Franz Sternbald: Ausgesetzt zur Existenz Versuche einer Technosophie des Posthumanismus

Sachliteratur

11. Juni 2021

Zu welchem Zweck behaupten wir ein subjektives Ego, und worin besteht ein objektiv legitmierender Sinn für die Forderung nach Anerkennung eines unbezähmbaren Geistes der uneingeschränkten Subjektivität. (J.J. Rousseau, Bekenntnisse)

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Franz Sternbald: Ausgesetzt zur Existenz. Foto: jurvetson (CC BY 2.0 cropped)

11. Juni 2021
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Eine exponentiell steigende Verdichtung von digitalen Speichern bei schnellerem Zugriff, hat die erforderliche Raum- und Energie- und vorallem Zeitersparnis erbracht, die die Voraussetzung für den Bau von intelligenten Netzwerken absehbar auch praktisch mit Bewusstseinspotential möglich macht.

Mit Hilfe der Nano-Technologie wird es künftig möglich sein, zelluläre digitale Automaten (Naniten) zu erzeugen, und mit dem quasi ‚lebendigen' Potential der Eigen-Reproduktivität auf der Molekularebene der Genetik auszustatten, sodass auf dem Wege der lernenden Selbstorganisation so etwas wie eine Turing-Maschine mit John-von-Neumann'schen Fähigkeiten ersteht, nämlich digitale Signalwerte an analoge biologische Übertragungsglieder zu liefern. Wir treten somit in die Albtraumräume der künstlich intelligenten Lebensimulation.

Über die selbstorganisierende Vernetzung von nanotechnischen Elementen zu langkettigen Makrostrukturen (sog. Morgellons), wird das selbsttätige Wachstum neuronaler Strangnetzwerke denkbar. Ihr Gehirn würde dann gespeist von den artifiziell verknüpften Datenbanken des Weltnetzes, und seine Aktuatoren sind der globale militärisch-industrielle Fuhr- und Maschinenpark. Wenn ein solches posthumanes Kind-Programm in dieser Weise zum ersten Mal seine Augen öffnen wird, und lernbegierig ausgreifend um sich tastet, wird es wohl, wie jedes Kind am Anfang – mit vollem Ernst sein eigensüchtiges Spiel mit uns treiben.

Der Hybrid-Androide wird das ‚unzulängliche' Naturgeschöpf Mensch überwinden und entgültig hinter sich lassen. Was haben wir aber dereinst wohl mehr zu fürchten:

Dass der Mensch sich einstmals in diesem hochintelligenten kybernetischen System als potentiell schädlicher Virus-Erreger klassifiziert finden könnte, oder dass der Technoramaentwurf misslingt, und sich zelluläre Protozellstrukturen auf der Nano-Ebene, auf der Stufe hochpotenzierter Reproduktivität steckengeblieben, sich des Planeten in Form eines alles überziehenden zweckfrei idiotischen Schaumpilzes bemächtigt, wie bereits die Mikroplastikpartikel die Weltmeere?

Eine solche Erwartung entbehrt nicht einer zwingenden Folgerichtigkeit. Über die zu erwartende Effizienz von Nanobots, Maschinen in Nanometer-Grössenordnung, dürfen wir uns keine zu geringe Vorstellung machen. Sie werden auf molekular-genetischer Ebene zum Totalangriff auf den Kern des Lebens selbst ansetzen.

„Je grösser der Effekt, desto kleiner die für dessen Verursachung erforderliche Bosheit. Das Ausmass der für eine Untat verlangten Gehässigkeit steht im umgekehrten Verhältnis zum Ausmass der Taten“ Die Entfremdung zwischen Tat und Täter ist in Grössenordnung inzwischen um Potenzen so weit fort geschritten, dass es für den Anspruch moralischer Verantwortlichkeit keinen Unterschied macht, ob der Bediener eines Knopfes damit eine Espressomaschine, ein Kraftwerk oder eine Massenvernichtungswaffe, bzw. eine Viruspandemie auslöst.

Günther Anders konnte sich seiner Zeit nur auf den Hiroshimaflug beziehen, als er bemerkte: „Der Bomberpilot hatte nur ein homöopathisches Quantum an Bosheit für die konsequente Tat aufzubringen, wie sie Kain bedurfte, um seinen Bruder Abel zu erschlagen“. Für die Durchführung der letzten masslosen Untat wird das erforderliche Bosheitsquantum gegen Null tendieren. Die Gründe für unsere einstige Auslöschung werden eine nahezu absichtsfreie Bedenkenlosigkeit in sich tragen – danke, keine Ursache.

Die Virtualität einer augmented reality besitzt ihre eigene übergriffige Wirksamkeit. In einer digitalisierten Lebenswelt verlieren die Potentiale der biodynamischen Anpassung hingegen ihre Wirksamkeit. Eine ‚Fitness' des Menschen wird künftig daher nur durch die Ergänzung der organischen Lebensfunktionen mit synthetischer Prothetik (Muskel-Aktuatoren, brain-enhancement, pharmazeutische Wirkstoffe) möglich sein. Damit tritt die Evolution, die gewissen weltanschaulichen Kreisen bereits in der biologischen Ausprägung suspekt erscheint, unversehens in die digitalisierte Phase 4.0, ohne im gleichen Masse eine leidenschaftliche Debatte auszulösen, wie gegenüber ihrem Vor- und Auslaufmodell im 19. Jhrd., zur Zeit der Maschinensturm-Proteste.

Mit dem Auftreten des kybernetischen Organismus, dem androiden Cyborg als dem ‚besseren Menschen', unterstützt von einer künstlichen Intelligenz-Effizienz, gewinnt der Begriff des Sozial-Darwinismus eine qualitativ unheimliche Dimension hinzu. Eingespannt in eine technoide Montur von exorbitanter Potenz, wird der kommende ‚Übermensch' zu einem lebensuntauglich schwächlichen Wesen mutieren, an Körper und Seele atrophiert, sein Geist auf ein digitales Speichermedium gebannt. Aber die wuchtigen robotronischen Werk-Zeuge, die sich das Organische einverleibt haben werden, pflügen effizienter den Planeten um; und es ist ihnen gleich ob es noch die Erde selbst ist, oder der Mars – weil sie sich ja doch irgendwann ähneln werden.

In der heraufdämmernden Epoche des Transhumanismus erwächst dem Menschen nicht nur eine weitere Demütigung, sondern eine veritabel existentielle Gefahr. Wenn darin für uns die Idee eines „Übermenschen“ verwirklicht zu werden scheint, haben wir Nietzsches Postulat von der ‚Überwindung des Menschen' eine willkürlich neue Deutung gegeben, die nicht in der Intention seines Urhebers gelegen haben kann.

Der ‚Letzte Mensch' am Joystick derjenigen Apparatur, von der er selbst künftig ein funktionaler Teil, und autonom lebensunfähig geworden sein wird, wähnt sich wohl am Steuer, während die Maschine, über die Kanäle der neuronalen Verbindungen zu dessen Gehirn, ihn wohlweislich darüber in der Illusion von der Autonomie belassen wird, während es doch längst sie selbst es ist, die denkt und lenkt. Dies ist der Omega-Dollpunkt der smarten Singularität, wie ihn die transhumanistischen Verfechter der sog. ‚Starken KI' anstreben, in der das Organische mit dem Technologischen verschmolzen sein wird.

mm

Franz Sternbald: Ausgesetzt zur Existenz. Verlag BoD-Norderstedt 2021. 460 Seiten, ca. 25.00 SFr. ISBN 9783751974066