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Fritz Güde: Umwälzungen | Untergrund-Blättle

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Fritz Güde: Umwälzungen Die Kämpfe nicht zweimal verlieren

Sachliteratur

Viele Umwälzungsversuche der letzten Jahrzehnte sind gescheitert. Warum das kein Grund zur Resignation sein darf.

6. März 2023
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Geschichte einer gescheiterten Revolution, Geschichte einer Linken, die trotzdem weitermacht, politische Geschichte einer Person: In dem Band „Umwälzungen“ verdichtet sich all das. Fritz Güde, Lehrer und Publizist, hat vieles erlebt und vieles gewälzt. Die Auswahl seiner seit Anfang der 1980er Jahre erschienenen Texte zu einer schier unbegrenzten Bandbreite von Themen geben Zeugnis davon. Eines der Medien, bei denen seine Texte erschienen sind, ist kritisch-lesen.de. Das Rezensionsmagazin wurde von Fritz Güde mit gegründet. Unser Selbstverständnis, nach nun fast fünf Jahren immer noch unverändert, stammt massgeblich aus seiner Feder. In den Monaten gemeinsamer Arbeit hat er die Redaktion mit Anregungen und Kritik bereichert und wesentlich zur inhaltlichen Auseinandersetzung beigetragen.

Sein 80. Geburtstag war Güdes langjährigen Weggefährten Thomas Trüten, Patrick Schreiner und Sebastian Friedrich Anlass, eine Auswahl dieser Texte gesammelt herauszugeben. In dieser Sammlung können die Leser_innen Güdes politischen Spuren und mit seinen Auseinandersetzungen der Geschichte der internationalen Linken des 20. und 21. Jahrhunderts folgen. In Rezensionen und Artikeln befasst er sich mit linker Geschichte, Faschismus, Antifaschismus, Literatur und Kultur, tritt in den Dialog mit Mao, Pjotr Kropotkin, Erich Fried, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Guy Debord und Christa Wolf, wälzt ihre Ideen, ihre Taten und ihre Einflüsse. Einer seiner wichtigsten Stichwortgeber ist dabei immer wieder Walter Benjamin und dessen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Eingeleitet wird die Sammlung von Georg Fülberth mit einem Text zur Geschichte der politischen Linken in Deutschland seit Marx.

Güde, Jahrgang 1935, wurde durch die 68er-Revolte politisiert. In den frühen 1970er Jahren trat er dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) bei. Dieses Engagement zur Anklage gemacht, wurde er 1974 als Lehrer suspendiert – als einer der ersten einer ganzen Berufsverbotswelle. Doch seinen Aktivismus gab er nicht auf, im Gegenteil. Seine Tätigkeiten im KBW behielt er zunächst bei und wurde zusätzlich im Komitee gegen die Berufsverbote und die politische Entrechtung im öffentlichen Dienst tätig. Obwohl sein Berufsverbot 1978 aufgehoben wurde, trat er nie wieder den Dienst in einer staatlichen Schule an. Politisch und publizistisch aktiv ist er bis heute.

Die Niederlagen und das Scheitern linker revolutionärer Umwälzungsversuche sind Güdes wichtigste Bezugspunkte. Nicht zufällig entstanden alle hier versammelten Texte nach der Auflösung des KBW, welche für viele, die so hart gekämpft hatten, in die Resignation und/oder die Realpolitik führte. Beides war, so ist es dem Nachwort zu entnehmen, keine Option für Güde. Hier kommt Walter Benjamins Kritik am Fortschrittsglauben eine wichtige Rolle für Güdes Denken zu. Der Glaube an eine gewisse Zukunft führe entweder zu Bequemlichkeit oder – schlimmer noch – verleite dazu, eigene Verfehlungen auszublenden. Wer die Geschichte vergesse und ihre Trümmer begrabe, verliere die Kämpfe wieder und wieder. Wer nichts als die Gewissheit einer besseren Zukunft in den Händen halte, könne angesichts der fürchterlichen Verhältnisse und der Macht des Kapitalismus nur verletzt werden. Diese Erkenntnis liess es vielen so schwer fallen, sich nach Rückschlägen wieder aufzurappeln und weiter zu machen. Deshalb müsse es den Rückgriff auf Geschichte, auf gemachte Erfahrungen und zugefügte Narben geben. Sinnbildlich mag hier Güdes Auffassung der Rolle des Proletariats sein: Dieses zehre nicht aus dem Ideal einer befreiten Gesellschaft der Zukunft, sondern aus den Unterdrückungen und Versehrungen der Vergangenheit.

Genau diese Überzeugung macht den Nutzen des Buches deutlich, denn es wird nicht an Aktualität verlieren. Auch in fünf, zehn, 20 Jahren werden die Reflexionen Güdes auf den Verlauf der Geschichte lohnend für die andauernden Kämpfe sein. Der Ausgang der Geschichte ist nicht absehbar. Aber Linke müssen verstehen, wie sie das wurden, was sie sind. Sich der Vergangenheit abzuwenden und auf eine bessere Zukunft zu warten, führt oft genug zu Resignation und Untätigkeit. Diese Perspektive ist es dann auch, die sich im Selbstverständnis und vor allem im Namen von kritisch-lesen.de niedergeschlagen hat. Dort heisst es: „Wer meint, im Voraus zu wissen, was sein wird, ergibt sich“. Mit dem Wort Kritik ist eine ganz gezielte Form der Intervention gemeint: Erfahrungen aus den Niederlagen sind zu reflektieren und Gewissheiten zu hinterfragen. Nur so schaffen wir den „Blick ins Freie“.

Güdes Gedanken zu folgen ist nicht immer leicht. Sie sind gespickt mit Verweisen, die tiefe Kenntnis politischer und historischer Art erfordern. Wer sich darin aber zurecht findet, dem oder der steht ein grosses Lesevergnügen bevor. Hier wird nicht nur sachliches Wissen verbreitet, sondern tiefe, radikale und philosophische Gedanken, gern auch mit einer Prise Witz versehen, und immer leidenschaftlich.

Andrea Strübe
kritisch-lesen.de

Fritz Güde: Umwälzungen. Schriften zu Politik und Kultur. Edition Assemblage, Münster 2015. 220 Seiten. 24.00 SFr. ISBN: 978-3-942885-97-3.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.

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