David Graeber: Piraten Sind Piraten jetzt doch böse?!
Sachliteratur
David Graebers Stärke lag insbesondere darin, anarchistisches Denken mit akademischen und gesellschaftlichen Debatten zu verknüpfen und anhand der Untersuchung verschiedener Themengebiete zeitgemässe anarchistische Perspektiven zu entwickeln und zu popularisieren.
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17. Oktober 2023
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Vermutlich kaum anders wird es bei seinem kürzlich aus dem Nachlass erschienen Buch Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit (2023) sein. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, kenne die darin enthaltenen Thesen aber unter anderem aus der überzeugenden und neu aufgelegten Schrift Einen Westen hat es nie gegeben (2013/2022). Im Unterschied dazu kann ich mir gut vorstellen, dass das Piraten-Buch recht spekulativ gehalten ist und keine wissenschaftlichen Überprüfung wirklich standhalten würde. (Was im Übrigen ebenso auf zahlreiche geschichtswissenschaftliche Studien zutreffen dürfte, in welchen die vermeintliche Ursprünglichkeiten begründet werden sollen.)
Im Wesentlichen geht es einfach um den Nachweis darüber, dass überall auf der Welt und zu allen Zeiten verschiedene Formen von Gemeinwesen gegeben hat, die weitgehend egalitär und freiheitlich waren, kaum Hierarchien kannten und kollektive Vereinbarungen trafen. Häufig konstituierten sie sich auch bewusst gegen Staatlichkeit. So ist es also auch bei den Pirat*innen, welche sich offenbar tatsächlich weitgehend „basisdemokratisch“ organisierten. Das braucht man nicht zu romantisieren, sondern kann es einfach feststellen. Für die Romantisierung sorgt dann die Kulturindustrie.
Um sich diesem Mythos entgegenzustellen veröffentlichte der rechte Autor Siegfried Kohlhammer kürzlich das Buch Piraten. Vom Seeräuber zum Sozialrevolutionär. Das entsprechende Feature in Deutschlandfunk.Kultur trägt den Titel „Piraten sind böse und nicht lustig“. Anscheinend polemisiert Kohlhammer nur so vor sich hin, wie er auch die von ihm als Mythen angesehenen Erzählungen von der Toleranz im Islam und jener, die westlichen Länder lebten auf Kosten der Dritten Welt zurückweisen zu müssen glaubt. Was einfach als schräge Marotte verstanden werden könnte, hat also einen systematischen Charakter. Kohlhammer mausert sich als Herrschaftsideologe.
Der Grund, warum ich diesen Kommentar verfasse liegt aber nicht darin, dass ein kauziger rechter Autor sagt, dass Piraten böse sind. Vielmehr irritiert mich die Art und das Niveau der Debatte, die über die Frage nach dem Wesen der Piraterie geführt wird. Denn in ihrer Lächerlichkeit zielt sie im Kern einfach darauf ab, affirmativ den bestehenden Nationalstaat zu legitimieren und die zahlreichen historischen und zeitgenössischen Gemeinschaften jenseits und innerhalb von diesem, welche nach anarchischen Vorstellungen funktionieren, zu diskreditieren. „Bitte hört zu: Piraten sind gewalttätig, eigennützig und sterben schnell. Vermutlich sind sie auch ganz und gar nicht pro-feministisch! Oh mein Gott!“
So lange Diskussionen über Gemeinschaften jenseits des Staates auf so einem Niveau geführt werden, ist es auch nicht verwerflich, alle zum plündern, brandschatzen und morden nach Lust und Laune aufzufordern. Freiheit hat eben auch ihren Preis. Und der scheint für das bürgerliche Idiotenbewusstsein nur in Panik, Schrecken, Infantilisierung und Ignoranz greifbar zu werden.
David Graeber: Piraten. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023. 256 Seiten. ca. SFr. 28.00. ISBN: 9783608987195.