Chasia Bornstein-Bielicka: Mein Weg als Widerstandskämpferin “Ich konnte mich bewusst für den Kampf, die Gefahr und das Risiko entscheiden.”

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Sachliteratur

Es gibt Bücher, die man nach ihrer Ersterscheinung auch Jahre später erneut und mit Gewinn lesen kann, ja soll, weil ihre Aussagen immer noch Gültigkeit besitzen. Hierzu gehört auch die Biografie von Chasia Bornstein-Bielicka.

Chasia Bornstein-Bielicka 1948 in Israel.
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Chasia Bornstein-Bielicka 1948 in Israel. Foto: יד ושם (PD)

Datum 26. Oktober 2023
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Diese Biografie ist bedeutsam, weil sie einerseits das einfache Leben einer jüdisch-polnischen Familie, ihre Lebensumstände, die sich kaum von anderen gleicher Schichten in Westeuropa unterschied, und ihre Sitten, die nun den Nimbus des Geheimnisvollen verlieren, vorstellt, zum anderen weil sie Einblicke in die jüdisch-sozialistische Jugendbewegung in Europa gibt und vor allem, weil hier Juden, dazu noch weibliche, nicht als Opfer sondern als Kämpfer, als Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime vorgestellt werden.

Im ersten Kapitel “Mein Zuhause” (S. 19-50) wird über die Familie, die Grosseltern, die Geschwister, die Wohnverhältnisse und das familiäre Leben der Familie Bielicka mit ihren vier Kindern in Grodno berichtet. Das zweite Kapitel “Jugendjahre” (51-72) gibt Einblicke in das Leben der jüdischen Jugendbewegung “Haschomer Hazair”, der sich Chasia als Zwölfjährige 1933 anschloss und deren Ideale ihr weiteres Leben prägten: “Die Bewegung war für uns das Weltall, unser zweites Zuhause.” “Die Bewegung lehrte uns kritisch zu denken, gewissenhaft zu lernen und die Dinge genau zu analysieren.” (58) “Wir waren eine Gemeinschaft, bereit zu teilen, zu verzichten, unseren Egoismus zu überwinden. Grundwerte des Geistes. Damals wussten wir noch nicht, wie sehr wir dies in den kommenden Jahren brauchen würden.” (59)

Mit der Eroberung Grodnos durch die Deutschen im September 1939 begannen die antisemitischen Pogrome der Deutschen aber auch der Polen, die erst mit der Besetzung durch die Russen auf der Grundlage des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom Mai 1939 ein Ende fanden. “Solange die Sowjets in Grodno waren, gab es keine antisemitischen Vorfälle.” (80) Allerdings wurden die bestehenden Parteien, Verbände, auch Judenverbände, aufgelöst und das sowjetische System eingeführt. Das war mit vielerlei Einschränkungen und Bedrückungen verbunden, aber: “Wir hatten ein Heim, hatten zu essen, Arbeit und Existenz. Es war zwar beschwerlich, aber möglich” (94) im Gegensatz zu dem Leben der polnischen Juden im westlichen Polen und der westlichen UdSSR, die in Massen flüchteten.

Mit der zweiten deutschen Besetzung ab Januar 1941 bis Juni 1943 ging diese beschwerliche aber mögliche Existenz zu Ende. Schon bald wurden zwei Ghettos, ein unproduktives für die Angehörigen der Intelligenz und der Kaufleute und ein produktives für Handwerker und Arbeiter eingerichtet, in das auch die Familie Bielicka, nachdem es am 1. November 1941 mit Stacheldraht abgesperrt worden war, eingepfercht wurde. “Unser vorheriges Leben war auf einmal vorbei. Alles wurde grau und düster. Der normale, gewohnte Alltag, auch derjenige unter der sowjetischen Besatzung war zu Ende. (…) Ständiger Hunger begleitete uns, das Gefühl ununterbrochenen physischen Mangels.” (108)

Während die Mehrheit der Ghettoinsassen passiv ihr Schicksal erduldeten oder sogar mit den deutschen Häschern kooperierten, entwickelten die Jugendlichen der Haschomer Hazair eigene Aktivitäten und begannen den Widerstand zu organisieren, Verbindungen zu anderen jüdischen Widerstandsgruppen zu knüpfen, Jugendliche aus dem Ghetto zu schleusen, darunter auch Chasia Bielicka, sie mit gefälschten Dokumenten zu versorgen, Fluchtwege aufzuzeigen und Waffen zu beschaffen.

Doch es kam zu keinem Aufstand im Ghetto, stattdessen wurden ab dem 1. November 1942 alle seine Insassen in die Vernichtungslagern verschickt, darunter auch Chasias Familie.

Chasia selbst, getarnt als Polin, wurde von der Widerstandsorganisation nach Bialystik beordert, um vom so genannten “arischen Gebiet” mit anderen jungen Frauen der Organisation den Kontakt zu den Partisanen in den Wäldern der Umgebung herzustellen. Die Darstellung dieser Erlebnisse erfolgt im 6. Kapitel “Bialystok” (155-294). Bei ihrer Widerstandsarbeit fanden sie auch die Unterstützung von Deutschen, so von Arthur Schade und dem Fabrikanten Otto Busse. Im Frühjahr 1944 trafen sowjetische Partisanen in den Wäldern ein und gründeten das antifaschistische Komitee von Bialystok. Ausser kleineren Sprengstoffattentaten bestand die Hauptaufgabe der Widerstand Leistenden darin, eine Karte von der Gegend um Bialystok, die alles, was über das deutsche Militär im Gebiet verzeichnete, zu erstellen, die den vorrückenden sowjetischen Truppen im Sommer 1944 übergeben wurde.

Nach der Befreiung des Gebietes durch die Sowjets kehrte Chasia Bielicka mit ihren wenigen Kameraden nach Gradno zurück (295-310). Doch die Lebensumstände waren weiterhin schwierig, ebenso die Zulassung zum pädagogischen Institut und die Auseinandersetzung mit ihren traumatischen Erfahrungen der letzten Jahre.

“Nach dem Krieg” (311-330) engagierte sich Chasia Bielicka weiterhin in jüdischen Organisationen, trat auf der europäischen Konferenz der Haschomer Hazair als Zeitzeugin auf und sammelte Geld für die weitere Jugendarbeit in Polen.

Zurück in Polen versuchte sie die jüdischen Kinder, die in katholischen Klöstern, Kinderheimen oder privaten Familien überlebt hatten, zu sammeln. “Die Kinder” (330-371) sollten ihre jüdische Identität wieder finden, Polen verlassen, um in Palästina leben zu können. Auch diese Arbeit gestaltete sich schwierig, besonders der Versuch diese Waisenkinder nach Palästina, das noch britisches Mandatsgebiet war, “illegal” zu verbringen. Todesdrohung und Internierung gingen damit einher. Doch das Unternehmen gelang. Ob die Hoffnungen, die mit dem sozialistischen Kibbuz Gam Schmuel verbunden wurden, sich erfüllten, wird nicht mehr erzählt.

Erst fünfzig Jahre nach den Ereignissen gelang es Chasia Bornstein-Bielicka, nachdem sie die Orte der Kindheit und Jugend in Polen aufgesucht hatte, ihre Erlebnisse in der Zeit der Barbarei in einem erschütternden authentischen, reflexiven Bericht, der mit vielen Fotos und Dokumenten versehen ist, niederzuschreiben und der Nachwelt zu überliefern.

Es ist Heiko Haumanns Verdienst, dieses ergreifende Dokument in deutscher Sprache herausgegeben zu haben, im “Geleitwort des Herausgebers” (S. 7-12) auf ergänzende Literatur zu verweisen und ein “Glossar” (373-383) mit Sacherklärungen anzufügen.

Wilma R. Albrecht

Chasia Bornstein-Bielicka: Mein Weg als Widerstandskämpferin. dtv Verlagsgesellschaft 2008. 384 Seiten. ca. SFr. 14.00. ISBN: 978-3423344975.