René Bohnstingl, Linda Lilith Obermayr und Karl Reitter: Corona als gesellschaftliches Verhältnis Welche Solidarität gab es in der Pandemie?

Sachliteratur

„Die inzwischen gut zweieinhalb Jahre während den Massnahmen zum Schutz vor dem Corona-Virus sind aus dem Alltag vieler Menschen aus dem deutschsprachigen Raum nicht mehr wegzudenken“.

Polizeikontrollstelle in Grossenbrode während der COVID-19 Pandemie, März 2020.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Polizeikontrollstelle in Grossenbrode während der COVID-19 Pandemie, März 2020. Foto: Fabian Horst (CC-BY-SA 4.0 cropped)

7. September 2023
2
0
8 min.
Drucken
Korrektur
„Die inzwischen gut zweieinhalb Jahre währenden Massnahmen zum Schutz vor dem Corona-Virus sind aus dem Alltag vieler Menschen aus dem deutschsprachigen Raum nicht mehr wegzudenken“. Sofort stutzt man, wenn man diesen Satz im Vorwort des kürzlich im Mangroven-Verlag erschienenen Buches „Corona als gesellschaftliches Verhältnis“ liest. Die Ausführungen sind vom Oktober 2022, als die Corona-Massnahme noch mal verschärft wurden.

Sie wirken wie aus der Zeit gefallen, wenn man die Sätze fast ein Jahr später liest. Denn oberflächlich erinnert heute nichts mehr an die Pandemiezeit. Kommt das Buch also zu spät oder hätte zumindest das Vorwort ergänzt werden müssen? Vielleicht kommt da Buch gerade zur rechten Zeit, weil sich ja einerseits kaum jemand noch mit der Pandemiezeit beschäftigt, bis auf wenige kleine Gruppen. Anderseits wird durchaus in diesen Tagen wieder über eine neue Corona-Variante und neue Impfprogramme diskutiert. In Grossbritannien werden auch wieder verstärkt Masken getragen.

Hierzulande hingegen ist eher Entwarnung angesagt. Wirtschaftsnahe Medien weisen darauf hin, dass eine durch Tests nachgewiesene Corona-Ansteckung ohne Symptome kein Grund für die Lohnabhängigen ist, sich krankschreiben zu lassen. Darüber entscheide allein der Arbeitgeber wird betont. Damit wird unmissverständlich darauf hingewiesen, dass über die Gesundheit der Arbeiter*innen wieder das Kapital entscheidet, wie es eben im Kapitalismus Alltag ist. Doch zu Beginn der Pandemie sorgen Arbeiter*innen und kämpferische Gewerkschaften in Frankreich, Italien und den USA dafür, dass bestimmte Produktionsketten stillgelegt wurden, das betraf vor allem Luxusgüter.

Die Arbeiter*innen wollten in Zeiten einer Pandemie nicht die Gesundheit riskieren für die Produktion, die Verpackung und das Liefern dieser Utensilien. Auch die ersten Arbeitskämpfe der Essenslieferant*innen in Berlin begannen im Corona-Winter 2021. Die Rider*innen wollten nicht ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren, auf die Besteller*innen der Waren so sehr Wert legten, dass sie sich sogar weigerten, mit den Lieferant*innen direkt in Kontakt zu treten. Sie mussten die Güter vor der Tür ablegen, bezahlt wurde vorher schon bargeldlos.

Leider werden diese Widerstandsaktionen von Lohnabhängigen in Corona-Zeiten in dem kürzlich im Mangroven-Verlag erschienenen Buch „Corona als gesellschaftliches Verhältnis“ (https://mangroven-verlag.de/corona-als-gesellschaftliches-verhaeltnis/) nicht erwähnt. Dort kommen lediglich die Kämpfe von Arbeiter*inne gegen Einschränkungen ihres Lebens im Zuge der Corona-Massnahmen vor, wie sie in Italien und Frankreich beispielsweise gegen die Einführung des grünen Passes stattgefunden haben. Diese selektive Wahrnehmung der proletarischen Reaktionen in Zeiten der Pandemie ist ein wichtiger Kritikpunkt an dem durchaus anregenden Buch von Karl Reitter, Linda Lilith Obermayr und Rene Bohnstingl veröffentlichen Sammelbandes.

Wie bei den drei philosophisch bewanderten Herausgeber*innen nicht anders zu erwarten, handelt es sich um ein Buch, das die Corona-Massnahmen durch die Brille von Marx in die Ideologie des Spätkapitalismus einordnet. Es ist sicher nicht das erste Buch, das ideologiekritisch an die Pandemiemassnahmen herangeht, aber eins, dass die Kritik aus einer bestimmten marxistischen Lesart auf über 300 Seiten weitgehend durchhält. Die Autor*innen beziehen sich öfter auf wenig bekannte linke Sozialwissenschaftler wie Rainer Mausbach, Heinz Steinert und Werner Seppmann. Der Verweis auf den esoterisch angehauchten Peter Sloterdijk wäre in entbehrlich gewesen.

Sehr sympathisch ist auch, dass sich die Herausgeber*innen nicht als Politberater*innen verstehen. Sie bestehen auf dem Primat der Kritik an einer unvernünftig eingerichteten Welt, ohne deswegen gleich wie oft gefordert konstruktive Lösungsvorschläge machen zu müssen. Erst so gelangen die drei Autoren zu ihrer profunden Kritik an der technokratischen Herrschaft, der Wissenschaft als Herrschaftswissen. Sehr interessant sind auch die Kapitel über die Veränderungen in der Ideologie- Berater- und Medienindustrie im Spätkapitalismus. Texte zum Thema Individuum und Masse wechseln ab mit einer sehr komplexen Exkursion zum Wandel der Kommunikation im Internetzeitalter. Wenn die Autor*innen immer wieder versuchen, ihre Thesen mit der Kritik an den Pandemiemassnahmen zu verbinden, so bleiben die beiden Bereiche doch gelegentlich unverbunden nebeneinander stehen.

Das ist aber in Sache begründet und nicht den Autor*innen anzulasten. Sie stellen gleich am Anfang klar, dass sie weder die Pandemie noch ihre Gefährlichkeit in Frage stellen. Das wäre dann das Gebiet von Naturwissenschaftler*innen und da wäre eine öffentliche Diskussion nötig. Denn auch da gibt es nicht die eine Wahrheit, das widerspricht auch den Prozess der wissenschaftlichen Forschung. Aber eine marxistische Betrachtung der Wissenschaft geht eben auch nicht davon aus, dass es keine Wahrheit und keine Fakten gibt. Sie müssen aber immer wieder neuen Beweisen und Erkenntnissen stellen. Das gilt auch für die Beurteilung der Pandemie und den Erfolgen oder Misserfolgen bei ihrer Bekämpfung, die sich auch an der Zahl der Menschen misst, die durch bestimmte Massnahmen nicht sterben müssen.

Eine solche Beurteilung des Charakters der Pandemie unter Beachtung verschiedener Parameter wäre wichtig um beurteilen zu können, ob die im Buch beschriebenen Propaganda für die Durchsetzung der Massnahmen berechtigt war oder nicht. Denn, die Autoren werden ja als Marxist*innen nicht generell ablehnen, wenn die Bevölkerung aufgefordert wird bestimmte Gesundheits- und Hygieneregeln einzuhalten. Solche Kampagnen gab es im Russland nach der Oktoberrevolution ebenso wie in Nicaragua nach der sandinistischen Revolution 1979. Es wäre jedenfalls kein emanzipatorischer linker Standpunkt, solche Massmahnen nur deshalb abzulehnen, nur weil sie von Staatsapparaten kommen.

Welche Solidarität gab es in der Pandemie?

Erfreulich ist, dass die Autor*innen nicht nur den Irrationalismus der Staatsapparate in der Pandemie an verschiedenen Stellen gut herausarbeiten, sondern auch den Irrationalismus in der sehr heterogenen Protestbewegung gegen die Corona-Massnahem kritisieren. Im Gegensatz zu einem Grossteil der veröffentlichten Medien kritisieren Reitter, Obermayr und Bohnstingl, dass die Gegner*innen der Corona-Massnahmen oft vorschnell unter da Label rechts eingeordnet werden. Allerdings haben sie in manchen Stellen die Massnahmegegner*innen zu sehr von notwendiger Kritik verschont. So wird ihnen in der Mehrheit nicht so überzeugend ein solidarischer Freiheitsbegriff attestiert. Dabei wäre es doch interessanter, zu analysieren, dass teilweise kleinbürgerliche Bewegungen einen solchen Solidaritätsbegriff gar nicht entwicklen können. Auch da wäre das Instrumentarium der Marx'schen Kritik durchaus hilfreich.

Unklar bleibt auch, warum die schon erwähnten Aktionen von Lohnabhängigen, die eben für ein Runterfahren der Produktion streikten, gar nicht erwähnt werden. Auch die durchaus kritikwürdige Kampagne Zero Covid-Kampagne wird teilweise verkürzt dargestellt, wenn der antikapitalistische Impetus dahinter, einfach unterschlagen wird. Überhaupt fällt auf, dass der Solidaritätsbegriff von linken Verteidiger*innen der Massnahmen gar nicht näher analysiert wird. Dabei dominierte gerade in den ersten Wochen im Frühjahr 2020 die Parole „Keine/r bleibt zurück“ und es gab in vielen Städten Menschen, die trotz der Demonstrations- und Versammlungsverbote für Obdachlose, für Geflüchtete und überhaupt für besonders ausgebeutete und unterdrückte Menschen einsetzen, die mit dem Prädikat vulnerabel belegt worden.

Ich kann mich erinnern, wie bereits im April 2020 linke Hausprojekte in Berlin-Friedrichshain Wollmasken für Menschen strickten, die sich wegen der Angst vor Ansteckung nicht auf die Strasse trauten, vielleicht weil sie auch tatsächlich Vorerkrankungen hatten. Man mag diese Handlungen heute belächeln, doch es ist verfehlt, sie unter die Rubrik Staatsgläubigkeit einzuordnen, weil sie angeblich dem späteren Maskenzwang vorwegnahmen. Vielmehr handelte es sich dabei auch um viele kleine Akte der Solidarität in den Städten, die eben nicht einfach danach abgefragt wurden, ob jemand für oder gegen die Pandemiemassnahmen war.

Merkwürdig ist an dieser Stelle auch, dass die Autor*innen dann die verheerenden Folgen auf die auf die globalisierte Wirtschaft ausmalen, wenn die ZeroCovid-Pläne umgesetzt worden wären. Aber wollen die Autor*innen nicht den revolutionären Bruch mit der kapitalistischen Wirtschaft? Und gehören da nicht Unterbrechungen viel grösseren Ausmasses dazu? Es gibt die berechtigte Kritik, dass mit Zero Covid die autoritäre Staatlichkeit affirmiert werden könnte. Das damit aber die kapitalistischen Produktionsketten zum Erliegen kommen würden, gehört nicht dazu

Auch manche Kritik an antifaschistischen Gruppen ist im Buch mit heisser Nadel gestrickt. Gruppen, die mit Antifa-Fahne „Wir impfen Euch alle“ geschrien haben, verdienen diese Kritik. Doch warum wird ausgerechnet die Antifa Friedrichshain (AFH) für einen Text kritisiert, in dem sehr differenziert aufgeführt wird, dass eben sehr verschiedene Milieus auf den Protesten gegen die Corona-Massnahmen vertreten sind? Es wird in dem kritisierten Text der AFH auch korrekt darauf hingewiesen, dass einige Teilnehmer*innen der massnahmekritischen Kundgebungen Schilder mit dem Schriftzug „Nazis raus“ getragen haben, was in dem Text positiv vermerkt wird. Richtigerweise fragen die Antifaschist*innen auch, welchen Begriff von Nazis und Faschismus da verwendet wird.

Sind damit die Ultrarechten gemeint, die unbeeindruckt von den Schildern direkt daneben stehen? Oder sind damit die Menschen gemeint, die sich an der Teilnahme dieser Rechten stören und dagegen protestieren? Wenn im Herbst 2023 ein Buch herausgegeben wird, dass sich ideologiekritisch mit der Pandemie auseinandersetzt, müsste es doch möglich sein, den Irrationalismus der Staatsapparate und mancher ihrer linken Verteidiger*innen ebenso in den Fokus zu nehmen wie den Irrationalismus vieler Massnahmekritiker*innen. An einer Stelle im Buch wird ein dritter Pool gefordert, in dem sich Linke jenseits von Rechten und Linksliberalen zusammenfinden sollen. Wenn auch an manchen Stellen im Buch diese Äquivalenz zu beiden Seiten an manchen Stellen nicht eingehalten wird, ist es doch ein Diskussionsangebot, das zur richtigen Zeit kommt, wenn von neuen Covid-Varianten berichtet wird.

Hier wird sich dann auch erweisen, ob die Autor*innen mit ihrer These Recht haben, dass Staat und Kapital mit den strikten Massnahmen einen Umbau des Staats bezwecken oder ob es nicht eher darum geht, den kapitalistischen Alltag möglichst störungsfrei am Laufen zu halten. Und dazu gehört auch, dass die Gesundheit der Beschäftigten weiter unter dem Kommando des Kapitals steht.

Peter Nowak

René Bohnstingl, Linda Lilith Obermayr und Karl Reitter: Corona als gesellschaftliches Verhältnis. Brüche und Umwälzungen im kapitalistischen Herrschaftssystem. Mangroven-Verlag 2023. 343 Seiten. ca. SFr. 36.00. ISBN: 978-3-946946-36-6.