Fabian Scheidler: Der Stoff aus dem wir sind Über die bestehende Zivilisationskrise

Sachliteratur

Mit seinem 2021 veröffentlichen neuen Buch schliesst Fabian Scheidler an „Das Ende der Mega-Maschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ an.

Fabian Scheidler: Der Stoff aus dem wir sind.
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Fabian Scheidler: Der Stoff aus dem wir sind. Foto: Elizabethdemaray (CC BY-SA 4.0 cropped)

8. Mai 2021
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I.

Der 1968 in Bochum geborene Autor Fabian Scheidler wirkte als Dramaturg, u. a. am von Volker Ludwig gegründeten Berliner Kinder- und Jugendtheater GRIPS, engagierte sich bei ATTAC, u. a. als Koordinator des ATTAC-Bankentribunal 2010, und publiziert zu ökologischen und ökonomischen Themen aus zivilisationskritischer Sicht, zuletzt im April und Mai 2021 in „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Mit seinem 2021 veröffentlichen neuen Buch schliesst er an „Das Ende der Mega-Maschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ (Wien: Promedia, 2015) an.

Erneut will Scheidler verdeutlichen, dass der Mensch weder allumfassend die Natur ergründen noch beherrschen kann: „Erstens zeigt sich der Stoff, aus dem wir sind, als immer rätselhafter, je tiefer die Wissenschaft in ihn eindringt; zweitens lässt er sich nicht in isolierte Objekte auftrennen; und drittens führt der Versuch einer totalen Kontrolle über die Natur geradewegs in den ökologischen Kollaps – und damit in einen zunehmenden Kontrollverlust.“ (10)

Stattdessen soll man sich von der seit dem 17. Jahrhundert herrschenden technokratischen und im Dienst von Wirtschaft und Militär stehenden Ideologie lösen, um zu erkennen, was der Mensch ist: „Teil eines allumfassenden kosmischen Selbstentfaltungsprozesses, der von der subatomaren Ebene über die Sphäre des Lebens bis in die Weiten des Universums reicht.“ (15)

In zwei Hauptteilen: I. „Die verkannte Natur“ (25-127) und II. „Menschliche Gesellschaften und die Krise des Lebens auf der Erde“ (131-241) mit jeweils drei Kapitel breitet Scheidler seine Zivilisationskritik sowie Alternativvorstellungen aus.

In Teil I verweist er zunächst darauf, dass die atomistisch-naturalistische Naturphilosophie ab dem 6. Jahrhundert vor unsrer Zeitrechnung im Zusammenhang steht mit der Münzgeldentwicklung und damit der Geldwirtschaft. Diese theoretisch-ideologische Sichtweise habe sich im 17. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Atomismus der mechanistischen Naturwissenschaft wiederholt. Doch vor rund hundert Jahren musste angesichts neuer Erkenntnisse und Experimente in der Physik fachwissenschaftlich das mechanistische Weltbild aufgegeben werden; man hätte erkannt, dass es feste Materie gar nicht gibt.

Physiker mussten nun „auf Begriffe wie Wahrscheinlichkeitswellen und Quantenfelder zurückgreifen, um etwas zu beschreiben, was sich einem mechanistischen Naturverständnis entzieht“. Denn es gibt keine Bausteine der Materie, “sondern Netze von energetischen Beziehungen, die alles mit allem verbinden“ (52). Dies gilt letztlich auch für Lebewesen. „An die Stelle von handfesten Körpern sind Wahrscheinlichkeitswellen und 'dunkle Kräfte' getreten.“ (53)

Im zweiten Kapitel „Leben“ (54-94) steht die „Frage nach Herkunft und Wesen der Innenwelten im Zentrum“ (56) Diese sei nicht mit der technokratischen Ideologie zu lösen, ebensowenig die Frage wie „tote Materie sich zu lebenden Wesen formen“, die im 3. Kapitel „Evolution und Kreativität“ (95-128) angesprochen wird.

Ausgehend von der Geschichte des Universums, deren Beginn vor 14 Milliarden Jahren angesetzt und über die Urknall-Theorie oder die Big-Bounce-Theorie erklärt wird, geht der Autor zur Geschichte des Lebens über, das sich vor 4 Milliarden Jahren im Urozean aus Atomen und Molekülen unter hoher Energiezufuhr über evolutionäre Sprünge immer neu und komplexer organisiert hat. Jahrmillionen lang entwickelten sich über kernlose Einzeller immer komplexere mit Zellmembranen ausgerüstete Zellen, wobei aus jenen mit ausschliesslich „sauerstoffkonsumierenden Organellen [...] die Ahnen aller Tiere einschliesslich des Menschen“ (102) hervorgingen. Diese Zellen besitzen Billionen von Molekülen, die sich neu strukturieren und eine Komplexität entwickeln, die „nicht nur unsere Vorstellungskraft, sondern auch alle denkbaren maschinellen Rechenleistungen um viele Grössenordnungen“ (104) übersteigt.

Kooperation, Variation und Selektion seien die Mechanismen, die die Vielfalt der Arten erzeugen. In diesem Zusammenhang kritisiert Scheidler die Rolle, die populärwissenschaftlich der DNA für die Evolution und im Vererbungsprozess zugeschrieben wird: Entgegen molekularbiologischen Feststellungen würde die DNA mystifiziert und zu einer Art Religionsersatz; damit negiere man individuelle (menschliche) Entscheidungsmöglichkeiten und Willensakte, wodurch bestehende Rollenmuster und Herrschaftsverhältnisse stabilisiert würden. Stattdessen bevorzugt der Autor die Vorstellung von Evolution als „kreativen Prozess der Selbstorganisation“ und „tastenden, ergebnisoffenen Prozess [...], der Versuch und Irrtum einschliesst“ (124f.). Poetisch ausgedrückt: Die „Schöpfung träumt uns“ (128).

Im 4. Kapitel „Die vier Verbundenheiten und die Grosse Trennung“ (131-171) wird noch einmal daran erinnert, dass der Mensch ein stoffliches „Austauschwesen“ ist, das in ständigem Fluss mit „Sonnen- und Erdsystem einschliesslich der Biosphäre und den menschlichen Gesellschaften“ (133f.) steht.

Diese Tatsache wird durch die technokratische Ideologie und die Herrschaft des Geldes verschleiert. Die technokratische Ideologie stellt 1) Mess- und Zählbarkeit über die Anschauung, zerlegt 2) Ganzheiten und Vorgänge in Einzelteile und zwingt sie 3) in lineare und deterministische Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. (140) Diese Weltsicht hing und hängt weiterhin eng mit einem Wirtschaftssystem zusammen, das auf die endlose Vermehrung von Kapital durch ständige Zyklen von Profit und Reinvestition setzt.

Damit einher geht die Zerlegung der Kreislaufprozesse der Natur, die Aufspaltung der menschlichen Ganzheit in Körper und Geist, die Abwertung der Innenwelt des Menschen und folglich die Behandlung des Menschen als Objekt. Die irrige Vorstellung von der Beherrschung der Natur führt zu dystopischen Plänen in der synthetischen Biologie, des Geo-Engineering, der Weltraumkolonialisierung und der Digitalisierung menschlicher Beziehungen, ja des Menschen selbst als Algorithmus.

Eine der Technokratie entgegengesetzte Weltsicht zu erproben wird in Kapitel 5 „Das Ganze denken: Weltsichten und Kosmologien“ (172-204) empfohlen. Dabei gelten als Kosmologien „geistige Ordnungen“, die es erlauben, „dass wir unser Sein und Wirken in diesem Kosmos als sinnhaft erleben“ (175). Sie sind „Sinn- und Deutungsgefüge“, die auf der Innenwelt der Menschen aufbauen, d.h. auf Wahrnehmungen, Gefühlen, Wertungen und sozialen Beziehungen. Diese persönlichen Sinn- und Bedeutungsgefüge sind lebensnotwendig: „Wo Sinngefüge brüchig werden, bekommt auch die Psyche Risse und kann schliesslich sogar zusammenbrechen.“ (185) Bei Urvölkern treten Kosmologien auch als kollektive Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane auf, z.B. die „verbundenen Wasser“ für Reisfelder auf Bali (191-196).

Das sechste und letzte Kapitel „Planetarische Krise und gesellschaftlicher Umbau“ (205-241) streift oberflächlich aktuelle sozioökonomische und sozioökologische Verwerfungen und droht mit dystopischen Zukunftsvisionen, wenn es nicht gelingen sollte, das komplexe, ja totalitäre System der modernen „Megamaschine“ zu überwinden und einen allumfassenden Wandel in Ökonomie, Politik, Bildung, Wissenschaft und Kosmologien einzuleiten. Konkrete Zielvorgaben entwickelt Scheidler jedoch nicht.

II.

Nun ist das vorgetragene Szenario der bestehenden Zivilisationskrise und die Kritik am technisch-naturwissenschaftlichen Weltverständnis der Industriegesellschaften nicht neu: Die Metapher der „Megamaschine“ geht auf Lewis Mumfords „Maschinenmythos“ - „The Myth of Machine“ (1967/70) – zurück; sie wurde auch vom Philosophen Jochen Kirchhoff in der Figur des „megatechnischen Pharao“ (2018) aufgegriffen. Schon in den vierziger Jahren hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno intellektuelle Vorarbeit mit ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (1944) geleistet; und im sogenannten „Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften“ der sechziger Jahre wurden grundlegende Erkenntnis-, Methoden- und Wertungsfragen diskutiert.

Die ideelle Vorarbeit der gegenwärtig wieder aufkommenden Zivilisationskritik an alten und neuen kapitalistischen Industriestaaten war also schon seit Jahrzehnten geleistet, sie wurde jedoch – ausser in der kurzen Phase Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre – kulturell und institutionell unterdrückt.

Auch die Umwelt- und Kulturzerstörung und die sie verursachenden politik-ökonomischen Wirkkräfte des Finanzkapitalismus wurden ebenfalls schon früher und umfangreicher beschrieben und analysiert, zuletzt von Stefan Engel in seinem Buch „Katastrophenalarm“ (2014). In den 1980er Jahren gab es auch in Deutschland mächtige, autonome, sozialen Bewegungen, wie die Friedens-, Antiatom- und Umweltschutzbewegung. Diese entwickelten zukunfts- und gemeinwohlorientierte Projekte, auch Konversionsprojekte für die Rüstungsindustrie. Diese fortschrittlichen sozialen Bewegungen wurden von den Herrschenden einerseits zerschlagen, andererseits nachhaltig und in grösserem Ausmass wirksam manipulativ - sei es über und mittels politischer Parteien, NGOs oder auch Grossunternehmen - eingehegt und finanziell korrumpiert. Zahlreiche Alternativprojekte im Energie-, Mobilität- und Wohnsektor oder in der Lebensmittelproduktion wurden bald profitabel aufgesogen.

Nicht wenige, die heute als publizistische oder politische Zivilisationskritiker, Umweltschützer und Krisenpropheten auftreten, entwuchsen, in doppeltem Sinn, diesen sozialen Milieus. Ihr neuer gesellschaftlicher Standort drückt sich sprachlich im einvernehmlich-konformitätsheischenden „wir alle...“ aus.

Speziell zu Fabian Scheidlers Buch sei noch angemerkt: Wie bei anderen populärwissenschaftlichen Abhandlungen und Vorträgen findet man bestimmte argumentative und methodische Unstimmigkeiten. Zunächst sind seine Hinweise (243-292) auf benützte Literatur, wissenschaftliche Aufsätze, Studien etc. allein gesehen kein Wahrheitsbeweis für die eigene Argumentation, etwa hinsichtlich Klimakrise, Coronakrise, Artensterben. Vielmehr gilt es, sich deren methodische und theoretische Implikationen zu vergewissern: Auch naturwissenschaftliche Theorien beruhen auf Hypothesen, auch wenn dies etwa von Newton bestritten wurde (hypotheteses non fingo) und können als solche hinterfragt werden. Und empirische Aussagen über Beobachtungen, die hochkomplex mittels „Umweg über die Technologie“ (Werner Heisenberg) gewonnen und mathematisch berechnet werden, beinhalten entsprechende Fehlerquellen, etwa im Zusammenhang mit Mikrobiologie und Astronomie.

Schliesslich sei daran erinnert, dass Hochtechnologie-Wissenschaft viel Geld kostet, dass sie in engem Austauschverhältnis mit Gross- und Finanzkapital und ebenso selbstverständlich im militärischen Verwertungszusammenhang steht – worauf auch Scheidler verweist.

Und einen Gedanken könnte man durchaus darauf verwenden, ob nicht Katastrophen- und Zivilisationszenarien dabei – teilweise auch unbeabsichtigt – eine funktionale Rolle spielen.

Wilma Ruth Albrecht

Der Stoff aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen. Piper, München 2021. 304 Seiten, ca. 22.00 SFr, ISBN 978-3492070607