenden Einfluss von Manager:innen und Verwaltungsangestellten, sowie Spezialist:innen eine Entfremdung zwischen Fabrikarbeiter:innen und den Selbstverwaltungsorganen wahr. Auch mit der sukzessiven Stärkung der Selbstverwaltungsstrukturen durch weitere Gremien und stärkere Einflussmöglichkeiten bei Rücknahme der Marktliberalisierung ab 1976 bleibt diese Entfremdung bestehen.

Doch wieso bestanden sowohl geographisch als auch zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsgruppen in einem sozialistischen Land so grosse Unterschiede? Ideologisch rechtfertigte der Slogan „Verteilung nach Arbeit“, der einen Anreiz zur Produktivitätssteigerung schaffen sollte, eben diese Lohnungleichheit. Fabrikarbeiter:innen eigneten sich die Parole an und griffen auf ihrer Grundlage die höheren Löhne des Verwaltungs- und Leitungspersonals an; sie würden keinen Wert schaffen und seien nur „Nebenkosten“.

Diese tobende Auseinandersetzung um die Legitimation der Lohnhöhe legt Goran Musić mit Sinn für Details und illustrativen Karikaturen aus der Betriebszeitung dar. So wird nachvollziehbar, wie sich Fabrikarbeiter:innen in der Selbstverwaltung als Mehrwertproduzent:innen betrachteten und die Manager:innen und Funktionär:innen als ihre Ausbeuter:innen sahen.

„Die Hauptfunktion der Arbeiterselbstverwaltung war stets die Integration von Facharbeitern in die Unternehmensentscheidungen und die Verbreitung des Geistes von kostengünstiger und effizienter Produktion auf der Werksebene.“ (S. 252, Übersetzung MB)

Besonders anschaulich werden die sozialen Unterschiede, wenn sich Goran Musić den Wohnverhältnissen widmet. Diese reichen von einer Werkswohnung, über informelle Siedlungen am Stadtrand zu einem ländlichen Leben. Auch das hatte Auswirkungen auf ihre Perspektive auf die Selbstverwaltung. Die:der Leser:in kann so nachvollziehen, wieso ein:e Arbeiter:in, der:die auf dem Land lebte, wenig geneigt war, sich in die Arbeiterselbstverwaltung einzubringen. Nach einem langen Arbeitsweg hatten Arbeitende wenig Lust, sich nach Feierabend in ein Selbstverwaltungstreffen zu setzen, dessen politische Sprache ihnen oft fremd war.

Streiks in den 1980ern

Die lange Geschichte der sozialen Unterschiede kulminierte dann mit der ökonomischen Krise in den 80ern in massenhaften Streiks – so auch in Maribor und Belgrad. Jedoch auf ganz unterschiedliche Weise: Während die Arbeiter:innen von TAM aus Maribor Titobilder und „Brüderlichkeit und Einheit“-Banner hervorkramten, riefen die Belgrader Arbeiter:innen vor dem Parlament nach Slobodan Milošević. Sehr nachvollziehbar erläutert Goran Musić, wie der nationalistische Diskurs Miloševićs mit seiner serbischen Selbst-Viktimisierung, der vermeintlichen Ausbeutung durch die reichen nördlichen Republiken und der angeblich aufgeblasenen Bürokratie der autonomen Republiken Kosovos und Vojvodinas, plötzlich anschlussfähig für die Klagen der Arbeiter:innen wurde: Sie sahen eine Parallele zu ihrer Kritik an einer ausbeuterischen Unternehmensbürokratie.

Doch eine allzu eindeutige Antwort auf die Frage, warum sich die Arbeiter:innen hier dem marktliberalen Milošević zuwandten, der sich noch die Sozialismusnadel ans Revers heftete und mit marxistischem Vokabular hantierte, gibt Musić nicht. Er bleibt bei Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen, wenn er abschliesst:

„Während die Medien und der politische Diskurs begannen, der vorgeblich primären Rolle der Arbeiter:innen als Schöpfer:innen von gesellschaftlichem Wohlstand und Selbstverwalter:innen weniger Wert beizumessen, waren diese dazu geneigt, einige ihrer anderen gesellschaftlichen Rollen und Identitäten zu betonen, als Mütter, Heranwachsende oder Angehörige einer unterdrückten Nationalität.“ (S. 255, Übersetzung MB)

Goran Musić hat ein umfangreiches und beeindruckendes Werk vorgelegt, dass mit scharfen Analysen unter anderem die Konkurrenz zwischen Unternehmen sowie die daraus mangelnde Solidarität unter Arbeiter:innen unterschiedlicher Betriebe herausarbeitet. Er zeigt auch, dass die Strukturen der Selbstverwaltung keine Organisationsformen für den Ausdruck ihrer Unzufriedenheit boten; der Streik wurde jenseits dieser Gremien organisiert. Dabei beweist er auch immer Talent für spannende Erzählungen und die Auswahl anschaulicher Interviewzitate.

Mirjam Baumert
kritisch-lesen.de

Goran Musić: Making and Breaking the Yugoslav Working Class. The Story of Two Self-Managed Factories. CEU Press, Budapest 2021. 284 Seiten. ca. 84.00 SFr. ISBN 978-963-386-339-8

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