Gérard Mendel: La Révolte contre le Père Vaterlandslose Gesell:innen werden

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Sachliteratur

Beim Spazierengehen zog ich diese dritte Auflage veiner Einführung in die Sozialpsychoanalyse von Gérard Mendel aus einem Umsonstregal.

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Datum 24. August 2023
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Auf welchen Wegen auch immer diese Ausgabe durch Zeit und Raum in meine Umgebung gelangt ist, finde ich sozialpsychologische Herangehensweisen interessant. Weil diese heutzutage kaum verbreitet sind, haben wir es in den Universitäten vorrangig mit auf Individuen verkürzter Psychologie zu tun. In dieser werden weiterhin widerlegte Studien wie das Milgrim-Experiment als Paradigmen in den ersten Semestern gelehrt – wodurch die ideologische Dimension und Funktion der Disziplin offenbar wird.

Ohne fundierte und kritische Sozialpsychologie, fühlen sich auch zahlreiche verschwörungsmythologische Wahn-Bürger*innen bemüssigt, ihre panische Abwehrreflexe gegen progressive Genderverständnisse, Geflüchtete oder Linke zu rechtfertigen. Ob man sich auf Quantenmechaniken oder Psychoanalysen bezieht, ist in diesen welt-verkennenden Kreisen ziemlich egal. Nicht zu Letzt war auch dies einer der Gründe, warum bereits Gustav Le Bons Psychologie der Massen (1895), auf so starkes Interesse beim reaktionär werdenden Bürgertum stiess.

Die Revolte gegen den Vater ist jedenfalls ein wiederkehrendes Urbild der Psychoanalyse – und lässt sich daher auch gut zur dilettantischen Interpretation für die Zuspitzung von Protesten sozialer Bewegungen in Umbruchszeiten heranziehen. Und meine eigene Küchenpsychologie lehrt mich: Wer nicht gegen den eigenen Vater rebelliert (oder rebellieren kann), kann sicherlich auf verschiedene Weisen unterstützende Aufgaben in Aktivist*innenkreisen annehmen, Gruppen moderieren oder Gesprächspartner*in sein. Doch bei den Besessenen steht im Hintergrund stets auch ein ganz subjektiver Antrieb der individuell notwendigen Revolte gegen Autoritätspersonen. Wer aber verkörpert diese – ausgehend von der bürgerlichen Kleinfamilie als Standardmodell – besser, als der eigene Vater?

Väter nerven; weil Väter oft alte weisse Männer sind. Und in dieser von aussen zugeschobenen und oftmals auch selbst eingenommenen Rolle, sagen sie, wo es lang geht. Vor allem, wenn sie dann auch noch ein bürgerliches Bewusstsein haben. Väter scheinen äusserst viel zu wissen. Das kann ziemlich beeindrucken. Was diesen Eindruck aber erzeugt, ist insbesondere die Überzeugung von ihren eigenen Meinungen. Sie meinen zu wissen wie die Welt ist. Und das ist schon einmal grundfalsch und dumm. Wer die Autorität des Vaters pubertär anzweifelt, wird dessen Zorn zu spüren bekommen. Im Affekt reagiert der Typ irrational, wird laut, unsachlich, verkennt die Situation, wertet den Gegenpart – oder das, was er auf ihn projiziert – ab. Das ist für alle Beteiligten nicht nur peinlich, sondern auch einschüchternd. Wenn er seine Beherrschung verliert, degeneriert der Vater zum Idioten in sozialen Belangen und brüllt seine persönlichen Meinungen nun autoritär heraus.

Wer solchem Verhalten immer wieder ausgesetzt ist – zum Beispiel, weil man als Jugendlicher einem Haushalt angehört und sich weder rechtlich noch materiell von diesem mal einfach so lösen kann – hat nicht so viele Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Dass ist eben das Problem mit der Kraft seiner weiss-bürgerlichen Männlichkeit angemassten Autorität – es schockiert, wenn Menschen so auftreten. Leider reagieren zu viele mit Unterwerfung, weil ihr eigener Charakter schwach ist, ihre Argumente schlecht sind und sie sich vereinzeln lassen. Statt sich mit Anderen zu solidarisieren, verbünden sie sich mit ihresgleichen in der Jungs-Clique. Sie sind früh dazu disponiert, selbst alte weisse Männer zu werden. So wählen etliche von ihnen beispielsweise schon mit 18 zum ersten Mal AfD und äussern damit ihre konformistische Pseudo-Revolte.

Dahingehend geht die antiautoritäre Revolte in die Konfrontation mit den gesellschaftlichen Autoritäten. Ausbildungsstätten, Polizei, Behörden ziehen ihren Hass auf sich – und das nicht zu unrecht, denn auch die hierarchische Kleinfamilie und erfahrenen Konkurrenzsituationen entstehen ja durch eine durch Herrschaft strukturierte Gesellschaft, die sich in der unmittelbaren Lebensumgebung konkret äussert. Schön wäre allerdings, der antiautoritär eingestellte Jugendliche würde sich mit eben solcher Vehemenz mit dem Kapitalismus als ökonomischen Herrschaftsverhältnis befassen – doch ist dieser leider schwerer zu greifen. (Auch wenn am Ende der Ausbeutungskette letztendlich in der Regel wieder ein alter weisser bürgerlicher Mann steht.) Premium wäre es, wenn der Antiautoritäre ferner das patriarchale Herrschaftsverhältnis begreifen und – bei sich selbst angefangen – hinterfragen und abbauen würde. Doch aufgepasst: Viele Zecken haben mittlerweile begriffen, was die Codes des neuen Mannes sind! (Man messe ihre Emanzipation nie vor allem daran, ob sie beknackte Frisuren tragen, feministische podcasts hören oder „ich versteh dich voll“ sagen…)

Das Problem ist: Wer antiautoritär gegen die Person in der sozialen Rolle des Vaters rebelliert, ist keineswegs davor bewahrt, selbst ein ebensolcher zu werden. Denn wo die Autorität und die Gewalt auftritt, ist es schwierig, einen sinnvollen Umgang mit ihr zu finden, mit welchem diese nicht einfach gespiegelt und damit reproduziert wird. Daher ist sind Subversion und Argumentation das Gebot der Stunde. Es gilt den Vater lächerlich zu machen, ihm auszuweichen, ihm argumentativ entgegen zu treten, ihn hinter sich zu lassen. Gleiches geschieht in der Revolte gegen Vater Staat (der bekanntlich das Mutterland beschützt…) Wer ihm gegenüber in noch so krasser Ablehnung und mit aggressivem Gebaren auftritt, ist nicht davor gefeit, sich rücklings von seiner Logik einfangen zu lassen und Herrschaftsempfinden und -denken zu reproduzieren. Wer emanzipatorisch und radikal gegen den Staat aufbegehren möchte, sollte deswegen nach Möglichkeit auch das eigene Verhältnis zum Vater auf die eine oder andere Weise klären…

Der antiautoritäre Reflex bleibt auch nach Jahrzehnten antiautoritärer Revolte eine Herausforderung. Als eindeutige Vorbedingung zur Selbstbestimmung wird er zu wenig verstanden und bewusst gemacht. Zugleich bleibt selbst er in unseren Zeiten schwach ausgeprägt bzw. nicht weit verbreitet. Vielleicht liegt der Grund darin, dass die Hoffnung darauf erloschen ist, mit den väterlichen Abhängigkeitsverhältnissen brechen zu können, den Zumutungen der Autorität entgehen zu können. Vielleicht verschleiert sich patriarchale Staatlichkeit ihre Grundlagen und Auswirkungen auch mehr denn je mit vermeintlicher Expertise und wohlwollendem Pädagog*innen-Sprech. An Gründen zum Aufbegehren mangelt es nicht. Da die Rebellion keiner objektiven Situation, sondern einem weit verbreiteten Gefühl entspringt (welches nichts desto trotz spezifische materielle und kulturelle Bedingungen hat), sind die Ursachen für die Unpopularität des Revoltierens in Deutschland, auf der emotionalen Ebene zu suchen. Nicht individuell, sondern sozialpsychologisch, meine ich.

Jonathan Eibisch

Gérard Mendel: La Révolte contre le Père. Payot Paris 1969. 260 Seiten ca. CHF 14.00. ISBN: 978-2228319713.