Đorđe Tomić / Roland Zschächner (Hrsg.): Mythos Partizan Utopien der Vergangenheit

Sachliteratur

Der reichhaltige Sammelband klärt über die Geschichte und Gegenwart der jugoslawischen Linken auf.

Jugoslawische Partisanen in der Nähe von Ljubljana im Kampf gegen den deutschen Nationalsozialismus, 1944.
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Jugoslawische Partisanen in der Nähe von Ljubljana im Kampf gegen den deutschen Nationalsozialismus, 1944. Foto: Unknown author (PD)

20. August 2021
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Über 30 Jahre nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ ist die politische Linke immer noch mit dem Erbe dieses gescheiterten Projektes konfrontiert und steht vor der Aufgabe seiner Aufarbeitung. Dabei hat Jugoslawien mit seinem eigenständigen Weg in Abgrenzung zur Sowjetunion eine Sonderstellung – hier geht es konkret darum, ob die jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung ein Vorbild für die Zukunft sein kann.

Danach fragt auch der Sammelband „Mythos Partizan“. Die Herausgeber*innen und Autor*innen des Bandes, der aus einem Projekt der Hans-Böckler-Stiftung zum jugoslawischen Partisan*innenwiderstand im Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist, halten zwar fest, dass das jugoslawische Modell gescheitert ist: „Die sozialen und politischen Folgen des Zerfalls Jugoslawiens sind […] als Ausdruck des Scheiterns des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus nur durch eine genaue Untersuchung der unmittelbaren Vergangenheit zu verstehen.“ (S. 11).

Dennoch wollen sie nach uneingelösten Befreiungsversprechen in der jugoslawischen Vergangenheit suchen, an die neu angeknüpft werden kann. Doch wird dieser Anspruch eingelöst und trägt der Sammelband mit seiner Untersuchung der unmittelbaren Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart im ehemaligen Jugoslawien bei? Und was können wir aus dieser Untersuchung für zukünftige Befreiungsprojekte lernen?

Kritik des Geschichtsrevisionismus

Der Sammelband ist in vier Abschnitte gegliedert. Der erste Teil enthält Überblicksdarstellungen zur Geschichte Jugoslawiens und zur Geschichte der jugoslawischen Linken. Der folgende Teil behandelt den Zweiten Weltkrieg, der dritte Teil beleuchtet die Erinnerung an diesen, und schliesslich geht es im vierten Teil um gesellschaftliche Konflikte sowohl unter Tito als auch in den Nachfolgestaaten, neben Überblicksdarstellungen zur Linken insgesamt und zur LGBTIQ-Bewegung im Besonderen werden hauptsächlich Beispiele aus Serbien behandelt.

Đorđe Tomić und Krunoslav Stojaković zeichnen die Entwicklung der jugoslawischen Linken vom utopischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nach. Holm Sundhaussen verteidigt in seiner Darstellung der jugoslawischen Geschichte die königstreuen serbischen Tschetniks, ihre Kollaboration mit den Besatzern im Zweiten Weltkrieg sei nur „taktisch motiviert“ gewesen. Dieser These widerspricht hingegen Roland Zschächner im zweiten Teil und weist auf die ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen Tschetniks und faschistischen Besatzern hin. Der zweite Teil enthält ausserdem eine Darstellung des Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Jugoslawien und ein Interview mit serbischen Partisan*innen.

Danach wird im dritten Teil herausgearbeitet, wie die Geschichte des Zweiten Weltkriegs die jugoslawischen Nachfolgestaaten bis heute beherrscht. Dabei geht es um die Bewertung der antifaschistischen, kommunistisch geführten Partisan*innen, der Tschetniks sowie der faschistischen kroatischen Ustascha und anderer Kollaborateur*innen der Besatzungsmächte.

Kollaborateur*innen werden heute rehabilitiert, und die Partisan*innen werden, wo sie nicht offen abgelehnt werden, nationalistisch vereinnahmt. Dies wird anhand der Zeit von Milošević in Serbien illustriert, in der die Partisan*innen als rein serbische statt jugoslawische Bewegung dargestellt wurden, Beispiele aus den anderen Staaten fehlen. Detailliert belegt Mara Puškarević die Tendenz zur Rehabilitation anhand von serbischen Schulbüchern: Nicht nur der Tschetnik-Führer Mihajlović, sondern auch Milan Nedić, Ministerpräsident des von Nazi-Deutschland besetzten Serbien, werden dort sehr positiv dargestellt, Nedićs Beteiligung an Nazi-Verbrechen bleibt unerwähnt.

Am Beispiel Serbiens stellt Olivera Milosavljević die These auf, seit Mitte der 1980er Jahre hätten Historiker*innen eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung eines nationalistischen Geschichtsbildes inne; dabei hätten sie teils der politischen Elite gedient, teils selbst die Initiative ergriffen. Leider belegt sie diese Aussage nicht mit konkreten Beispielen.

Abgerundet wird der dritte Teil durch Beiträge zu Aspekten der Erinnerungspolitik wie den jugoslawischen Partisan*innendenkmälern und zur Rolle des Fussballs bei der Verbreitung nationalistischer Ideologie, kroatische Fans zeigen offen Ustascha-, serbische Fans Tschetnik-Symbolik.

Arbeiterselbstverwaltung, Praxis-Philosophie und '68er

Die jugoslawischen Kommunist*innen versprachen nach dem Bruch mit der Sowjetunion ein demokratischeres Sozialismusmodell, die Arbeiterselbstverwaltung. 1968 entstand in Jugoslawien eine Studierendenbewegung, die die Erfüllung dieses Versprechens forderte. Sie richtete sich sowohl gegen den weiter bestehenden Bürokratismus als auch gegen die zunehmende soziale Ungleichheit, die mit den marktwirtschaftlichen Reformen seit Mitte der 1960er Jahre einherging. Der 68er-Bewegung wurde jedoch genauso mit Repression begegnet wie der Gruppe von Philosoph*innen um die Zeitschrift Praxis. Es handelte sich hier um undogmatische Marxist*innen, die grossen Einfluss auf die '68er-Bewegung hatten.

Insgesamt wird deutlich, dass die versprochene Selbstverwaltung an ihrer Beschränkung auf die betriebliche Ebene scheiterte. Auf höherer Ebene blieb das Machtmonopol der Partei in Kraft und stand immer in Konkurrenz zu den Entscheidungsbefugnissen der Arbeiterräte. Eine echte Selbstverwaltung, die durch basisdemokratisch gewählte Räte verschiedener Ebenen ausgeübt wird, bleibt also ein Projekt, das nach wie vor auf seine praktische Erprobung wartet.

Die Linke heute

Der Sammelband ist denjenigen zu empfehlen, die nicht nur am ehemaligen Jugoslawien, sondern generell an der Geschichte linker Gesellschaftsentwürfe interessiert sind. Durch eine Aufarbeitung der Vergangenheit wird zum Verständnis der Gegenwart beigetragen. Neben einem Gesamtüberblick über die heutige postjugoslawische Linke und die serbische Bewegungslinke wird der Kampf der Belegschaft der serbischen Medikamentenfabrik Jugoremedija gegen Privatisierung näher beleuchtet, sowie die Queer-Bewegung und das Engagement von NGOs für die in extremer Armut und Ausgrenzung gehaltenen Rom*nja. Deutlich wird: Es gibt im ehemaligen Jugoslawien nach wie vor eine Linke, sie hat sich jedoch vom Zusammenbruch der 1990er Jahre noch lange nicht erholt. Arbeiter*innen sind die grossen Verlierer*innen der Privatisierung, und der Nationalismus ist mit einer brutalen Homophobie verbunden, weil Queers in den Augen Rechter als „Verräter*innen der Nation“ gelten. Es gibt also keinen Grund, sich mit dem Status Quo abzufinden.

Heiko Bolldorf
kritisch-lesen.de

Đorđe Tomić / Roland Zschächner / Mara Puskarevic / Allegra Schneider (Hrsg.): Mythos Partizan. (Dis-)Kontinuitäten der jugoslawischen Linken; Geschichte, Erinnerungen und Perspektiven. Unrast-Verlag, Münster 2013. 431 Seiten. ca. 27.00 SFr. ISBN 978-3-89771-824-1

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