Eva Kalny: Soziale Bewegungen in Guatemala Gelegenheit zum Widerstand

Sachliteratur

Die Geschichte selbstorganisierter Kämpfe Guatemalas und ihrer Widersacher.

Proteste der indigenen Bevölkerung auf der Plaza Mayor in Guatemala City, Februar 1996.
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Proteste der indigenen Bevölkerung auf der Plaza Mayor in Guatemala City, Februar 1996. Foto: Reinhard Jahn (CC BY-SA 2.0 cropped)

7. Oktober 2018
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Auch nach dem Tod von Ex-Diktator Rios Montt am 1. April diesen Jahres halten die Proteste gegen Korruption und Straflosigkeit in Guatemala an. In den vergangenen Jahren fanden wiederholt grosse Demonstrationen statt, die nicht zuletzt durch die Mobilisierung sozialer Bewegungen möglich gemacht wurden. Eva Kalnys Buch über soziale Bewegungen in Guatemala stellt das Hintergrundwissen zur Verfügung, um die aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen besser zu verstehen.

Mitte der 1990er Jahre ging der Bürgerkrieg zu Ende, trotzdem gilt Guatemala nach wie vor als vergleichsweise instabiler Staat, der durch eine enorme soziale Ungleichheit geprägt ist. Das hat Einfluss – so die zentrale These von Kalny – auf die Entstehung und Entwicklung sozialer Bewegungen, die sie im vorliegenden Band als miteinander in Verbindung stehende Teile gesellschaftlicher Gesamtstrukturen untersucht. Anders als der Untertitel vermuten lässt, steht dabei die ausführliche Auseinandersetzung mit der Geschichte sozialer Bewegungen in Guatemala an erster Stelle.

In der Studie wird die Entwicklung sozialer Bewegungen in Guatemala am Beispiel von Frauenbewegungen, indigenen Bewegungen und Kämpfen um Ressourcen analysiert. Diese sind in unterschiedlichen politischen Phasen mit unterschiedlichen Herausforderungen und damit verbundenen Gelegenheitsstrukturen konfrontiert: Kurze demokratische Phasen brachten Möglichkeiten zur Partizipation mit sich, die jedoch immer wieder durch Militärregierungen und Diktaturen eingeschränkt wurden. So leitete beispielsweise der von den USA militärisch unterstütze Sturz der Regierung von Jacobo Árbenz Guzmann durch die Militärregierung von General Carlos Castillo Armas 1954 eine Phase der Repression gegen Gewerkschaften und Bauernorganisationen ein. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Kommunismus geführt, wurden zuvor erkämpfte Rechte schlicht wieder zurückgenommen.

Vielfältige Kämpfe

Nach einer knappen Einführung ins Thema, die auch die Rolle von Theorien sozialer Bewegungen einbezieht, werden die oben genannten drei Strömungen – Frauenbewegungen, indigene Bewegungen und Ressourcenkämpfe – mit Fokus auf die gesellschaftlichen Entwicklungen im 20. Jahrhundert beschrieben. Die Analyse beginnt mit den liberalen Reformen des Jahres 1871 und ihren Folgen, die insbesondere für die indigene Landbevölkerung als dramatisch beschrieben werden: Indigene Gemeinden wurden enteignet und Männer zur Zwangsarbeit auf den neu entstehenden Fincas zur Kaffeeproduktion verpflichtet.

Im Gegensatz dazu profitierte die mestizische Stadtbevölkerung und die katholische Kirche verlor an Einfluss. Frauen protestierten unter anderem 1917, als der Diktator Manuel José Estrada Cabrera nach einem Erdbeben die Hilfsprojekte für Mütter einstellte, die nicht stillen konnten. Diese Frauen hatten erheblichen Anteil am Sturz von Cabreras Regime. Anhand eines Beispiels aus den 1940er und 1950er Jahren verdeutlicht Kalny wiederum, wie unterschiedlich soziale Bewegungen von gesellschaftspolitischen Entwicklungen betroffen waren und deutet interne Konflikte um Deutungsmacht an: So würden die Proteste für Einrichtungen zur Kinderbetreuung während der Arbeitszeiten von Marktfrauen in Guatemala Stadt während der 1940er und 1950er Jahre oftmals nicht als politische Kämpfe wahrgenommen, da die Akteure mit der katholischen Kirche kooperierten.

Zeugnisse kollektiven Widerstands

Die Autorin begründet die Auswahl der beforschten Bewegungen auf Erkenntnisse der Intersektionalitätsforschung und macht an unterschiedlichen Stellen deutlich, wie eng Bewegungen letztlich miteinander verknüpft waren. Auch die oben im Zusammenhang mit den Protesten der Marktfrauen genannten Konflikte darum, wer als legitimer Teil einer sozialen Bewegung wahrgenommen wird, zeigen, dass unter der Oberfläche der drei „Kampffelder“ vielfältige Konstellationen und Verknüpfungen sozialer Ungleichheit wirksam sind: Verknüpfungen von Ethnizität, Geschlecht und Klasse stehen in Verbindung mit Unterschieden zwischen Stadt- und Landbevölkerung und den damit verbundenen Bezügen auf Religion und kulturelle Praktiken. In diesem Spannungsfeld agieren die Bewegungen und daraus erklären sich interne Konflikte und Beziehungen zum Staat.

Ressourcen sind bei Kalny insbesondere „lebenswichtige Ressourcen“ (S. 133), womit sie auf die Armut vieler Akteur_innen der so benannten sozialen Bewegungen aufmerksam macht, und den Begriff Ressource vorwiegend ökonomisch fasst. Speziell die Landkonflikte zwischen indigenen Kleinbauern und Fincabesitzer_innen, die in den Bodenreformen Ende des 19. Jahrhunderts einen Ursprung haben, stehen hier im Zentrum.

Die Konflikte stehen in Verbindung mit der Einführung von Zwangsarbeit und haben vielfältige Folgen, darunter die Zerstörung der ökonomischen Grundlagen indigener Gemeinden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts münden sie in einer Reihe von gewaltsamen Vertreibungen und Massakern, wie 1982 die Auslöschung der Maya-Chuj Gemeinden von San Francisco, Nentón. Kalnys Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen stellt wiederholt die Lage der indigenen Bevölkerung in den Mittelpunkt und macht deutlich, dass sie lange Zeit selbst von demokratisch orientierten Regierungen oftmals keine wesentlichen sozialen und politischen Verbesserungen zu erwarten hatten.

Dies verschiebt sich mit dem beginnenden Bezug auf eine übergreifende indigene Identität ab den 1970er Jahren und der Entstehung von indigenen Dachverbänden wie zum Beispiel COPMAGUA (1994-2000), die politische Partizipation einforderten. Kalnys Zwischenfazit: Indigene Forderungen sind heute in die Argumentationen auch nicht-indigener Akteur_innen eingegangen, beispielsweise im Widerstand gegen Megaprojekte. Gleichwohl nehme die Sichtbarkeit indigener Bewegungen im öffentlichen Diskurs ab. Gesellschaftlicher Rassismus und Ausgrenzung sind insofern nach wie vor ein wichtiges Thema.

In der angekündigten „kritischen Theoriediskussion“ werden Ansätze zur Analyse sozialer Bewegungen erläutert und auf die Rolle des Staates bezogen. Damit rücken Institutionen wie Polizei, Militär und Justizwesen in den Vordergrund, aber auch nicht-staatliche Akteure wie Wirtschaftseliten und kriminelle Gruppen. Der Einfluss dieser Entitäten auf soziale Bewegungen, zeigt sich unter anderem daran, dass sie häufig für Repression verantwortlich gemacht werden können.

Der Staat und seine Institutionen sind aus dieser Perspektive ein wichtiger Fixpunkt für die Bewegungen, dessen Rolle sich im Laufe des letzten Jahrhunderts gewandelt hat: War dieser lange Zeit repressiv gegenüber sozialen Bewegungen, habe sich die Rolle seit Ende des Bürgerkriegs gewandelt. „Soziale Bewegungen sind unter diesen Umständen nicht ausschliesslich in Opposition zum Staat zu betrachten, sondern agieren in einem Spannungsfeld unterschiedlicher mächtiger Entitäten.“ (S. 321f.) Das bedeute, so Kalny, aufgrund der Instabilität des Staates jedoch nicht unbedingt weniger Gewalt, sondern eine Zunahme derselben, die mit ausdifferenzierten und teilweise undeutlichen Strukturen in Zusammenhang steht. Letzteres betrachtet die Autorin als Anlass, auch die Theorien sozialer Bewegungen in Hinblick auf das Verhältnis sozialer Bewegung zum Staat hin neu zu diskutieren.

Das Buch beruht auf den Interviews mit vielfältigen Akteur_innen aus sozialen Bewegungen und mit Vertreter_innen staatlicher Institutionen, die die Autorin während unterschiedlicher Aufenthalte geführt hat und die ein sehr differenziertes Bild der Geschichte sozialer Bewegungen in Guatemala zeigen. Für den deutschsprachigen Raum ist dies bislang einmalig.

Eine Besonderheit und Stärke liegt dementsprechend in der sehr ausführlichen, fundierten und sowohl für wissenschaftliches als auch nicht-wissenschaftliches Publikum lesbaren Beschreibung und Analyse sozialer Bewegungen in Guatemala. Sie schliesst eine Lücke im derzeitigen Stand der deutschsprachigen Lateinamerikaforschung und ist gerade vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftspolitischen Konflikte um Korruption und Straflosigkeit hochaktuell. Die Studie ist auch für Leser_innen interessant, die sich für die Bedingungen von Staatlichkeit und ihrem Verhältnis zu Selbstorganisierung interessieren oder schlichtweg Guatemalas Geschichte besser verstehen wollen.

Catharina Peeck-Ho
kritisch-lesen.de

Eva Kalny: Soziale Bewegungen in Guatemala. Eine kritische Theoriediskussion. Campus Verlag, Frankfurt a.M 2017. 354 Seiten, ca. SFr 55.00. ISBN 9783593506265

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