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Kritik des Familismus | Untergrund-Blättle

3008

Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes Kritik des Familismus

Sachliteratur

Will man dem Wörterbuch der Soziologie von Karl-Heinz Hillmann glauben, dann handelt es sich bei Familismus um die „Herrschaft der Familie, soziolog. Bezeichnung für eine Sozialstruktur, in der – inbes. in vormodernen Gesellschaften – die Familie die für die soziale Existenz des einzelnen Menschen wie für den gesellschaftl. Zusammenhalt zentrale soziale Instanz darstellt“.

Kritik des Familismus.
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Kritik des Familismus. Foto: Karin Beate Nøsterud - norden.org (CC BY 2.5 cropped)

8. März 2016
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Nach dem Wörterbuch ist Familismus also eine bestimmte Form der Gesellschaft. Diese Bestimmung von Familismus findet sich auch auf dem Buchrücken von Gisela Notz‘ Buch: „Familismus bezeichnet die weitgehende Identität von Familie und Gesellschaft. Danach bildet das System aller Familien das Gemeinwesen.“ (Buchrücken).

Allerdings belässt sie es nicht dabei, mit Familismus einen objektiven Zustand der Gesellschaft zu bezeichnen: „Familismus ist auch die Überbewertung des familiären Bereichs als Quelle für soziale Kontakte. In familistischen Gesellschaften – dazu gehört die Bundesrepublik Deutschland -gilt die Familie als der Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Organisationen“ (Buchrücken). Spätestens mit dem ersten Satz des Buches ist die Doppelung des Begriffs vorgelegt: „Bei diesem Buch geht es um die Kritik am Familismus als Überbetonung der familialen Ordnung, die je nach herrschendem Gesellschaftssystem und sozialer Lage der Individuen Verschiedenes bedeuten kann.“ (8) Gisela Notz versteht im weiteren ihres Buches unter Familismus dann auch nicht „die weitgehende Identität von Familie und Gesellschaft“ (Buchrücken), sondern die „Überbetonung der familialen Ordnung“ (8), was die erste Definition ja gerade ausschliesst: Es wäre ja gerade keine Überbetonung der familialen Ordnung, wenn in der BRD tatsächlich eine weitgehende Identität von Familie und Gesellschaft gegeben wäre.

Familismus ist nach Notz also die Überbewertung der klassischen Familie. Diese sei nicht zuletzt zu kritisieren wegen „Hass und Gewalt, die Menschen in eben dieser Familie allzu oft erfahren“. (196/197). Als Formen dieser Gewalt benennt sie „Vergewaltigung“, „Misshandlung von Kindern“, „nicht mehr zu reparierende [sic!] psychische und physische Schäden“ (197) etc. Notz weiss also durchaus um das, was bürgerliche Subjekte in Ehe und Familie sich und ihren „Liebsten“ so antun.

Der Ursache dieses Übergangs von „ich hab dich lieb“ zu „ich schlag dich tot“ widmet sie aber keine Zeile. Im „privaten Glück der Familie“ sucht das bürgerliche Individuum Entschädigung für all das, was ihm im Erwerbsleben abverlangt wird. Anders als im Konkurrenzkampf ums Geldverdienen mit seinen Härten und Misserfolgen, soll es im trauten Heim und bei seinen Lieben ganz um einen selbst gehen; da soll die eigene Person Liebe und Anerkennung erfahren und alles wieder gut gemacht werden, was man ansonsten an Negativem erlebt. Dass das Familienleben alles wieder rausreissen muss, ist ein Anspruch, den die Partner aneinander und an die Kinder stellen und den sie bei den vorprogrammierten Enttäuschungen gegeneinander wenden.

Das bürgerliche Ideal, die Anstrengung für fremden Reichtum, mit der das Arbeitsleben ausgefüllt ist, und das meist mässige materielle Ergebnis, über das man selbst verfügen kann, so „ausgleichen“ zu können und zu wollen, wird von Notz nicht kritisiert, sondern vielmehr bedient, indem sie die Akzeptanz alternativer Lebensformen einfordert: Der Staat soll doch endlich erkennen, dass nicht nur die traditionelle Familie, sondern auch die Homos, die Wagenburgler und die Wohngemeinschaften dieses Ideal bedienen können (vgl. 215)!

Zur Aufgabe der Familie, „Keimzelle des Staates“ zu sein, findet sich kein schlechtes Wort in diesem Büchlein, einzig der Hinweis, dass dies dem „Staat Sozialleistungen“ (100) erspart – diese ganze „Funktion im Wohlfahrtsstaat“ (Seite 100 – 102) ist allerdings kaum beleuchtet – und gegen die Politik erhebt die Autorin vor allem den Vorwurf mangelhafter Gleichberechtigung: „Man könnte <> aufgeben und etwa durch <> ersetzen. Überflüssig würde auch die Familienpolitik, denn es genügte eine Politik für Menschen. Das wäre das Ende des Familismus“ (225).

Ihr Aufruf zur Gleichberechtigung verschiedener Lebensweisen ist ein Aufruf an den Staat, doch die einseitige Förderung der traditionellen Familie zu unterlassen (eigentlich das ganze Kapitel 8.3) und stattdessen zu erkennen, dass auch andere Modelle des Zusammenlebens das erbringen können, was der Staat einer „Keimzelle“ abverlangt.

Damit ist Notz auf der Höhe der Zeit, hat die Politik doch bei den Homosexuellen bereits deren Potenzial für die Reproduktion der Gesellschaft erkannt. Die dürfen ihre Lebenspartnerschaft standesamtlich eintragen lassen und sind dann, ganz wie Eheleute, lebenslang dazu verpflichtet, einander materiell zu versorgen. Bei der zweiten Funktion der „Keimzelle“ – Produktion und Aufzucht neuer Staatsbürger – hapert es zwar, was die Produktion angeht. Kinder aufziehen, das können und dürfen sie aber, mit allen rechtlichen und materiellen Verpflichtungen, die zum Elterndasein gehören. Und wenn erst Wagenburgen auch als eingetragene Lebensgemeinschaft anerkannt sind, dann kommen noch die alternativsten Lebensentwürfe in den Genuss, vom Staat benutzt zu werden. Dann wird vor der Auszahlung von Hartz IV erstmal die alternative Wohngemeinschaft in Haftung genommen, bei Krankenhausaufenthalten das polyamoröse Netzwerk zur Kasse gebeten und für die Kinder dürfen dann drei Väter aufkommen…

Berthold Beimler

Gisela Notz: Kritik des Familismus. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015, 222 Seiten, ca. 14.00 SFr. ISBN 3-89657-681-X.

Anmerkung:

Alle Zitate aus dem Buch bis auf Hillmann, Karl-Heinz 2007: Wörterbuch der Soziologie.

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