Arbeit – Bewegung – Geschichte: Arbeit und Literatur Auf der Suche nach dem neuen alten Proletariat

Sachliteratur

Im Schwerpunktheft „Arbeit und Literatur“ der Zeitschrift „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ wird aus aus einer breit angelegten historischen Perspektive der Frage nachgegangen, welche Funktion Literatur für das Bild von Arbeit und für die Vorstellung von einer Arbeiter*innenklasse ausübt.

Museum für Wissenschaft und Industrie in Manchester.
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Museum für Wissenschaft und Industrie in Manchester. Foto: Chris Allen (CC BY-SA 2.0)

16. Mai 2021
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Letztlich geht es darum, das identifikatorische Potenzial von Arbeit sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft der Arbeitenden auszuloten. Dass dieses Unterfangen im Rahmen eines Sammelbands maximal schlaglichtartig angegangen werden kann, versteht sich. Die versammelten Beiträge entwerfen aber mit einer grossen historischen Spannweite ein vielschichtiges Panorama literarischer Entwürfe von Arbeit, Arbeitenden und der Arbeiter*innenklasse.

Ein Highlight des Bandes hinsichtlich der Frage, was Literatur für Vorstellungen von der Arbeitswelt und ihrer Protagonist*innen leistet, ist das Interview mit Anke Stelling, Autorin des Romans „Schäfchen im Trockenen“. Sie zeigt hier das Potenzial fiktionaler literarischer Entwürfe, Protagonist*innen in gesellschaftliche Settings zu platzieren und auszuloten, wie sich die einzelnen Individuen in sozialen Strukturen bewegen, wie sie entscheiden, wie sie fühlen. Literatur ist keine Soziologie, sie verfügt neben den wissenschaftlichen Beschreibungs-, Erklärungs- und Vorhersagefunktionen über die Fähigkeit, Leser*innen „mitfühlen und miterleben“ zu lassen, „ein erstaunlich günstiges und leicht zugängliches Empathietraining“ (37), so Stelling.

Den grössten Teil des Schwerpunkts zu Arbeit und Literatur nehmen gleich vier Beiträge von US-amerikanischen und britischen Autor*innen ein, die bereits 2017 erstmalig erschienen und nun in deutscher Übersetzung publiziert werden. Sherry Lee Linkon analysiert amerikanische Arbeiterliteratur „nach der Deindustrialisierung“, so der Titel.

Die ‚Deindustrialisierung' und die damit verbundene ‚Deindustrialisierungsliteratur' verortet sie am Ende des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart und zeichnet anhand von interessanten Lektüren ein Bild der amerikanischen Arbeitswelt. Im Zentrum steht die Suche nach der identitätsstiften Bedeutung von Arbeit für das einzelne Subjekt sowie für die Gemeinschaft der Arbeitenden. Ist ‚Arbeit' überhaupt noch eine Kategorie, über die sich eine Gemeinschaftsidentität formulieren liesse?

Haben wir nicht alle nur noch ‚Jobs', die nicht nur prekär und temporär, sondern auch weniger produktorientiert sind und daher in immateriellen Werten wie Dienstleistungen etc. zerfliessen? Gerade am Ende des industriellen Zeitalters werden die Brüche sichtbar, die die neuen Formen von Arbeit bei den Menschen und den Gemeinschaften hinterlassen. Die Literatur, so lässt Linkons Beitrag schliessen, ist jener empfindliche Seismograph sozialer Veränderung, an dem sich diese Bruchstellen erkennen und reflektieren lassen.

Leikons Artikel stammt, wie gesagt, aus dem Jahr 2017 und es wäre spannend zu sehen, wie sich das von ihr untersuchte Verhältnis von Arbeit und sozialer sowie individueller Identität während des Trump-Regimes weiterentwickelt hat.

Die gleiche Frage stellt sich auch am Ende des Aufsatzes von Kathy M. Newman, der ebenfalls 2017 erschien und in dem sich die Autorin mit der Darstellung von Arbeiter*innen und Arbeit im Hollywoodfilm auseinandersetzt. Der Text ist eine Fundgrube für Cineasten, zeigt aber auch, wie sehr sich ‚Arbeit' in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat und wie wenig, so scheint es, von einer Arbeiterklasse als einer irgendwie homogenen, sich mit einer gemeinschaftlichen sozialen Erfahrung identifizierenden Gruppierung die Rede sein kann.

Die Autorin zeigt scharfsichtig, wie schon in frühen Hollywoodfilmen weitere diversifizierende Faktoren wie etwa Immigration, ‚Race', Geschlecht usw. für ein vielschichtiges Bild der Arbeiterklasse mitreflektiert werden.    Es drängt sich die Frage auf, was mit der Solidarität und dem Zusammengehörigkeitsgefühl einer sozialen ‚Klasse' geschehen ist, ob davon in unserer Gegenwart überhaupt noch etwas übrig ist. Im Interview mit Patrick Eiden-Offe, Autor des Buchs „Poesie der Klasse.

Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats“, wird genau dieser Frage nachgegangen. Eiden-Offe stellt die These auf, dass die Literatur einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung eines Klassenbewusstseins im 19. Jahrhundert hatte und dass es daher auch heute an den Arbeiter*innen wäre, sich eine kollektive Identität gewissermassen selbst zu erfinden. Allerdings müsse dies in einem paradoxen Schöpfungsakt geschehen, denn die Arbeiterklasse müsste sich erst einmal „mit ihrer völligen Machtlosigkeit identifizieren“ (117) und sich auf diese Weise machtvoll als machtloses Kollektiv formieren.

Ein weiterer grundsätzlicher Aspekt des Sammelbands ist die Fokussierung auf populäre Literatur und Kunst. Freilich einleuchtend, denn die Kunst der Arbeiter*innen oder über Arbeiter*innen wurde zumeist nicht als ‚hohe Literatur' eingeschätzt und ist aus dem Kanon der Schulen, Universitäten und Feuilletons verschwunden.

Die besondere Leistung einiger Autor*innen des Sammelbands besteht daher nicht zuletzt darin, die vielen Texte aufzuspüren, die nicht zu ‚Klassikern' geworden sind, so z.B. der Beitrag von Florence S. Boos über die Autobiografien viktorianischer Arbeiterinnen, in dem das Bild der englischen Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts um die bislang viel zu wenig sichtbare Perspektive der Arbeiterinnen erweitert wird. Auch der Beitrag von Jan Goggans über US-amerikanische Arbeiterliteratur 1830-1930 nennt zahlreiche vergessene Texte und Textformen und stellt den Umgang mit literarischen Werken in der Arbeiterklasse dar.

Ergänzt wird der Fokus auf US-amerikanische Produktionen um einen Beitrag von Helen Thein über den Autor Ronald M. Schernikau, der eine Ausbildung am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in der DDR genoss und im Zuge der damaligen Kulturpolitik des „Bitterfelder Wegs“ einige Zeit in einem Tagebaubetrieb arbeiten musste, um diese Arbeit literarisch zu ‚verarbeiten'. Am Ende, nach einer scharfzüngigen Rezension von u.a. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ und der Vorstellung einiger Einrichtungen zur Erforschung der Arbeiter*innenliteratur, steht ein Tagungsbericht, der einen dunklen Fleck ausmacht, den auch dieser Sammelband nicht erhellen kann: Was ist sie denn nun, die Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts?

Die „Rückkehr“ zur Arbeiterklasse kann kein Aufwärmen eines Klassenbewusstseins des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts werden – viel zu sehr hat sich die gegenwärtige Arbeitsgesellschaft ausdifferenziert und ebenso die Perspektiven auf Arbeit aus antirassistischer, feministischer, queerer etc. Sicht, die das Potenzial bergen, den Begriff von Arbeit, das Bild vom Proletarier und vom politischen Kampf zu „prüfen und zu erweitern“ (147). Diese ‚Rückkehr' zu einem erneuerten Klassenbewusstsein bleibt also am Ende als offene Frage und als Motivation, weiter zu lesen. Denn eines macht dieser Band deutlich: Die Literatur wird der Ort sein, an dem die Frage nach dem neuen Klassenbewusstsein verhandelt wird, an dem das neue Proletariat erfunden werden wird.

Kerstin Wilhelms-Zywocki
graswurzel.net

„Arbeit – Bewegung – Geschichte“, Heft 2020/II, Schwerpunkt „Arbeit und Literatur“, Metropol Verlag, Berlin 2020. ca. SFr 18.00. ISSN 2366-2367

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