Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil Geschichte in der ersten Person

Sachliteratur

Eribon möchte seine Erfahrungen mit grossen Theorien in Dialog bringen – und bleibt doch völlig auf sich bezogen.

Klassenkampf in Frankreich - Demonstration gegen das neue Arbeitsgesetz in Toulouse.
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Klassenkampf in Frankreich - Demonstration gegen das neue Arbeitsgesetz in Toulouse. Foto: Pablo Tupin-Noriega (Wikimedia France) (CC BY-SA 4.0 cropped)

6. Juni 2018
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Korrektur
Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ ist ein Buch, das den – ganz im Sinne von Sartre – Entwurf und seine Verfolgung eines Jugendlichen gegen seine Klasse, ein Anderer zu werden, skizzierte. Es erkundete die Bedingungen, beschrieb die Verhältnisse dieser Abstossung und suchte nach verallgemeinerbaren Schlüssen für eine linke Politik, die die Interessen und Befindlichkeiten der verlassenen „populären Klassen“ aufnimmt. Eine Mahnung besteht darin, die Identitätspolitiken seit den 80er Jahren nicht gegen eine Klassenpolitik auszuspielen und anders herum. Das Nachfolge-Buch Eribons vertieft diese Zusammenhänge nicht, vielmehr wird das schon Entfaltete vorausgesetzt und die Verpersönlichung weiter verfolgt. Zentral ist – erneut – die Kategorie „Scham“ (aus der sich sein Begriff der „Hontoanalyse“ ableitet), fast immer verbunden mit Angst, die nicht überwunden werden kann.

„Meine Befunde erlangen ihren Sinn, wenn sie mit literarischen und theoretischen Texten in Resonanz treten“ (S. 11). In den Begriffen von Bourdieu beschäftigt ihn die generationelle Verstetigung des Klassenhabitus in einem Milieu, das interessiert an diesem Vererbungsprozess sei. Nur so „können Trägheit und Wiederholung über den Wandel, die Evolution, die Abweichung obsiegen“ (S. 31). Leichthändig sind die Seiten von Stillstand und Progress verteilt. Sie werden plausibel, indem sie bloss behauptet und nicht untersucht werden und führen zu Konklusionen, die die Notwendigkeit des Bruchs mit der eigenen sozialen Klasse, mit der Abwendung von ihr nahelegen, will man mit Nietzsche „der werden, der man ist“ (S. 33).

Der Text wird durchzogen von Reflexionen über die Angst, erwischt zu werden in dem was man war und nicht geworden ist. Lange Passagen erklären, warum er seinen Vater auf dem Foto, das auf dem französischen (und später auch deutschen) Einband von „Rückkehr nach Reims“ zu sehen ist, ausschnitt und nur sich als Junge auf dem Bild akzeptieren konnte. Er fürchtete, „dass die Jahre der Arbeit an mir selbst, in denen ich diesen Abstand, diese Kluft überhaupt erst hatte herstellen können, dass das Verwischen aller Spuren zu meinem Heute ruiniert werden würde“ (S. 35). Diese Furcht wird nachvollziehbar in seiner Überraschung, das „scared gay kid“ (S. 47) geblieben zu sein: der Entdeckung des Andersseins folgt seine Organisierung, die „freudige Hoffnung“, doch dann wird die neue Identität als „Schamvolles“, „das nur im Zeichen der Angst gelebt werden kann“ (S. 47) zusammengefasst als Verdunkelung.

Machen oder gemacht werden?

Seinen grossen Lehrer Bourdieu, den er zu ergänzen, zu übertreffen sucht („Ich hatte Die Rückkehr nach Reims als Nachfolgebuch zu Die feinen Unterschiede konzipiert“ (S. 60, Herv. i. O.)), mit dem er jahrelang fast täglich sprach, kritisiert er – methodisch interessant – ob seiner falschen Einfühlung in den sexistischen, homophoben Widerstand arabischer Jungen in Bourdieus „Das Elend der Welt“. Der heterosexuelle Bourdieu konnte sich die Angst, die der schwule Eribon vor dieser Gewalt hatte, nicht vorstellen.

Er kritisiert, wie sehr die Mittel der Befreiung auch Mittel der Herrschaft sind, wenn er in der Kultur (vor allem im Herrschaftssystem Schule) „die Gewalt einer Trennung“ (S. 117) erkennt, die soziale Klassen voneinander scheidet und in ihrer Verführung, sie wollen zu wollen, einen Reproduktionsmechanismus ausmacht. Er übernimmt den Kultur- und Bildungsbegriff, wie er herumliegt: Kultur als Mittel, als Objekt, das jemand haben kann oder nicht. Nicht selten belehrt er Autor_innen von literarischen Texten. Die von ihm so verehrte Annie Ernaux, die ein ähnliches Biografieprojekt verfolgt, ist entweder bloss Stichwortgeberin (zum Beispiel um über die eigenen Grossmütter nachzudenken).

Häufiger aber noch „weiss“ er etwas besser als die Autorin und korrigiert die Ältere höflich: „Wahrscheinlicher scheint mir, dass die Begegnung mit Simone de Beauvoirs Schriften ein Schlüsselmoment auf dem von Annie Ernaux beschrittenen Weg darstellte, der sie von ihrer Mutter und ihrem sozialen Milieu immer weiter entfernen sollte“ (S. 111). Nicht nur deshalb sollte das Buch „Die Jahre“ von Erneaux unbedingt parallel zu Eribon gelesen werden. Sie findet für das „Gemachtwordensein“ eine Sprache, die die geschichtlichen Ereignisse an ihr entfalten lässt und so radikal verwoben persönlich und historisch zugleich wirkt. Eribon hingegen schreibt sich in der ersten Person als Bedingter in passivischem Stil: ein gelesenes Buch „verwandelt [...] die Wahrnehmung des Selbst und der Welt“ (S. 107), man kann vom „Appell dieser Texte transformiert“ (S. 112) werden, Sartre und Beauvoir haben ihn „befreit“ (S. 126), man landet auf Partys, „[i]ch bin ein Produkt der Massenuniversität“ (S. 196). Diese Sprache ist befremdlich für jemanden, der – nicht selten pathetisch – Arbeit an sich leistet, kämpft, leidet und so weiter. Und sich dann doch zum Objekt gesellschaftlicher Bedingungen macht. Die passivische Schreibweise demonstriert ein Opfer-Sein, es unterschlägt die Handlungen des Opfers.

So klug und doch so einfach

Treten die angeführten Texte nun in Resonanz? Er führt sie ein, Bourdieu, Ernaux, Richard Hoggart, Paul Nizan, Levi-Strauss, Michel Foucault, deutet an, dass sie ihn stark, sehr stark oder auch nur überhaupt änderten, ihm nahe sind und spricht dann über sie, übt unterschiedliche Modi von Kritik, die ihn fast immer in der Position des Wahrnehmungsstärkeren, Erfahrungsreicheren, letztlich Reflektierteren erscheinen lassen. Die Resonanzen sind unterstellte und würden wohl auch eher durch Lesende hergestellt.

Die Auseinandersetzung mit den Autor_innen löst kein Problem, bringt ihn aber näher an eine Herkunftsbestimmung, die nicht nur von Scham und Entdeckungsangst durchzogen ist: „Meine Genealogie ist die Genealogie der Unterdrückten“ (S. 167). Wäre die Rückkehr dann nicht mehr als diese Abstraktion, für deren Untersuchung er wenig bereitstellt und die Abstraktion wiederum Resultat seiner Herkunft? Seitenweise diskutiert er das Privileg herrschender Klassen, ihre Generationenabfolge über Jahrhunderte zurückverfolgen zu können. „Ich hingegen weiss nicht, was meine Vorfahren während der Französischen Revolution [...] gemacht haben“ (S. 166f.). Die Herrschenden spiegeln sich in ihrem Eigentum und in der Kunst als Individualsubjekte und die Beherrschten benötigen ein Kollektiv-Subjekt, um überhaupt zurückblicken zu können? Eribon weiss so viel und dann wieder zu wenig, um den Beraubten widersprüchlich abbilden zu können.

Eribon überrascht – er ist Mitte 60 – mit einer naiven Bildungsfreude, ja einem Stolz, wenn er zum Beispiel die Namen von Malern aus dem Ärmel schüttelt, deren Bilder eventuell sein Cover hätten abgeben können – „Schwindelgefühl der Überlegenheit“, „Glück einer Distinktion“ (S. 117). Die Verschmelzung von Ausstieg (aus dem Herkunftsmilieu) und „Bildung“ mit sozialem Aufstieg, mit Karriere als der gesellschaftlichen Entlohnung liest sich, obwohl all dies vor 45 Jahren begann, wie das heutige neoliberale „Bildungs“versprechen. Was im Titel anklingt wird bewahrheitet: Die Gesellschaft urteilt über Ausschluss und Einschluss und in den Spielräumen für das Individuum bleiben in beiden Prozessen Probleme der Anpassung. Fast alle „Bildung“, die Eribon sich anlas, wird als Befreiung von und Beschäftigung mit der eigenen Herkunft und dem Anderssein gesetzt. Dieses „für mich“ bleibt häufig kaum theoretisch vermittelt und ist im Resultat fast immer unmittelbar („Die feinen Unterschiede“ lassen ihn Marx „verlassen“, Foucault bekämpft seine Scham und so weiter).

Diese Spurensuche kann noch lange weitergehen. Sie ist nicht immer interessant für die Nach-Lesenden.

Kornelia Hauser
kritisch-lesen.de

Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Suhrkamp, Berlin 2017. 264 Seiten, ca. 22.00 SFr, ISBN 3518073303

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