Enzo Traverso: Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition Trauern um gestern für morgen

Sachliteratur

Verborgen unter der Geschichte der Linken schlummert eine Emotion, die dieser kaum bewusst und doch so wichtig ist. Wir sollten sie wieder ausgraben.

Der italienische Historiker und Journalist Enzo Traverso, Juni 2019.
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Der italienische Historiker und Journalist Enzo Traverso, Juni 2019. Foto: Toniher (CC BY-SA 2.0 cropped)

5. Dezember 2019
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Aus welchem Gefühl schöpfen linke Bewegungen ihre Kraft? Wut? Liebe? Vielleicht Angst? Geht es nach Enzo Traverso, ist es keine dieser Emotionen. Es ist die Melancholie. Diesem Gemütszustand, dessen wichtigste Merkmale laut Traverso Trauer und Resignation sind, widmet der marxistische Historiker daher ein ganzes Buch. Er möchte die „melancholische Dimension“ (S. 7) der linken Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts erforschen. Bei ihr handele es sich um eine verborgene Tradition, die es freizulegen gelte. Das ist für das ehemalige Mitglied der Ligue communiste révolutionnaire, einer trotzkistischen Partei in Frankreich, nicht einfach eine historiografische, sondern eine politische Angelegenheit.

Vergangenheit für die Zukunft

Wie Linke sich auf das Gestern beziehen, habe sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert, so Traverso. Im 19. und 20. Jahrhundert habe im linken Denken eine Dialektik zwischen Vergangenheit und Zukunft bestanden. Demnach sei für emanzipatorische Bewegungen das Vergangene in die Erinnerung einzuschreiben gewesen, um es in die Zukunft zu projizieren. Das soll heissen, bisherige Erfahrungen, gerade Niederlagen, boten Linken die Kraft, positive Erwartungen an die Zukunft zu stellen. Zugleich halfen die Kämpfe der jeweiligen Gegenwart, die Trauer über vergangene Niederlagen zu verarbeiten. Mit dem Umbruch von 1989/90 sei diese Dialektik zerstört worden. Die Epoche, die dann folgte, charakterisiert Traverso als „präsentisch“, als eine „ausgedehnte Gegenwart“ (S. 17), die keine Zukunft, keine echte Utopie mehr kenne.

Offizielle Erinnerungsdiskurse würden nur noch Trauer um die Opfer von Gewalt und Genozid kennen, keinerlei Erinnerung an revolutionäre Erfahrungen. Der vormals verheissungsvolle Begriff des Kommunismus sei auf seine totalitäre Dimension reduziert und stehe nur noch für Entfremdung und Unterdrückung. Obwohl seit der Französischen Revolution grosse Umwälzungen stets Utopien und Hoffnungen erzeugt hätten, fehlten diese den Umbrüchen von 1989/90 und der Folgezeit. Die postsozialistischen Gesellschaften befassten sich nur noch mit der nationalen Vergangenheit, und auch den schwungvollen arabischen Revolutionen seit 2011 sei es nicht gelungen, Neues anstelle des Bisherigen zu setzen.

Der Linken sei durch 1989 die Vergangenheit und damit die Zukunft verlorengegangen, denn der Zusammenbruch des Realsozialismus habe einen „Berg an Ruinen“ (S. 26) hinterlassen, den aufzuräumen kaum möglich war. In der Trauer um diesen Verlust sieht der Autor Melancholie, die er nicht etwa empirisch konstatiert, sondern regelrecht beschwört: „Es ist die Melancholie einer Linken, die […] sich nicht der Bilanz der akkumulierten Niederlagen entzieht. Eine Linke, die nicht vor der vom Neoliberalismus gezeichneten globalen Ordnung resigniert […].“ (S. 9) Linke Melancholie habe schon immer existiert, müsse allerdings anerkannt werden, um für neue emanzipatorische Kämpfe fruchtbar werden zu können. Um dieses politische Anliegen geht es Traverso, der den Anti-Aids-Aktivismus der Homosexuellenbewegung der 1980er zum Vorbild nimmt. Diese hätte ihre Kraft aus der Trauer um ihre Freunde und Geliebten gespeist.

Verlieren, um zu gewinnen

Auf der Suche nach der Melancholie in der linken Vergangenheit führt der Autor uns durch eine Galerie der linken Kultur, in der ihre Texte, Bilder und Filme ausgestellt sind. In den einzelnen Kapiteln, die teilweise auf schon älteren Texten Traversos basieren, zeichnet er die Linie der verborgenen Tradition an ganz unterschiedlichen Beispielen nach. Es geht dabei um die Rolle der Niederlagen in der Geschichte der Linken sowie um die Frage nach Erinnerung für marxistische Bewegungen. Filmen widmet Traverso ein ganzes Kapitel, ebenso wie dem Verhältnis zwischen antikolonialen Bewegungen und europäischen linken Denkern. Auch in der Bohème des 19. Jahrhunderts und im Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin sieht Traverso Anknüpfungspunkte, um sich mit dem Melancholischen zu befassen. Der Begriff der linken Melancholie ist dabei über weite Strecken eher eine lose Klammer, das Buch mehr eine Collage, ein Lesebuch, in dem man vor- und zurückblättern kann.

Linke Niederlagen spielen hier also eine besondere Rolle, und Traverso sucht nach ihrer Funktion für die Linke selbst. Die Pariser Commune von 1871, der sogenannte Spartakusaufstand vom Januar 1919 in Berlin oder der Militärputsch gegen die Regierung Salvador Allendes 1973 waren katastrophale Erfahrungen für emanzipatorische Bewegungen. Trotz des Schreckens und der Trauer, so möchte Traverso an Texten und Kommentaren von Karl Marx, Rosa Luxemburg und Allende zeigen, waren diese Niederlagen Kraftquellen für die Zukunft. Die historischen Situationen, in denen emanzipatorische Bewegungen besiegt und vorerst vernichtet wurden, erscheinen so als Gehversuche, deren Scheitern Anlass zu erneutem Aufbruch gaben. „Die Trauer ist von Hoffnung untrennbar.“ (S. 61)

Klassenkampf im Kino

In Filmen sieht der Autor „gedankliche Erfahrungen über die Vergangenheit“ (S. 101), womit Traverso meint, dass in ihnen Erlebtes verarbeitet wird, weshalb sie dem Historiker als Quelle dienen. Er analysiert daher verschiedene Kinowerke, die sich mit revolutionären Episoden in Europa oder dem antikolonialen Befreiungskampf befassen. So beschreibt Traverso beispielsweise ein Filmprojekt des italienischen Regisseurs Luchino Visconti, dessen Film „Die Erde bebt“ 1948 ausgestrahlt wurde. Visconti habe ursprünglich beabsichtigt, eine Trilogie über Klassenkämpfe in Italien zu schaffen, deren glorreiches Finale die erfolgreiche Besetzung von Ländereien durch Bäuerinnen darstellen sollte.

Aus Geldmangel konnte Visconti jedoch nur den ersten Film realisieren, der das Elend italienischer Küstendörfer zeigt. Die Veröffentlichung des Streifens fiel zeitlich zusammen mit der Niederlage der kommunistischen Bewegung in Italien Ende der 1940er Jahre. Das gescheiterte Filmprojekt interpretiert Traverso als künstlerische Parallele, in der sich die Melancholie über die linke Niederlage ausdrückt. Eine derartige Analyse ist also eher sinnbildlich zu verstehen und nicht streng historiografisch. Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Scheitern des Filmprojektes und dem Scheitern der italienischen Linken zu dieser Zeit weist der Autor nämlich gar nicht nach. Für Traverso ist der Film vielmehr eine „allegorische Repräsentation der Niederlage“ (S. 103). Zugleich kontrastiert der Autor derartige Filme mit solchen wie „Das Leben der Anderen“ von 2006, in denen der Sozialismus nur noch als totalitäre Vergangenheit erscheint und damit keinerlei emanzipatorisches und utopisches Potenzial mehr besitzt.

Während solche Abschnitte klar von der Frage nach der Melancholie geleitet werden, wird der rote Faden andernorts dünner. So ist es nicht durchweg offensichtlich, was die Bohème des 19. Jahrhunderts, mit der Traverso sich ausführlich befasst, über melancholische Gefühle in der Linken aussagt. Auch das Kapitel über das Verhältnis zwischen Adorno und Benjamin geht inhaltlich deutlich über die zentrale Fragestellung des Buches hinaus. Doch auch dann, wenn Traverso die Melancholie aus den Augen verliert, kann die Leserin Interessantes über linke Geschichte und Theorie lernen. Das gilt beispielsweise für die Auseinandersetzung mit Karl Marxʼ ambivalenter Haltung gegenüber dem Kolonialismus und den Kolonisierten, die sich auf seine Rezeption Hegels zurückführen lässt.

So erörtert der Autor die Unterschiede zwischen den eindeutig eurozentrischen Sichtweisen in Marxʼ Frühwerk und seinen Ausführungen im Spätwerk, in dem er seine Herablassung gegenüber dem globalen Süden spürbar revidiert habe. Ferner betont Traverso die Unterschiede zwischen Marxʼ Texten und den von „kolonialer Selbstzufriedenheit“ (S. 195) geprägten Texten bürgerlicher Ökonomen, etwa John Stuart Mill.

Traverso holt also die Melancholie hervor und präsentiert sie der Linken zur bewussten Reflexion. Damit gewährt er gleich zwei verschiedenen Kategorien ihren Platz im linken Denken. Erstens dem Emotionalen, das Antrieb emanzipatorischer Bewegungen sein kann. Zweitens dem Vergangenen, aus dem Linke nicht nur Melancholie schöpfen können, sondern auch Wissen über ihre eigene Geschichte, das es braucht, um eine neue Zukunft zu erschaffen. Eine solche Rückbesinnung könnte den positiven Zusammenhang zwischen Gestern und Morgen wiederherstellen.

Felix Matheis
kritisch-lesen.de

Enzo Traverso: Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Übersetzt von: Elfriede Müller. Unrast Verlag, Münster 2019. 296 Seiten, ca. 22.00 SFr, ISBN 978-3-89771-265-2

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