Edouard Glissant: Philosophie der Weltbeziehung Poesie der Weite

Sachliteratur
Wie kommen wir mit den Erschütterungen dieser Welt zurecht, mit den desaströsen Zuständen in den menschlichen Gemeinschaften?


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Édouard Glissant, 1990. Foto: YEHKRI.COM A.C.C. (CC BY 3.0 unported - cropped)

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Was für ein Aufatmen! Es gibt andere Vorstellungen, es gibt andere Wege, es gibt eine Kunde vom anderen Ende der Welt!
Edouard Glissant, geboren 1928 in Bezaudin, Martinique, gestorben 2011 in Paris, war Dichter, Philosoph und einflussreicher Theoretiker der Dekolonialisierung. Dieses Buch erschien im französischen Original 2009, also recht kurz vor seinem Tod. Es ist ein Vademecum einer umfassenden Denkweise, eine Rückbesinnung auf das Imaginäre, die Vielheit, ein grosser Bogen in die Weite und Diversität.
Resonanzen der "vorzeitlichen Ununterschiedenheit" im Sprechen und in der Schrift, wie sie in der Poesie der Weite anklingen, in der alle Präsenzen auf der Welt miteinander verbunden sind, "erobernde und zerstörte Völker, ..., lautstarke Gemeinschaften und solche mit unhörbarem Sprechen", und sogar, man möchte es eigentlich lieber nicht: "die Programmierer der Unterhaltungsindustrie und die schamlosen Vulgarisierer" ... und viele weitere Ausdrucksmöglichkeiten - alles ist enthalten in der Poesie der Weite. Die Dimension der Weite ist die der Totalität. Und die Totalität bestimmt sich nicht mehr aus umfassender Herrschaft über die "Anderen", sondern aus dem Gefühl für die Balance im Verhältnis zum "Anderen". Die Totalität, die alle Einzelteile umfasst, erfordert, die Differenz (die Unterschiedlichkeiten) als Grundelement der Weltbeziehung anzuerkennen. Mit Leidenschaft!
"Das Unterschiedliche, nicht das Identische, ist das Elementarteilchen aller Lebewesen auf der Welt und im verwobenen Netz der Kulturen." Aus den Begegnungen der Unterschiedlichkeiten gelangen wir zu den Diversitäten, die "Mass und Material für die All-Welt" sind. Das Zugeständnis der Diversität lässt den Unterschiedlichkeiten die Freiheit, sich in unerwarteter oder neuer Weise einzulassen, ohne mit dem Anderen identifiziert werden zu müssen.
Dafür gilt allerdings die Voraussetzung, dass es nicht um die jeweilige Verschiedenartigkeit, das Verschiedensein, geht, sondern um die Solidarität der Differenzen untereinander. Das neue Politische wäre die Übereinkunft, vom kleinen Detail aus zu einer offenen Totalität zu gelangen, und dabei die verallgemeinernden Ideologien zu meiden.
Übereinstimmungen der unterschiedlichen Elementarteilchen bilden "Gemeinsame Orte", sie sind Ausdruck einer gemeinsam empfundenen, in der Weite ausgebreiteten Intuition von der Unerforschlichkeit der Welt und der unzähligen Zustände, die daraus hervorgehen. Diese "universell" bestehende und geteilte Vorstellung wird partikular erlebt, sie verbreitet sich und sie erscheint an allen Orten.
Glissant spricht von einer "Poetik des Diversen". Sie ist "von grosser Lebendigkeit, weil sie mit den vielen unterschiedlichen Positionen und Eingebungen von der Weltbeziehung und der Unterschiedlichkeit in Verbindung steht." Ein partikularer Wert muss nicht "universell" werden, er muss sich nicht als "Wert" verbreiten. Er steigert seine Bedeutung, indem er in Relation, in die Weltbeziehung, eintritt.
Die Künste der Welt, auch die Literaturen, bestehen aus Brechungen, sprudelnden Inspirationen, Protesthaltungen und völlig unvorhersehbaren Schöpfungen ... sie weisen auf die Abweichung, das Relationale hin (die beide zur Diversität führen). "Weltbeziehung" versteht Glissant "als die realisierte Quantität aller Differenzen auf der Welt, ohne dass eine einzige ausgenommen werden könnte. Die Weltbeziehung strebt nicht nach Erhabenheit, sondern nach Fülle, nach Vollzähligkeit."
Und nun das "Archipelische Denken": "ein tastendes Denken, ein Denken des intuitiven Versuchs, das das Diverse unterstützt", im Gegensatz zum "Kontinentalen Denken", das vor allem Systeme anwendet, zu Einseitigkeiten fügt, in Denksysteme einordnet. Im Kontinentalen Denken erscheint die Welt als ein Block, ein Grosses Ganzes, eine imposante Synthese. Mit dem Archipelischen Denken betrachten wir die Steine in den Bächen und die Schattenlöcher, die sie verdecken oder hervortreten lassen.
"Handle an deinem Ort, denke mit der Welt!", so verbindet sich Detail und Totalität. Zu beachten ist, nicht in der Welt zu denken, was zu Eroberung und Herrschaft führen kann, sondern mit der Welt, d.h. mit ihren vielen Beziehungen und Entsprechungen (in aller Unterschiedlichkeit).
Das Archipel als Weltzustand: gleichzeitig kontinuierlich und diskontinuierlich, verschwunden oder verwandelt, zurückgekehrt, verändert: Landschaften, Menschen, Ausdrucksformen, Beziehungen - ein Zustand der totalen Welt.
Wie kommen wir mit den Erschütterungen dieser Welt zurecht, mit den desaströsen Zuständen in den menschlichen Gemeinschaften? Glissant schlägt "das Denken des Bebens" vor, um "das Unentwirrbare kennenzulernen, ohne von ihm belastet zu sein." Das Beben erzeugt eine Schwingung, die ein erratisches System in Bewegung versetzen könnte, seine Erstarrung lockern, indem die tiefverwurzelten Gewissheiten gelockert werden. Die Traumata, das Unglück, die Notlagen, der Schrecken der Welt - das Denken des Bebens ersetzt nicht politisches oder gesellschaftliches Handeln, aber es könnte eine Öffnung sein zu einer nachhaltigen Wiedergutmachung, die sich im Imaginären aller ankündigt.
Die Kraft des Imaginären (im Plural) ist eine alltägliche Utopie. Sie begleitet ein Handeln, das nicht bebt, ein politisches, gesellschaftliches Handeln, welches steril bleibt, wenn es nicht von der Welt-Totalität, dem Beben, unterstützt wird. "Die politische Haltung stärkt sich am Imaginären der Welt."
Lasst uns von den Grenzen sprechen, "die Grenzen neu denken"! Während die Verwalter des kontinentalen Denksystems Grenzen als Abschottung verstehen, als Mauern, Zäune, pushbacks, als Aussperrung/Einsperrung, Vernichtung, Verhinderung, Verbot, schlägt Glissant eine Wendung vor: der Sinn der Grenze ist es, Realitäten in Verbindung zu bringen. Den Geschmack der Unterschiedlichkeiten zu wahren, und zu geniessen! "Grenzen zwischen Orten, die sich zu Archipelen gruppieren, sehen keine Mauern vor, sondern Durchgänge, Passagen, wo die Empfindungen sich erneuern, wo das Universelle sich wandelt und wo die Unverständlichkeit von Werten akzeptiert wird."
"Das Denken der Irrfahrt", das Denken der nicht geplanten Zusammenschlüsse. Wir reissen die eine Wurzel aus, die alles um sich herum abtötet: stattdessen ein Denken der solidarischen Verwurzelung und des Rhizoms. "Gegen die Krankheit des Identitären aus einer einzigen Wurzel bildet dieses Denken stets die unendliche Leitlinie der relationalen Identität." Die Reise von den Festlegungen des Seins zu den Variablen der Weltbeziehung. Wir werden erfahren, dass "die Erkenntnis viel eher unstet ist als universell", dass sie sich verstärkt und befreit, indem sie intensiv diversifiziert wird! Und nun "das Denken von den Kreolisierungen": ein zentrales Kapitel, eins der Leitmotive Glissants. Die Kreolisierung als bewegliche, unerwartete, unbeschreibliche Weiterungen in den Beziehungen zwischen den Kulturen. Keine Hybridisierung, kein Melting Pot, kein Multikulturalismus, keine uniforme Vermischung: die Kreolisierung ist ein Prozess, in dem nichts erstarrt, nichts verloren geht, die Unvorhersehbarkeit der Diversität, ein steter Wandel, Unvorhersagbarkeit: "Ich verändere mich im Austausch mit dem Anderen, ohne mich zu verlieren oder zu verfälschen."
An "das Denken der Unvorhersehbarkeit" müssen wir uns gewöhnen, "um das Unvorhersehbare von dem ineffizienten Durcheinander unserer Umgebung zu unterscheiden und um der lähmenden Betäubung zu entkommen, die uns in den Pandemien und Wirren der Chaos-Welt befällt." Glissant schrieb das 2009. Die Chaos-Welt, die Vorhersehbarkeiten anstrebt, als hätte sie jemand diktiert. Dagegen das Denken der Unvorhersehbarkeit als eine Perspektive, die Überraschungen und das Erfinderische enthält.
"Das Denken der Weltbeziehung", die aus Verschiedenheiten besteht. Innerhalb dieses Denkens zerfällt jede Ausgrenzung, jeder Rassismus wegen ihrer Eindimensionalität zu Staub. "Je mehr das Gewebe der Weltbeziehung sichtbar und wirksam wird, sich ausweitet bis zur Berücksichtigung der Differenzen auf der Welt, ohne eine einzige zu vernachlässigen, umso grösser wird der Raum der Freiheit für den Einzelnen. Und desto zwingender drängt sich ihm diese Verantwortung (Teil der Weltbeziehung zu sein) auf."
"Die grossen Systeme zur Erfassung und Beherrschung der Welt, die Technologien und die Massenpropaganda, die Kunst des Spektakels, die Kontrolle der Energien ... die systembedingten Hungersnöte, die Banalität der Pandemien, die Kriege als Normalzustand, Kriege ohne offenen Krieg, sie verbreiten sich wie Horizonte ... " - all das ist die rigorose Ausübung eines Systems und keine Folge einer speziellen Unordnung.
Es gibt das Unübersichtliche, die aggressiven Konfrontationen und Herrschaftsgelüste, es gibt die abgeschotteten Gesellschaftsbereiche, es gibt eine grosse Ungewissheit. Am Ende schlägt Glissant vor, als aktuellen Ansatz, um die Welt zu verändern/zu heilen/zu befreien, das Imaginäre der Unvorhersehbarkeit mit der Notwendigkeit des Tuns und Handelns abzustimmen. Denn das Ungewisse lässt immer eine Lösung spüren, bei allen Mängeln und Nöten. Es enthält das Imaginäre der Welt.
Das, was ich hier in aller gedrängten Kürze versammelt habe, sind nur Splitter, Bruchstücke, Wirbel, Strahlen, Resonanzen aus Glissants Kompendium der Befreiung.
Ich lege sie euch ans Herz. Und an den Kopf und die Hand, selbstverständlich.
Edouard Glissant: Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite. Aus dem Französischen von Beate Thill. Wunderhorn Verlag 2021. 140 Seiten, SFr ca. 24.00, ISBN 978-3-88423-661-1