Elany (Hrsg.): Schwarze Saat. Gesammelte Schrift zum Schwarzen und Indigien Anarchismus. Wunderbar: Gesammelte Schrift zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus

Sachliteratur

Direkt nach dem Erscheinen versuchte ich an den vermutlich ersten Sammelband zum schwarzen und indigenen Anarchismus auf deutscher Sprache zu kommen. Leider dauerte es doch eine Weile, bis ich dazu kam, ihn zu lesen.

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Foto: Cover zum Buch

25. Januar 2022
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Korrektur
Unter mir unbekannten Umständen wurden die Herausgeberin Elany und eine Gefährtin kürzlich in der Schweiz verhaftet.[1] Da es müssig und unsinnig ist, über die Hintergründe zu spekulieren, konzentriere ich mich im Folgenden auf den Eindruck, den ich vom Sammelband gewonnen habe. Die aktuellen Ereignisse sind aber zu erwähnen, da mit ihnen deutlich wird, dass es noch Leute gibt, die leben und tun, wovon sie schreiben. Unabhängig von ihren konkreten inhaltlichen Positionen – die freilich auch mit unseren jeweiligen Positionierungen und Erfahrungen in der herrschaftsförmigen Gesellschaft zu tun haben – ist dieses Engagement anzuerkennen, wertzuschätzen und inspirierend.

In Schwarze Saat sind ganze 85, meist kurze, Texte aus der Perspektive eines schwarzen und indigenen Anarchismus, deren Autor:innen auch den entsprechenden Hintergrund haben.[2] Dass es sich um ein Buch ohne weisse Europäer:innen handelt ist sehr wichtig, um die Ansprüche auf Selbstbestimmung und eigene Organisierung von rassistisch diskriminierten sozialen Gruppen zu unterstreichen. Kein weisser, europäischer Anarchist sollte je wieder das billige Argument der „Spaltungsbestrebungen“ anbringen, wenn sich People of Color oder auch FLINTA (Frauen, Lesben, Inter-, Nonbinary-, Trans-, Agender-Personen) in eigenen Untergruppen oder auch autonomen Gruppen zusammenschliessen, um aus ihrer spezifischen Perspektive heraus herrschaftsfeindliche Praktiken hervorzubringen. Und dies beinhaltet notwendigerweise immer auch eine Kritik an vorgetragenen anarchistischen Ansprüchen von Genoss:innen. Diese hat nicht immer konstruktiv und solidarisch zu sein. Ankommen wird sie vermutlich dennoch meistens, wenn sie so vorgetragen wird.

Ich bin sehr dankbar für die Herausgabe dieses Sammelbands, von dem ein Grossteil der Beiträge übrigens auch einzeln vorab auf der Seite schwarzerpfeil.de[3] veröffentlicht wurde. Und zwar deswegen, weil mit ihm andere Stimmen festgehalten werden, denen ich selbst zu selten Gehör schenke. So wusste ich beispielsweise bisher nicht, dass der ehemalige Black Panther Aktivist Lorenzo Kom'boa Ervin sich offenbar als einer der ersten Anarchists of Color bezeichnete und seine Schrift Anarchism and the Black Revolution, die 1979 erschien, eine unheimlich weite Verbreitung gefunden hat.[4]

Wenn mir die anarchistische Gewerkschaftsaktivistin Lucy Parsons selbstverständlich bekannt war, so nicht die Gruppe Afrofuturist Abolitionists of the America, deren Erklärung zur Selbstbezeichnung „Anarkata“ (ein angeeignetes Schimpfwort für widerständige, eigenwillige Katzen) sehr inspirierend ist. „Intersektionalität“ und „Identitätspolitik“ ist hierbei kein liberaler Rahmen, innerhalb dessen es für mehr „Diversität“ oder „Sensibilität“ einzutreten gälte, sondern eine klare Kampfansage gegen die multiplen, verwobenen Herrschaftsverhältnisse aus Perspektive der von ihnen Betroffenen.

Dass der ungeheure Reichtum der europäischen Post-Kolonialstaaten auf Sklavenarbeit beruht; dass die Kolonialisierung der Amerikas die brutale Unterdrückung der Native People voraussetzte; dass die weisse Arbeiter:innenklasse gegen die schwarze und indigene Bevölkerung ausgespielt wurde und wird, um erstere durch propagierten Rassismus in die Herrschaftsordnung zu integrieren; ja, dass die Entwicklung einer angeblich überlegenen, „weissen Rasse“, erst selbst als ein Produkt dieser krankhaft-zivilisatorischen Unterwerfung ist – dies und anderes war mir auch vorher bekannt. Kapitalistische Ausbeutung in der Klassengesellschaft, staatliche Unterwerfung und Unterdrückung, nationalistische Eingliederung, Naturbeherrschung, patriarchale Dominanz und weisse Vorherrschaft, sind zweifellos miteinander verwobene Herrschaftsverhältnisse von denen wir alle – aber eben alle auch unterschiedlich – betroffen sind.

Wer davor die Augen verschliesst, muss anfangen, Mythen und Rechtfertigungsmuster zu stricken, um sich erklären zu können, warum Menschen irgendeiner Gestalt und Seinsweise, eine unterschiedliche Wertigkeit und Würde zugeschrieben wird – die sich dementsprechend auch materialisiert findet. Die Geschichte zu kennen, ist eine entscheidende Voraussetzung, um in sie eingreifen zu können. Etwas anderes ist es dennoch, Geschichten von Menschen zu hören, die sich der Herrschaftsordnung und ihrer konkreten Auswirkungen widersetzen und gegen sie rebellieren.

Dies führt auch zur schwierigen und prinzipiell nicht abschliessbaren Definition von Schwarzem Anarchismus. Verstanden werden können darunter alle Gruppen von schwarzen anarchistischen Radikalen, seien sie Anarchist:innen in Afrika, schwarze Anarchist:innen oder Autonome in den USA, die antiautoritäre Strömung, die aus den Black Panthers hervorging, die Nachkommen geflohener Sklaven in Brasilien, den Quilombo, sowie die Maroon-Gemeinschaften, beispielsweise auf Jamaika, oder schliesslich die queeren Anarkatas. So herausfordernd die Zusammenkunft von Menschen aus verschiedenen Hintergründen auch sein kann, so viel Potenzial beinhaltet ein heterogenes und unabgeschlossenes Kollektivsubjekt wie der schwarze Anarchismus aber auch.

Zwar gab es hierbei auch die Wiederentdeckung bekannter europäischer Anarchisten. Der Ex-Panther Ashanti Alston schreibt beispielsweise davon, im Knast mit Bakunin, Kropoktin und im Briefverkehr mit anderen anarchistischen Denker:innen Kontakt gekommen zu sein. Zugleich ist sehr verständlich, dass diese nur bedingt etwas zu sagen haben für die Situation und den Erfahrungshintergrund, in dem sich beispielsweise militante schwarze Anarchist:innen in den USA der 70er Jahre befanden. Darüber hinaus inspirierend wurde deswegen die Wiederentdeckung und Wiederaneignung der zu weiten Teilen verschütteten afrikanischen Geschichte, in der lange Zeit in vielen Gebieten egalitäre Gesellschaftsformen bestanden. Weit entfernt davon, diese zu idealisieren, verweisen sie dennoch auf die Möglichkeiten, andere Formen des Zusammenlebens schaffen zu können, als wiederum auch darauf, dass die nationalstaatlich-kapitalistische Herrschaftsordnung ganz wesentlich von Europäer:innen aufgezwungen wurde.

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Nation“ spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn der phasenweise stark gemachte „schwarze Nationalismus“ ist anders zu bewerten als jener, welcher mit dem Nationalstaat verbunden ist. Unter ersterem konnte sich ein unterdrücktes und in sich heterogenes Subjekt versammeln, um gemeinsam aufzustehen, widerständig zu sein und sich selbst zu organisieren. Davon zu unterscheiden und in vielerlei Hinsicht problematisch ist die von Schwarzen gebildete „Nation of Islam“ - deren Existenz aber unter anderem den Anstoss gab, das Konzept einer (auch als Gemeinschaft verstandenen) Nation zu hinterfragen. Anti-Nationalismus und andere Themen sind allerdings nichts, was weisse Anarchist:innen (vor allem wenn sie einen bürgerlichen Hintergrund haben) anderen erklären müssten, sondern von den jeweiligen Positionen ausgehend entdeckt werden kann.

Vor allem die Autor:innen Aragorn!, zig und Elany selbst schreiben aus einer dezidiert zivilisationsfeindlichen, technologiekritischen und „insurrektionistischen“ Perspektive. Darin haben sie meines Erachtens nach einige Argumente. Denn technologische Entwicklungen werden die ökologische Zerstörung, welche das Kapital unweigerlich hervorbringt und seine Verwertungsschwierigkeiten, mit welchen Arbeiter:innen immer weitere Krisenerscheinungen aushalten müssen, keineswegs abmildern, noch aufhalten. Führen wir uns vor Augen, wie stark im Anthropozän Menschen die lebendige Mitwelt dezimiert und durch eine tote Technosphäre ersetzt haben[5], ergibt sich meiner Ansicht nach von selbst, dass es zu einem umfassenden Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung kommen muss.

Abgesehen davon, dass der Nihilismus mehr philosophische Gedankenspielerei ist und Weltschmerz ausdrückt, als brauchbares emanzipatorisches Potenzial aufzuweisen, sind allerdings einige Schlussfolgerungen zu problematisieren, welche in dieser Strömung – noch mal beschleunigt durch die Pandemie – bisweilen gezogen werden.[6] Dies ist aber eine andere Geschichte und ergibt sich nicht aus dem schwarzen und indigenen Anarchismus per se. Eine offene Debatte um Fragen nach der Rolle von Zivilisation, Technologie, Individualismus, europäischer Rationalität im Gefüge der bestehenden Herrschaftsordnung bleibt weiter zu führen.

In jedem Fall hilft die Textsammlung in Schwarze Saat, das Selbstverständnis von Anarchist:innen im deutschsprachigen Raum zu hinterfragen und damit zu erweitern.

Jonathan

Elany (Hrsg.): Schwarze Saat. Gesammelte Schrift zum Schwarzen und Indigien Anarchismus. Selbstverlag, 2001. 560 Seiten. ca. 14.00 SFr.


Fussnoten:

[1] https://de.indymedia.org/node/168757

[2] Ohne ISBN, u.a. erhältlich bei Black Mosquito: https://black-mosquito.org/de/schwarze-saat-gesammelte-schriften-zum-schwarzen-und-indigenen-anarchismus.html

[3] https://schwarzerpfeil.de/author/elany/

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Lorenzo_Kom%E2%80%99boa_Ervin

[5] siehe auch: https://www.untergrund-blättle.ch/buchrezensionen/sachliteratur/jedediah-purdy-die-welt-und-wir-politik-im-anthropozaen-6597.html

[6] https://barrikade.info/article/4951