Crimethinc: From Democracy to Freedom Immer wieder notwendig - Anarchistische Demokratiekritik

Sachliteratur

1. März 2020

Eine Besprechung von From Democracy to Freedom. Der Unterschied zwischen Regierung und Selbstbestimmung (CrimethInc, bei Unrast 2018).

Occupy Oakland Demonstration, Oktober 2011.
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Occupy Oakland Demonstration, Oktober 2011. Foto: Bruce Paul (PD)

1. März 2020
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Zum Buch von CrimethInc, dass 2018 auf deutsch erschienen ist, gab es zwar schon Lesungen des Übersetzungskollektivs.1 Eine ausführlichere Darstellung des Buches lohnt sich dennoch, weil die Grundproblematiken die darin behandelt werden immer wieder auftreten. Auch in anarchistischen Zusammenhängen bestehen unterschiedliche Ansichten in Hinblick auf den Nutzen etwa von „direkter Demokratie“. Nur wenige Vorstellungen, Interpretationen und Praktiken sind verbreitet, die der Falle des Politikmachens entgehen ohne gleichzeitig post-politisch oder „unpolitisch“ zu werden, das heisst die Vorstellung und Hoffnung aufzugeben, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend verändern sollten und dies auch können.

From Democracy to Freedom liest sich kurzweilig, weil es mit einer lebendigen Sprache geschrieben ist, wahrnehmbar ein Produkt kollektiver Arbeit darstellt und sich aus gemeinsamen Erfahrungen speist, anstatt lediglich eine theoretische Abhandlung über die (unterschiedlichen) Umgangsweisen von Anarchist*innen mit (den ebenfalls sehr verschiedenen Formen von) Demokratie darzustellen.2 Zahlreiche hervorgehobene Zitate regen zusätzlich zum Nachdenken an.

Weiterhin machen Fotos und einige Comic-Szenen die inhaltlichen Überlegungen noch einmal eingängiger und unterstreichen den praktischen Erfahrungsraum und Zeithorizont, in dem sie entstanden sind. Begrüssenswert sind zudem die deutliche Sprache und klaren Sätze, welche eindeutige Positionierungen erkennen lassen, anstatt etwa dauernd Vermittlung zu suchen oder sich für die eigenen (sehr reflektierten) Einsichten rechtfertigen zu wollen. Beispielsweise ist zu lesen: „Wahre Freiheit definiert sich nicht darüber, wie viel Teilhabe uns innerhalb einer gegebenen Struktur gewährt wird, sondern darüber, ob wir die Freiheit haben, die Struktur zu ändern“ (S. 20).

Gegliedert ist das Buch im Wesentlichen in zwei Hauptteile. Im ersten setzten sich die Autor*innen auf aktuelle Weise mit Demokratietheorie, der Kritik an Demokratie und Alternativen zu ihr auseinander. Im zweiten werden sechs subjektiv gehaltene Fallstudien vorgestellt, nämlich der Protest des Movimento 15-M in Spanien, der Platzbesetzungen in Griechenland (beide um 2011 herum), die Occupy-Bewegung in den USA, spezieller das Beispiel der Kommune von Oakland (beide 2011/2012), der Aufstand in Slowenien (2012/2013), sowie eine Rebellion in Bosnien (2014).

Auch wenn die genannten Ereignisse schon wieder einige Jahre her, hat eine umfassendere Reflexion über sie nicht in grösseren Kreisen stattgefunden. Die Beschäftigung mit ihnen lohnt sich, auch angesichts dessen, wie unglaublich schnell beispielsweise die aktuelle Bewegung um Fridays for Future zu Teilen von reformorientierten Zivilgesellschafts-Aktivist*innen bis teilweise direkt von Mitgliedern politischer Parteien eingehegt, auf das bestehende System hin ausgerichtet und für ihre Zwecke instrumentalisiert worden ist.

Erleben lässt sich dort, wie wesentliche Wahrheiten, welche jahrzehntelang in sozialen Bewegungen gesammelt wurden, überhaupt nicht mehr verbreitet sind oder in Windeseile über Bord geworfen werden. Darunter zählt etwa jene, dass grüne, linke und reformerische „populistische“ Parteien über soziale Mobilisierungen an die Regierungsmacht streben, um die bestehende Herrschaftsordnung in der multiplen gesellschaftlichen Krise zu stabilisieren, indem sie diese maximal institutionell reformieren oder auch lediglich den Anstrich dafür geben, dass grundlegend alles wie gehabt weiterlaufen kann.

Traurigerweise müsste eigentlich sogar gesagt werden, dass verschiedene Organisationen, tatsächlich viel dazu gelernt haben, wie sie Prozesse „direkter Demokratie“ und soziale Bewegungen die „mehr“ oder „partizipativere“ Demokratie fordern, befrieden, instrumentalisieren und als politisches Kapital ausschlachten können. Demnach wäre endlich die alte Vorstellung über Bord zu werfen, „ausserparlamentarische“ Bewegungen könnten „die Politik“ irgendwie vorantreiben. War dies in früheren Jahrzehnten möglicherweise zumindest zu einem gewissen Grad der Fall, stellt sich die Situation heute nahezu umgekehrt dar: Die „ausserparlamentarischen“ Verfechter „direkter“ und „echter“ Demokratie sind oft der - oder werden oft zum - Arm des staatlichen Parlaments der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in der Diffusität, Hilflosigkeit, Unentschlossenheit und Richtungslosigkeit sozialer Bewegungen. Wenngleich Letztere keineswegs per se „autonom“ sind, regen Anarchist*innen an sie stattdessen, immer mehr nach Autonomie zu streben, selbstbestimmt und unregierbar zu werden.

Im Folgenden möchte ich mich allerdings eher dem ersten Teil des Buches widmen und dabei viele Zitate verwenden, um einen guten Einblick zu geben. Wenn ich dabei auch einige kritische Anmerkungen anstelle, ist dies Zeichen meiner Würdigung und meines eigenen Mitdenkens, wobei ich allen Lesenden zutraue, sich selbst eine Meinung bilden zu können.

Einleitend stellen CrimethInc fest, dass Demokratie das ultimative Ideal, den kaum angefochtenen Rahmen und Bezugspunkt jeglichen politischen Denkens der Moderne abbildet (S. 7). Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die von demokratischen Regimen ausgegrenzt werden, um aufgrund ihres „nicht-demokratischen“ Verhalten ihre Abschlachtung zu legitimieren (bei Folter, im Drohnenkrieg, im Drogenkrieg etc.), kreisen nahezu alle politischen Überlegungen, um die Handhabung oder Verbesserung von „Demokratie“.

So ist kein Zufall, dass selbst der historische und heutige Faschismus an die Widersprüche der Demokratie anknüpfen kann, wie beispielsweise an der grundlegenden Problematik der Repräsentanz eines „Volkes“ (= demos), welches dazu erst einmal (durch Ausgrenzung, Zwang und Vernichtung von vielfältigen kulturellen Traditionen) konstruiert werden muss, um den Kapitalismus staatlich zu regulieren, ihn in seinen Grundzügen jedoch nicht anzutasten. Dies entspricht übrigens überhaupt der Teilung von Öffentlichkeit (= polis) und Privatheit (= oikos), auf welcher schon die ursprüngliche Demokratie beruht (S. 22ff.).

Zu Diskussionen um Demokratie kommt es – auch in anarchistischen Zusammenhängen – immer wieder, weil in ihr scheinbar ein Spannungsfeld angelegt ist, was sich nicht recht auflösen lässt. Erstens wird „verstehen wir unter Demokratie das Streben nach einer egalitären, inklusiven und partizipatorischen Form der Politik. Die fundamentale Frage für diejenigen, die sich diese Ziele zu eigen machen, ist, ob die Verfahren, die mit der Demokratie assoziiert werden, die effektivsten sind, um diese Ziele umzusetzen“ (S. 9).

Zweitens leitet sich das Wort „von dem antiken griechischen Wort demokratia, von demos 'Volk' und kratos 'Macht' oder 'Herrschaft' Kurzgefasst ist die Demokratie die Herrschaft des Volkes. […] Der Wortstamm, demos und kratos, deutet auf zwei gemeinsame Nenner aller demokratischen Verfahren hin: einen Weg, um zu bestimmen, wer an der Entscheidungsfindung teilnehmen darf, und einen Weg, um Entscheidungen zu vollstrecken. In anderen Worten: Staatsbürger_innenschaft und Kontrolle. Dies sind die wesentliche Bestandteile der Demokratie; sie machen sie zu einer Form der Regierung“ (S. 9). Später machen CrimethInc unmissverständlich klar, dass die Demokratie nicht jene Versprechungen einzulösen im Stande ist, durch welche sie sich legitimiert und auch rebellierende Menschen sich immer wieder von ihr einfangen lassen: „Bei genauer Betrachtung entspricht die Demokratie nicht den Werten, wegen derer wir uns ihr ursprünglich zugewandt haben: Gleichheit, Inklusion, Selbstbestimmung. Um ihre Werte zu erhalten, müssen wir ihre unverzichtbaren Gegenstücke Horizontalität, Dezentralisierung und Autonomie hinzufügen“ (S. 63). Demokratie monopolisiert die Rechtmässigkeit, beansprucht also allein „Legitimität“, wofür sie einen abgesonderten Raum der „legitimen“ Entscheidungen schafft, in welchem ethisch Richtiges allerdings untergeht (S. 13f.).

In der Demokratie gibt es eine Gewaltenteilung, welche als grosser Fortschritt gepriesen wurde - und von Autokraten ja tatsächlich auch wieder zurückgenommen wird (siehe Erdogan und Putin) -, jedoch ihrem Anspruch, individuelle Rechte zu schützen nicht gerecht werden kann, da sie letztendlich die Staatsmacht auf Kosten der Selbstbestimmungsfähigkeiten und -möglichkeiten konkreter Personen legitimiert (S. 17f.). Jede Form des Regierens basiert zu einem gewissen Grad auf Zustimmung, selbst die übelste Diktatur. Regierende legitimieren sich durch 'passive Duldung', frühere Aufstände, durch Akklamation (= Beifall klatschen) oder in der Demokratie eben durch Wahlen. (Auch in faschistischen Regimen werden bekanntlich „Volksbefragungen“ oder „Volksentscheide“ durchgeführt.) Doch der vermeintliche Konsens der Regierten besteht nicht vorab, sondern wird aktiv von den Regierenden hergestellt, wofür es gerade in Demokratien sehr ausgefeilte Methoden gibt. Zurecht kann somit die Frage aufgeworfen werden: „Wählen wir die Regierungen, die uns beherrschen, weil wir sie wollen, oder wollen wir sie, weil wir keine andere Wahl haben“ (S. 19)?

CrimethInc besprechen ferner den herrschaftstragenden Mythos der angeblichen 'Erfindung' der westlichen Demokratie in den griechischen Stadtstaaten, wozu auch David Graeber einen sehr empfehlenswerten Text geschrieben hat3. Den Kern des Staates, sozusagen sein Herz, bildet demnach „kratos“, dass Herrschaftsprinzip schlechthin, womit erklärt werden kann, warum sich Herrschaft auch durch den umfassenden Wandel von Gesellschaften und Staatsformen immer erhalten konnte. Selbstverständlich handelt es sich bei kratos nicht um einen geheimen Club von Weltbeherrscher*innen, sondern um die Logiken, Abläufe, die Ideologie und den totalitären Anspruch, welcher das Wesen von Staatlichkeit – man könnte auch sagen den „tiefen Staat“ - auszeichnet und welches sich demzufolge ebenfalls in bestimmten Personenkreisen manifestiert (S. 23-26).

Daher kann die repräsentative Demokratie auch als „Druckventil“ dienen, da den Regierten immer wieder neu versprochen wird, dass eine andere Regierung Besserung verschaffen würde – woraufhin sie immer wieder enttäuscht werden, das Staatsprinzip sich hingegen auch durch Krisen hindurch erhalten kann (S. 27). Zusammengefasst kann in der historischen Betrachtung der Entwicklung von Demokratie gesagt werden,
„wie der Kapitalismus in Europa den Feudalismus abgelöst hat, so hat sich die repräsentative Demokratie als tragfähiger als die Monarchie erwiesen, da sie Mobilität innerhalb der Hierarchien des Staates ermöglichte. Der Euro und die Wahlurne sind beides Mechanismen, mit denen die Macht dergestalt hierarchisch verteilt wird, dass die Hierarchie nicht im Mittelpunkt steht. Im Gegensatz zu dem politischen und wirtschaftlichen Stillstand der Feudalzeit sorgen Kapitalismus und Demokratie dafür, dass die Macht unaufhörlich neu verteilt wird. Dank dieser dynamischen Anpassungsfähigkeit hat die potenzielle Rebellin bessere Chancen, ihren Status innerhalb des herrschenden Systems zu verbessern als dieses zu stürzen. Daher neigt die Opposition eher dazu, das politische System von innen heraus neu zu beleben als es zu gefährden“ (S. 28).

Die Forderungen nach „direkter Demokratie“, welche in den jüngsten sozialen Bewegungen laut wurden, verkennen, dass es sich bei dieser lediglich um eine
„partizipativere und zeitintensivere Möglichkeit […], den Staat zu lenken [handelt], sie [wird] uns einerseits vielleicht ein grösseres Mitspracherecht bei den Regierungsdetails bieten, die ihm eigene Zentralisierung der Macht jedoch bewahren. […] Wahre Freiheit hängt nicht davon ab, wie partizipativ der Prozess des Fragenbeantwortens ist, sondern davon, in welchem Umfang wir die Fragen selbst formulieren können – und ob wir andere davon abhalten können, uns ihre Antworten aufzuzwingen“ (S. 32f.).

In den Politikwissenschaften sind radikale Demokratietheorien populär, wie sie von verschiedenen linken Intellektuellen entwickelt wurde.4 In ihnen wird Demokratie als Staatsform und Demokratie als tendenziell nicht-staatliche Bewegung oder sogar Selbstorganisation gegenübergestellt. (Dies geschieht mit der Unterscheidung von „der“ Politik und „des“ Politischen, eine theoretische Figur, die erstmals Cornelius Castoriadis entworfen hatte.5) CrimethInc halten davon nichts, denn sie sind der Ansicht, mit diesem Ansatz werde das „Schlimmste aus beiden Welten […] vereint. Jene, die eine nichtstaatliche Demokratie anstreben und erwarten, dass sie die Funktionen des Staates erfüllt, werden daher unvermeidlich enttäuscht, und gleichzeitig wird eine Situation geschaffen, in der die nichtstaatliche Demokratie dazu neigt, die Dynamiken, welche wir mit staatlicher Demokratie verbinden, in kleinerem Massstab zu reproduzieren“ (S. 36).

Deutlich werden diese Widersprüche beispielsweise auch im Konzept des 'libertären Kommunalismus' von Murray Bookchin, denn wer „versucht, eine Regierung ohne den Staat aufrechtzuerhalten, erhält wahrscheinlich etwas Staatsähnliches unter anderem Namen“ (S. 37). Auch wenn ich die Darstellung nachvollziehen kann und die Kritik teile, ignorieren die Autor*innen an dieser Stelle allerdings, dass die frühen Anarchist*innen sich durchaus Gedanken über eine Organisation einer zukünftigen Gesellschaft machten, auch wenn sie diese bewusst nicht als Plan fixierten. Die Vorstellung einer weltweiten Föderation dezentraler, autonomer Kommunen bringt selbstverständlich neue Ordnungsstrukturen hervor, die nicht davor gefeit sind, alte Machtungleichheiten verdeckt aufrechtzuerhalten und neue zu etablieren. Meiner Ansicht nach handelt es sich hierbei um eine Leerstelle im anarchistischen Denken und CrimethInc ignoriert diese, anstatt einen Schritt weiterzugehen und zu zugeben, dass Autonomie bewusste Organisation braucht.

Darüber müsste dann allerdings auch nachgedacht werden, anstatt - wenn es darauf ankommt -, sich auf unkritische Plattitüden und nichtssagende Phrasen zurückzuziehen. So heisst es etwa schwammig und romantisch verklärt: „Freund_innen zwingen sich nicht gegenseitig Gesetze auf – Gesetze sind dazu gemacht, um sie Schwächeren aufzuzwingen, während Abkommen zwischen Gleichen geschlossen werden. Regierung ist nicht etwas, das zwischen Freund_innen stattfindet, genauso wenig wie freie Menschen eine_n Herrscher_in brauchen. Wenn wir uns zwischen Diktatur, Mehrheitsregierung und Anarchie entscheiden müssen, ist Anarchie der Freiheit am nächsten [...]“ (S. 53).

Sonst ist die Schrift jedoch gut argumentiert und bedient sich nicht der problematischen Mythologiebildung, wie sie etwa in einem CrimethInc Bericht über die Proteste gegen den G20-Gipfel zum Ausdruck kommt.6 Auch wenn gegen Aufstände und militante Aktionen keineswegs etwas einzuwenden ist und es offensichtlich immer wieder zu ihnen kommt, ist die Vorstellung, dass dadurch „echte“ Freiheit erfahren und zu „echten“ Individuen werden würden, ähnlich idealistisch, wie die Forderung nach „echter“ Demokratie...

Die Kontrastierung von Regierung und Selbstbestimmung, gibt auf jeden Fall Sinn, denn es ist wirklich
„komisch, für die Idee, dass der Staat grundsätzlich unerwünscht ist, das Wort Demokratie zu verwenden. Der korrekte Ausdruck für diese Idee ist Anarchismus. Anarchismus lehnt jede Exklusion und Herrschaft zugunsten der radikalen Dezentralisierung von Machtstrukturen, Entscheidungsprozessen und Vorstellungen von Rechtmässigkeit ab. Es geht weniger darum, auf eine vollkommen partizipative Weise zu regieren, als darum, jegliche Form von Herrschaft unmöglich zu machen“ (S. 38).

Anstatt der Fantasie einer möglichen Einstimmigkeit nachzugehen, empfehlen die Autor*innen grosse Versammlungen eher als Orte der Begegnung zu begreifen, denn als Instanzen der Entscheidung (S. 40). So plausibel das für alle klingt, die Massenversammlungen in Protesten beigewohnt haben - und oftmals zunächst vom 'Gemeinschaftsgefühl' dort beflügelt waren, nach einer Woche jedoch ihren nervttötenden, lähmenden und langweiligen Charakter erkannt haben -, kann hier allerdings die gleiche Frage wie schon oben aufgeworfen werden: Selbstverwaltung ist auf bestimmte Modi und Praktiken angewiesen, die thematisiert werden sollten, denn Kritik allein ist nur die halbe Anarchie – und zwar die kleinere Hälfte. Sicherlich gibt es keinen absoluten Konsens und sollte jede*r Gruppen verlassen können, in denen sie*er sich übergangen, nicht verstanden oder überflüssig fühlt. Niemand darf gezwungen werden, irgendwelchen 'Verpflichtungen' die sie*er vermeintlich eingegangen ist um jeden Preis einzuhalten (S. 41).

Wenn CrimethInc hierbei jedoch tatsächlich nicht der Unverbindlichkeit und Beliebigkeit das Wort reden wollen, sollten sie zumindest zugeben, dass es möglich ist (und sein muss), sich Gruppen anzuschliessen, deren Grundlage es ist, dass ihre Grundlagen verbindlich eingehalten werden - oder die Person sonst kein aktives Mitglied in ihnen sein kann. Die Angst vor 'Verpflichtungen' wirkt hier meiner Ansicht nach doch etwas wie die individualistische Scheu davor, verbindliche solidarische Beziehungen einzugehen. An dieser Stelle bekenne ich mich also als Verfechter des Autonomieprinzips, worunter ich verstehe, dass Gruppen sich selbst Regeln gegen können und sollten, weil dies nicht bedeutet, dass sie damit gleich demokratische Institutionen, Strukturen und Abläufe reproduzieren, wie sie von CrimethInc ja sehr zurecht grundlegend kritisiert werden.

Ohne diese radikale Kritik, wäre es allerdings nicht möglich, zu begreifen, dass Demokratie als Herrschaftsmodus grundsätzlich auf Ausschlüssen basiert und daher die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse keineswegs abzuschaffen im Stande ist (S. 42-47). Die strukturelle rassistische und sexistische Benachteiligung von Menschen kann eben nicht durch mehr 'Inklusion' gelöst werden, da die demokratische Gleichheit, schon eine Ungleichheit in der ökonomischen Sphäre und dem gesellschaftlichen Status zur Voraussetzung hat. Deswegen stimmt es, dass wenn „die rassistischen Konflikte der heutigen Zeit jemals gelöst werden können, dann wird es durch den Aufbau neuer Beziehungen auf dezentraler Basis geschehen, und nicht dadurch, dass die Ausgeschlossenen in die politische Ordnung der bereits Einbezogenen aufgenommen werden“ (S. 44f.).

Und solange „demokratische Systeme die Macht der Entscheidungsfindung und die Autorität in der öffentlichen Sphäre zentralisieren, wird dies patriarchale Machtstrukturen reproduzieren. Dies ist besonders offensichtlich, wenn Frauen formell von Wahlen und Politik ausgeschlossen werden. Aber selbst, wenn dies nicht der Fall ist, werden ihnen in der öffentlichen Sphäre oft informelle Hürden auferlegt, während sie in der privaten Sphäre eine unverhältnismässig hohe Verantwortung tragen“ (S. 46). Doch darüber hinaus kann Demokratie auch direkt Hindernis für Befreiungsprozesse sein, weil sich diese Herrschaftsform durch Möglichkeiten der Beteiligung und Neuwahlen fortwährend erneuern kann. CrimethInc fordern uns dazu auf, mit unseren demokratischen Illusionen zu brechen und uns in Protesten nicht wieder von ihnen einlullen zu lassen. Denn wenn
„eine Bewegung versucht, sich aufgrund der gleichen Prinzipien zu legitimieren wie die staatliche Demokratie, versucht sie am Ende nur, den Staat in seinem eigenen Spiel zu schlagen. Selbst wenn sie es schafft: Die Belohnung für den Sieg ist, benutzt und institutionalisiert zu werden – ob innerhalb der bestehenden Regierungsstrukturen oder indem diese neu erfunden werden. Somit enden Bewegungen, die als Rebellion gegen den Staat beginnen, damit, ihn neu zu erschaffen. Das kann auf vielen verschiedenen Weisen geschehen. Da gib es Bewegungen, die sich selbst im Wege stehen, weil sie ausschliesslich beanspruchen, demokratischer, transparenter und repräsentativer zu sein als die bisherigen Autoritäten. Bewegungen, die durch Wahlen an die Macht kommen, nur um ihre ursprünglichen Ziele zu verraten. Es gibt Bewegungen, die sich für direktdemokratische Massnahmen einsetzen, welche sich als ebenso nützlich für diejenigen herausstellen, die an staatlicher Macht interessiert sind, und Bewegungen, die Regierungen stürzen, nur um sie zu ersetzen“ (S. 57).

Aus dieser Argumentation könnte allerdings ebenfalls der Schluss gezogen werden, dass es umso mehr darum gehen muss, funktionierende, staatsferne, egalitäre Organisationsformen zu entwickeln, damit diese „Keimzellen der kommenden Gesellschaft“ sein können... Jedenfalls wird im Folgenden wird diesen verschiedenen demokratischen Fehlschlüssen anhand der genannten Fallstudien nachgegangen. Auch bei der Machtübernahme des Sozialisten Lula in Brasilien 2002 gingen die mächtigen sozialen Bewegungen, auf welche dieser sich gestützt und welche ihn unterstützt hatten, während seiner Regierungszeit bis 2013 kontinuierlich den Bach runter.

Die dadurch ausgelöste Enttäuschung und Frustration, insbesondere von armen Menschen ist nicht der einzige, aber auf jeden Fall ein bedeutender Grund dafür, warum der evangelikale Fundamentalismus sich verbreiten konnte und schliesslich dem Faschismus unter Bolsonaro eine Machtbasis verschaffte. Deswegen reicht es, wenn wir dagegen „Inklusion und Selbstbestimmung fördern wollen [...] nicht, die Phrasen und Vorgehensweisen der partizipativen Demokratie zu propagieren. Wir müssen ein Rahmenkonzept verbreiten, das den Staat und andere Formen hierarchischer Macht an und für sich ablehnt“ (S. 60).

Die anarchistische Antwort auf die Übernahme und Instrumentalisierung von sozialen Bewegungen durch Regierende oder Leute, die regieren wollen, die
„einzig sichere Methode, um Übernahme, Manipulation und Opportunismus erfolgreich zu vermieden, ist, jeder Form von Herrschaft die Legitimierung zu verweigern. Wenn Menschen durch flexible, horizontale, dezentralisierte Strukturen ihre Probleme lösen und ihre Bedürfnisse direkt erfüllen, dann gibt es keine Anführer_innen zu korrumpieren, keine formalen Strukturen, die verknöchern könnten, und kein einziges Verfahren, das missbraucht werden kann. Ohne Machtkonzentration können diejenigen, die an die Macht wollen, keinen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Eine unbeherrschbare Bevölkerung wird seine eigene Stärke nie hinter die Herrschaftsbestrebungen irgendeines Despoten stellen“ (S. 61).

Ohne radikal-demokratisch zu werden, betone ich nochmals, dass ich die Ausarbeitung, Verbreitung und die Verwirklichung jener flexiblen, horizontalen, dezentralisierten Strukturen für sehr wichtig halte, anstatt vorrangig bei ihrer Propagierung zu bleiben. Ich nehme das Autor*innenkollektiv dahingehend ernst, wenn es schreibt, wenn wir „statt nur für uns selbst danach zu streben, die Autonomie aller vergrössern zu wollen, müssen wir die sozialen Rahmenbedingungen schaffen, die es für jede_n unmöglich machen, institutionelle Macht über irgendjemand anders anzuhäufen. Wir müssen Anarchie erschaffen“ (S. 65).

Als „Ausgangspunkte in Richtung Freiheit“ schlägt das Kollektiv vor, Horizontalität, Dezentralisierung, Autonomie und Anarchie zusammen zu denken (S. 63). Weiterhin sollen Institutionen (immer wieder neu) entzaubert und daraufhin hinterfragt werden, ob sie tatsächlich dazu dienen, Bedürfnisse und Wünsche von Menschen zu verwirklichen (S. 65). Es wird vorgeschlagen, die bereits erwähnten Orte der Begegnung zu schaffen (S. 66), Gemeinschaft zu pflegen, aber Unterschiede zu wahren (S. 68f.) und Konflikte zu lösen, anstatt sie wie Staaten (und staatliche Logiken in demokratischen Prozessen) zu entscheiden (S. 69f.).

Schlussendlich empfehlen CrimethInc in ihrem Fazit unter dem Stichwort „Secessio Plebis“ die Abspaltung der „einfachen Bürger_innen“ vom System der Reichen und Mächtigen. Leider komme ich nicht umhin, dies mit dem Namen Zeitschrift der Neuen Rechten „Sezession“ zu assoziieren. Denn auch mit jenem, wird ja bewusst die Bestrebung zur Abspaltung propagiert, um aus einer „gereinigten“ autoritären Position heraus, Politik machen zu können. Anarchist*innen streben zwar nicht an, eine derartige Gegenhegemonie zu errichten. Doch auf welche Gruppe beziehen sich CrimethInc abschliessend, mit ihrer Aufforderung zur Abspaltung, dem Bruch mit dem System, anstatt der Integration in dieses? Sie können damit nur die anarchistische Szene und die Einzelnen darin meinen, anstatt „das Volk“.

Allerdings ist der Gesellschaft ziemlich egal, ob Anarchist*innen sich nach dieser Empfehlung nun verstärkt abspalten. Den Mächtigen und Reichen wäre es allerdings ein Dorn im Auge, wenn sich anarchistisches Denken, Verhalten und Handeln tatsächlich in sozialen Bewegungen ausbreiten und diese gross und radikal werden würden... Doch vielleicht sind dies Überlegungen, die in einem anderen Buch weitergesponnen werden müssten. From Democracy to Freedom ist dafür jedenfalls ein lesenswerter Input und eine erforderliche Kritik.

Jonathan Eibisch

Crimethinc: From Democracy to Freedom. Unrast Verlag 2018. 216 Seiten, ca. 17.00 SFr. ISBN 978-3-89771-245-4

Fussnoten:

1 http://crimethinc.blogsport.de/

2 Wenngleich es sich um ein ebenfalls lebhaftes und lesenswertes Buch handelt, trifft dies meiner Ansicht nach leider nicht auf Markus Lundström, An Anarchist Critique of Radical Democracy (2018) zu. Siehe Gai Dao #91.

3 David Graeber, Einen Wesen hat es nie gegeben. Oder: Die Demokratie erwächst aus den Zwischenräumen, in: Ders., Frei von Herrschaft. Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, 3. Aufl., Wuppertal 2013, S. 186-254.

4 siehe z.B.: Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus (1985); Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie (2002)

5 Cornelius Castoriadis: Demokratie als Verfahren und Demokratie als System sowie ders.: Welche Demokratie?, in ders.: Autonomie oder Barbarei, Lich/Hessen: Edition AV 2006.

6 Darin wird die Ansicht, die Polizei hätte den temporär rechtsfreien Raum im Schanzenviertel geduldet, als „Verschwörungstheorie“ bezeichnet.
(vgl. https://de.crimethinc.com/2017/08/08/total-policing-total-defiance-the-2017-g20-and-the-battle-of-hamburg-a-full-account-and-analysis)
Dies halte ich für eine absolut falsche Beschreibung. Die Gründe, warum dieser kurzzeitige „Freiraum“ entstand, sind sehr komplex. Die Behauptung „die Leute“ hätten sich dort eine „temporär autonome Zone“ erkämpft, greift darum entscheidend zu kurz und nährt eine problematische Vorstellung, wie Befreiungsprozesse aussehen und wie sie gestaltet werden können. Personen, die dies kritisieren oder anmerken, dass das, was sich in der Schanze zu dieser Zeit abgespielt hat eine äusserst gewaltvolle von toxischer Männlichkeit geprägte, besoffene Atmosphäre war, als Anhänger einer „Verschwörungstheorie“ abzutun, halte ich für unsolidarisch. Dass so eine Situation nicht dazu dient, idealtypische Beziehungen und dauerhafte Strukturen der Selbstorganisation aufzubauen, ist selbstverständlich ebenso klar...