Björn Höcke: Nie zweimal in denselben Fluss Björn Höckes gesammelte Drohungen

Sachliteratur

Der AfD-Politiker spricht Klartext über das von ihm angestrebte undemokratische «Dunkeldeutschland».

Björn Höcke an der Plenarsitzung des Thüringer Landtages am 25. Februar 2016.
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Björn Höcke an der Plenarsitzung des Thüringer Landtages am 25. Februar 2016. Foto: Olaf Kosinsky (CC BY-SA 4.0 cropped)

15. Oktober 2018
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Der führende AfD-Politiker Björn Höcke gibt mit der Veröffentlichung eines knapp 300 Seiten langen Protokolls eines Gespräches, das Sebastian Hennig mit ihm geführt hat ("Nie zweimal in denselben Fluss", Berlin 2018), die Gelegenheit, dass seinen Ansichten genau "auf den Zahn gefühlt" wird. Das soll im Folgenden geschehen.

Er trägt nicht nur seine politischen Auffassungen vor. Seine Ausführungen wollen nicht nur argumentieren und Stimmung machen. Sie verkörpern eine bestimmte Lebensart und subjektive Gestimmtheit. Von deren Durchsetzung in der ganzen deutschen Bevölkerung erwartet sich der AfD-Politiker Grosses. Das Gesprächsprotokoll präsentiert die von Höcke gewollte politische u n d psychische Transformation in schonungsloser Offenheit.

Die Ablehnung des Grundgesetzes

Höcke hält faktisch wenig von Grund- und Menschenrechten sowie von Gewaltenteilung und Parlamentarismus. Für Höcke sind die "westlichen Werte" "aufgeblasener Werteschaum" (199). "Der Parteiengeist muss überwunden, die innere Einheit hergestellt werden" (288), sagt er. Schluss mit dem "westlich-dekadenten Liberalismus und der ausufernden Parteienherrschaft"!(285) An deren Stelle soll "eine fordernde und fördernde politische Elite, die unsere Volksgeister wieder weckt", treten (286).

Mit Machiavelli bezweifelt er, dass „ein Volk überhaupt in der Lage ist, sich selbst aus dem Sumpf wieder herauszuziehen" (286)."Es braucht eine starke Persönlichkeit und eine feste Hand an langer Leine, um die zentrifugalen Kräfte zu bändigen und zu einer politischen Stosskraft zu bündeln" (231).

Bei dieser Aussage handelt es sich um eine Kompromissbildung zwischen Höckes Votum für "die feste Hand" und dem Versuch, das Plädoyer für die autoritäre Lösung nicht als ganz so hart erscheinen zu lassen, wie es faktisch ist. Herauskommen tut die unfreiwillig komische Formulierung von der "festen Hand an langer Leine".

Der Ausschluss der Opposition aus dem "Volk"

Höcke macht deutlich: Der von ihm angestrebte Ausschluss von Teilen der Bevölkerung aus dem "Volk" betrifft nicht allein die Migranten. Höcke belässt es nicht dabei, in offen rechtsradikalem Ton für den Kampf gegen den vermeintlich "bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch" (216) zu agitieren. Er plädiert auch in Bezug auf die Menschen mit reindeutscher Abstammung für einschneidende Massnahmen.

Höckes Gesprächspartner meint – von Höcke unwidersprochen – diesbezüglich: "'Brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser kuriert werden', wusste schon Hegel" (254). Höcke stellt zur von ihm angestrebten Umwälzung fest, dass "wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind" mitzumachen (257).

Höcke denkt an einen "Aderlass" und deutet an, dass diejenigen Biodeutschen, die seinen politischen Projekten nicht zustimmen, aus Höckes Deutschland ausgeschlossen werden. Auf welche Art und Weise dies geschehen soll, bleibt der Phantasie überlassen. Wahlweise treten die Optionen Migration, Entrechtung, Kriminalisierung oder Liquidierung vors innere Auge.

"Die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen" (257f.).

Die Ausblendung von Realität und das Lob eines faschistischen Regimes

Angesichts dieser Ansagen stellt der mit Höcke sympathisierende Gesprächspartner Hennig eine von ihm ganz und gar nicht kritisch gemeinte Frage. Ob Höcke denn "eine Lanze für den (italienischen – Verf.) Faschismus brechen" wolle? (141) Höcke antwortet: "Wir haben Preussen als positives Leitbild" (142). Hennig hakt nach: "Man kann den Faschismus ja auch als den Versuch einer ‚Preussifizierung' Italiens verstehen" (142).

Höcke findet das einen "interessanten Gedanken" (142) und fügt hinzu: "Das ‚unbequeme Leben', das Mussolini seinen Landsleuten abforderte, erinnert zumindest ein bisschen an die kratzige, aber wärmende preussische Jacke, von der Bismarck sprach" (142). Höcke weiss vom italienischen Faschismus nur Gutes zu berichten ("gute Strassen und pünktliche Züge" (142)).

Auffallend ist, dass Höcke aber beredt schweigt
  • zur Einparteiendiktatur, zum Verbot anderer Parteien und der Gewerkschaften,
  • zur Verfolgung aller, die oppositionelle Aktivitäten oder abweichende Meinungen zeigen,
  • zu den italienischen Eroberungskriegen in Afrika,
  • zur Entrechtung der Juden und ihrer Deportation in deutsche KZs.
Es ist schon ein Zynismus sondergleichen, angesichts der Opfer des italienischen Faschismus vom "unbequemen Leben" (Mussolini) zu sprechen und von einer "ein bisschen kratzigen, aber wärmenden preussischen Jacke" (Höcke). Die italienischen Faschisten übten bereits vor ihrer Machtausübung Terror aus gegen die Selbstorganisation von Landarbeitern, gegen Genossenschaften, gegen Gewerkschaften und gegen linke Parteien.

Selbst der von Rechten verehrte Ernst Nolte arbeitet heraus, dass die Gewalt der Faschisten von weit grösserem Ausmass und "von ganz anderer Natur war" als die Gewalt von links in Italien (Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1984, S. 258). In der faschistischen Gewalt "lebt etwas vom urtümlich Bösem, von zynischer Menschenverachtung und diabolischer Freude an der Erniedrigung der anderen Menschen, von lichtloser Liebe zur Gewalt um ihrer selbst willen" (Ebd., S. 260). "Schon früh sprach Mussolini vom faschistischen Leoparden, der mit dem trägen Vieh der sozialistischen Massen nach Belieben verfahre" (Ebd., S. 253).

Die neue Elite

Höcke tritt ein für die Reinigung und Führung Deutschlands durch eine Elite. Mit starkem Besen sollen die "feste Hand" (231) und der "Zuchtmeister" (286) den Saustall ausmisten. Das ist Höckes politisches Projekt. Dessen einzelne inhaltliche Ziele bleiben mit einer Ausnahme im Dunkeln.

Zur Besessenheit, mit der das Migrationsthema ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt und nicht zu anderen Themen ins Verhältnis gesetzt wird (Klimawandel, schlechte Personalausstattung von Schulen und Krankenhäusern, Mangel an bezahlbaren Wohnungen), passt der Verlust an Augenmass.

Zum Beispiel beklagt Höcke die Verwendung von "150 Millionen Euro Steuergeld" in "Bundestags- und Landesprogramme‚ für Demokratie, die in ihrer Hauptstossrichtung ‚gegen Rechte' gerichtet sind" (137). Urteilskraft erfordert unter anderem: Einen Sachverhalt in seinem realen Stellenwert im Verhältnis zu anderen Sachverhalten angemessen gewichten zu können. Höckes Urteil über die Ausgabe von 150(!) Millionen(!) Euro in der Bundesrepublik Deutschland 2017: "Da bleibt am Ende, wie wir alle leidvoll spüren können, kaum noch Energie, um die eigentlichen Probleme anzupacken" (137f.).

Höckes ökologisches Patentrezept

Das Thema des Klimawandels und der Schädigung der für menschliches Leben relevanten ökologischen Bedingungen kommt bei Höcke kaum vor. Im Gespräch heisst es: "Allein die grössten fünfzehn von ihnen (Containerschiffe – Verf.) stossen jährlich mehr schädliche Schwefeloxide aus als alle 760 Millionen Autos weltweit!" (278) Die Botschaft ist klar: Legt fünfzehn Schiffe an die Kette und das Umweltproblem ist schon so gut wie gelöst.

Religion

Höcke spricht von der "Notwendigkeit einer religiösen Wiederverankerung" als "einer der entscheidenden Aufgaben der Zukunft" (269). Wie die überwiegende Mehrheit der AfD-Mitglieder verbindet Höcke nichts mit dem Christentum. Die Religion kommt nicht wegen ihres Inhalts ins Spiel, sondern aus einer politischen Wirkung, die sich Höcke von der Stärkung der Religion verspricht: Freisetzung "innerer Kräfte der Menschen" "für die grundlegende Erneuerung unseres Landes" (162).

Der Kyffhäuser-Mythos als Leitbild

Höcke möchte "unserem Volkscharakter" (156) zur Regeneration und zum Durchbruch verhelfen. Dieser Begriff bleibt nebulös. Der AfD-Politiker spricht von "inneren Substanzen, aus denen der Genius des Volks seine Kraft schöpft und den es zu erhalten gilt" (291). Bei diesen "inneren Substanzen" handele es sich um Mythen. Ihnen schreibt Höcke eine "belebende und identitätsstiftende Wirkung auf Menschen und Völker" zu (159).

Besonders am Herzen liegt Höcke der "Kyffhäuser-Mythos der Deutschen: Bekanntlich schläft der alte Kaiser Barbarossa in einer Höhle des Kyffhäuserberges, um eines Tages mit seinen Getreuen zu erwachen, das Reich zu retten und seine Herrlichkeit wiederherzustellen" (159).

Diese Legende passt haargenau zum politischen Projekt von Björn Höcke. Vermutlich stellt er sich vor, er sei der zweite König Barbarossa. Immerhin wohnt er schon mal in der richtigen Gegend. "Die mitteldeutschen Refugien, das sagenumwobene ‚Dunkeldeutschland' könnte als Überlebenskern unserer Nation eine elementare Bedeutung bekommen" (183). Warum aber rangiert die Kyffhäusersage an vorderster Stelle unter den "deutschen Mythen"? Wie viele kennen diese Sage überhaupt? Und wem bedeutet sie heute etwas?

Der „deutsche Volkscharakter“

Wir haben es zusammengefasst mit folgendem Gedankengang zu tun: Der deutsche Volkscharakter nähre sich von Mythen. Das Besondere an den Deutschen sei, dass sie einen starken inneren Bezug zu diesen Mythen haben ("romantische Tiefenhellsichtigkeit der Deutschen" (158)). Diese Mythen wirken sich auf die Deutschen dann "stärkend und heilbringend" (158) aus, wenn die Deutschen ihre Identifikation mit ihren Mythen verstärken.

Dafür, dass die Deutschen dies tun, brauche es eine Führung durch eine solche Elite, die die Mythen wertschätzt. Geführt von dieser Elite wachse dem deutschen Volk eine Macht und Herrlichkeit zu, der nichts widerstehen könne. Der Glaube versetze Berge.

Der Kitsch als Zentrum der von Höcke propagierten Lebensart

Die inhaltliche Armut seines politischen Projekts versucht Höcke zu kompensieren. Wenn man der Bevölkerung faktisch nicht mehr als "Ausländer raus" und "eine starke Hand" zu bieten hat, dann muss man sich wenigstens als denjenigen empfehlen, der ihnen ein neues Selbstbewusstsein verschaffe. Die subjektive Aufwertung des kleinen Ichs durch ein pompöses Grössenselbst bildet das Angebot von Höcke für die Deutschen.

In dem Gesprächsprotokoll wird deutlich, wie Höcke selbst jedes einzelne Moment seiner Existenz adelt, indem er es unmittelbar auf das grosse Ganze und Allgemeine bezieht. Wie in vielen Lebensmitteln heute die Geschmacksverstärker dominieren, so dominieren im Kitsch die stimmungsvollen Effekte. Kitsch besteht in der Vortäuschung einer Tiefe der Erkenntnis oder des Gefühls, ohne dass diese existiert.

Höcke badet im Kitsch: "Und in dieser Ländlichkeit, wo die Welt noch gross und der Tag noch lang ist, liegt meine eigentliche Heimat, und dort wird sie auch bleiben" (33). "Im dahingleitenden Geschichtsstrom – der Rhein! – verschwinden die menschlichen Werke nach und nach – die Burgruinen!" (30)

Sich und anderen die eigene Bedeutsamkeit einreden

Der Übereifer, mit den Höcke ein bestimmtes Bild von sich aufdrängen will, wirkt penetrant. Höcke und sein Gesprächspartner zitieren unablässig aus dem philosophischen und literarischen Bildungsgut. Diese Zitate wirken wie ausgerupfte Federn. Höcke zitiert zwei Mal "den Lebenskunstphilosoph Wolfgang Schmid" (48) und zwei Mal Wilhelm Schmid, ohne zu wissen, dass alle vier Zitate von Wilhelm Schmid stammen.

Höcke hat es auf bedeutungsgravitätische Effekte und Selbstverwichtigung abgesehen. Er bietet in Serie unstimmige Bilder, missglückte Metaphern sowie sentimentale Phrasen. Seine Aufladung mit Grösse funktioniert um den Preis unfreiwilliger Komik. "Tatsächlich bleibt mir gegenwärtig oft nur das Schwelgen in Erinnerungen, wenn ich spätabends zu Hause vor dem Kaminfeuer sitze" (80).

Ein Angeber kann es nicht dabei belassen mitzuteilen, er sei abends müde und sitze im Sessel. Er leidet unter dem Drang, sich grösser darzustellen als er ist. Unter einem "Schwelgen" vorm "Kaminfeuer" macht er es nicht.

Der Sinn des Grössenwahns

Höcke versteht die Darstellung seiner Gefühlswelt nicht privat, sondern normativ. Der AfD-Politiker will eine Transformation der Gesellschaft, die über das Politische weit hinausgeht. Er hat klare Vorstellungen, zu welcher Lebensart seine Barbarossa-Elite die Deutschen umerziehen soll. Man fühlt sich an die Scherzpostkarte erinnert, auf der es heisst: "Ich leide nicht an Realitätsverlust. Ich geniesse ihn." Die von Höcke angestrebte Mentalität steht im Gegensatz zum Satz "Reif ist, wer auf sich selbst nicht mehr hereinfällt" (Heimito von Doderer).

Der AfD-Politiker predigt die Ergriffenheit von der eigenen Hingabe an selbstwertdienliche Illusionen. Höcke empfiehlt das Primat des Scheins über das Sein nicht allein den einzelnen Individuen, sondern dem ganzen deutschen "Volk".

Die dauernde Anrufung weihevoller Bedeutungen soll eine Stimmung von "Herrlichkeit" erzeugen. Wer sich an ihr berauscht, erhebt sich subjektiv über die Wirklichkeit und ordnet diesem euphorischen Zustand auch die Aufmerksamkeit für die "menschlichen Härten und unschönen Szenen" (254), die Höcke ankündigt, unter.

Gegen die Moderne

Höcke empfiehlt sich als Retter und leader, der die eigentliche und wesentliche Mission der Deutschen wahrnimmt und ihnen nahebringt. Er tritt auf als Verkünder des infolge seiner vermeintlichen Ewigkeit Unwidersprechlichen, das alles moderne Argumentieren überbiete.

Gemeint sind angeblich fundamentale Seinsschichten. "Die Moderne" (258ff.) wolle – so Höcke – von ihnen nichts wissen. Höcke kann sich nicht entscheiden, ob die Moderne diese vermeintlich übergeschichtlichen Fundamente zerstöre oder ob letztere den nie versiegenden Kraftquell des anzustrebenden AfD-Deutschlands bilden. Höckes Mission lautet jedenfalls: "Es geht nicht nur darum, ein Gemeinwesen gut zu organisieren. Es geht auch um die Wiederverzauberung der Welt" (163).

Höcke attackiert "die Moderne", um rationales Argumentieren zu entwerten. Die Aufmerksamkeit für die eklatanten Widersprüche seiner Aussagen könnte seiner Stimmungsmache schaden.

Widersprüche

Einerseits findet Höcke den "NS-Imperialismus, der eine Missachtung des Selbstbestimmungsrecht der Völker war", aus ungenannten Gründen nicht gut (283). Andererseits hebt er die seines Erachtens positiven Leistungen der Kolonialmächte hervor. "Möglicherweise besteht die grösste Schuld der Kolonisten in ihrem oft kampflosen Rückzug" (190f.).

Der AfD-Politiker kritisiert die Moderne, andererseits bezieht er sich positiv auf "faustische Menschen" (272). Höcke benutzt wie betriebsblinde Mitwirkende der "Erlebnisgesellschaft", die keine Unterschiede zwischen Geltungsmassstäben der Erkenntnis, der Praxis und des Krimis kennen, den Begriff "spannend": "Letztlich ist das Vorhandensein von Grenzen auch die Voraussetzung für das äusserst spannende Abenteuer, diese zu überschreiten. Das sollten wir uns nicht nehmen lassen. Als faustische Menschen sind wir Europäer dafür prädisponiert" (272)

Der Hinweis auf Widersprüche, in die sich ein Denken nicht verwickeln sollte, gilt Höcke als äusserst unromantisch. Zugleich beklagt er die "finale Auflösung" aller "Identitäten" (261).

Einerseits beschreibt Höcke die Gegenwart apokalyptisch. Er möchte tabula rasa schaffen, um dann ‚Tischlein deck dich' spielen zu können. "Wir erleben die finale Auflösung aller Dinge: von den Identitäten der Geschlechter und Ethnien, den Familien, den religiösen Bindungen über die kulturellen Traditionen" (261).

Andererseits hat "die finale Auflösung aller Dinge" Höcke zufolge den Kyffhäusermythos und den deutschen "Volkscharakter" verschont. "Die Sehnsucht der Deutschen nach einer geschichtlichen Figur, welche einst die Wunden im Volk wieder heilt, die Zerrissenheit überwindet und die Dinge in Ordnung bringt, ist tief in unserer Seele verankert, davon bin ich überzeugt" (161).

Die "Vergangenheitsbewältigung"

Auf die Behauptung, man relativiere den Holocaust nicht, folgt in Höckes Gesprächsprotokoll eben diese Relativierung. Höckes Gesprächspartner Hennig meint: "Ohne etwas zu relativieren, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass damals in Kriegszeiten überall haarsträubende Dinge passiert sind" (71).

Diese Andeutung lässt glauben, alle Kriegsparteien hätten sechs Millionen Juden in industriellem Massenbetrieb ermordet. Höcke rückt dieses Verbrechen in die Nähe von Fehltritten, die im Leben nun einmal unvermeidbar seien: "In der irdischen Welt sind Licht und Schatten wild miteinander verwirbelt" (62).

Wenn Höcke an 1933-45 denkt, gilt seine Aufmerksamkeit zunächst und zumeist der "katastrophalen Niederlage von 1945" (63). Schlimm am NS sei also gewesen, dass er den Weltkrieg verloren hat. Aber: "Es gibt neben all dem Elend und Schrecken auch einen ‚Vorsprung der Besiegten'" (64). Höckes Gesprächspartner bringt eher der Pflicht als der Neigung gehorchend den naheliegenden Einwand: "Es fällt nicht leicht, angesichts der Millionen Toten und der gigantischen Zerstörungen einen ‚Vorsprung' zu erkennen" (64).

Höcke zeigt, wem seine Empathie gilt. Anlässlich des Themas "Millionen Tote" durch Holocaust und deutsche Angriffskriege kommt Höcke gleich wieder auf "den Verlierer" (64). Und das sind für ihn natürlich … die schwer geprüften Deutschen.

Auch an dieser Stelle weiss Höcke einen seiner salbungsvollen Kalendersprüche anzubringen: "Carl Gustav Jung hat einmal gesagt: ‚Da, wo wir stolpern, finden wir reines Gold.'" (63) Höcke lehnt jede Vergangenheitsbewältigung ab, die „unser nationales Selbstwertgefühl unterminiert“ (69). Er teilt mit, wie die Deutschen stattdessen die erlittenen "schweren Prüfungen" beantworten sollen: mit "elementaren Reifungsschüben" (63) und "innerer Stärkung" (69).

Höckes drei Botschaften

Höcke vertritt drei Botschaften. Erstens die üblichen rechten Positionen (zur Migration als vermeintliche "Mutter aller Probleme" und zur "Vergangenheitsbewältigung"). Zweitens das Plädoyer für kollektives überkompensatorisches Selbstbewusstsein. Höcke wartet zusätzlich mit dem Protokoll seiner individuellen Versuche auf, sein Selbstbewusstsein zulasten seines Bewusstseins zu steigern.

Die Menschen sollen nicht wahrnehmen, wie es ihnen infolge der Umsetzung von Höckes Vorschlägen schlecht ergehen wird, sondern sich der grandiosen Vorstellung hingeben, Teil eines Volkes voller Macht und "Herrlichkeit" zu sein.

Selbst die überwiegende Mehrheit der AfD belächelt Höckes Kyffhäuserfimmel. Er tut in dem Gespräch – wie gezeigt - auch einiges dafür, nicht ernst genommen zu werden. Anders verhält es sich mit Höckes Agitation für einen Umsturz. Höcke tritt ein für den gewaltsamen Ausschluss aller Opposition aus der von einer Elite mit "starker Hand" geführten Nation ein. Er befürwortet die Umerziehung der Bevölkerung zum "deutschen Volkscharakter" durch die "Zuchtmeister".

Dieses brutale politische Projekt bildet die dritte Botschaft von Höcke. Es formuliert eine trotz allen verquasten Überbaus unmissverständliche Ansage. Höcke macht bekannt, was die Bevölkerung zu erwarten hat, wenn er und seinesgleichen nicht nur an die Regierung, sondern an die Macht kommen.

Meinhard Creydt

Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig: Nie zweimal in denselben Fluss. Manuscriptum 2018. 304 Seiten, ca. 24.00 SFr. ISBN 978-3944872728

Fussnoten:

1 Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1984, S. 258

2 Ebd., S. 260

3 Ebd., S. 253