Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt Ausser Spazieren nichts gewesen

Sachliteratur

Pilze sind wundersame Lebensformen. Sie lassen sich nicht vollends in kapitalistische Waren verwandeln. Für ernsthafte Gesellschaftskritik reicht diese Erkenntnis aber noch lange nicht.

Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt.
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Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Foto: Ion Chibzii (CC BY-SA 2.0 cropped)

4. April 2019
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Der Klappentext weckt Neugier auf gesellschaftstheoretische Analogien zwischen Pilz und Gesellschaft, zwischen biologischer Wucherung, geografischen Ruinen und der ausgeträumten Ideologie des Spätkapitalismus. Vielleicht ist mit Blick auf das erste Lebewesen, das in den Ruinen Hiroshimas neu zu spriessen begann, ja nichts metaphorisch vielschichtiger, bereichernder und spannender als der Matsutake-Pilz. Es zeigt sich jedoch: Am meisten beflügelt der Klappentext. Das restliche Pilz-Potpourri, das Lowenhaupt Tsing auf 385 Seiten plus Fussnotenapparat zusammenkocht, liest sich dann doch erstaunlich fad.

Dabei wird Erstaunliches erzählt! Lowenhaupt Tsing berichtet von diesem unkultivierbaren Matsutake und seiner Symbiose mit Kiefernwäldern in Japan, in der chinesischen Provinz Yunnan, in Finnland und in Oregon/USA. Sie erzählt von ihren Expeditionen mit südostasiatischen Sammler_innen an der US-Westküste und berichtet von deren Problemen mit dem institutionellen Rassismus der US-Forstbehörden, da „die Gesetzesvertreter gerne Asiaten wegen Verstössen herauspicken, selbst wenn keine Beweise vorliegen – ein Khmer-Aufkäufer nannte es spöttisch ‚Fahren mit asiatischem Gesicht'“ (S. 109).

Sie hört US-amerikanischen Vietnamkriegsveteranen, emigrierten Laot_innen und geflüchteten Khmer zu, beschreibt ihre Sammel-Traditionen und die politischen Traumata ethnischer Minderheiten wie den Mien- und Hmong-Gemeinschaften. Nach über 300 Seiten weiss man so einiges über fehlentwickelten Umweltschutz durch dogmatischen Brandschutz, über den Handel ausgemusterter Technologien von Japan nach Korea und darüber, wie aus einem liebevoll aufgespürten, lebenden Fundstück im Wald ein handelsübliches Exportgut wird.

Lowenhaupt Tsing wandert im Grenzgebiet des Kapitalismus, ohne zu vergessen, dass dieses Aussen für die Kapitalakkumulation wesentlich ist. Mit ihr gehen wir den Weg des Pilzes: von den Sammelnden, die ihre besten Pilze den Zwischenhändler_innen in theatralischen Auktionen anbieten, welche sie wiederum an Exporteure nach Japan weiterverkaufen, bis sie vom Gross- zum Kleinhandel bei japanischen Konsumierenden landen. Bei den Endverbrauchenden wiederum werden sie oftmals als Gabe untereinander verschenkt.

Man sieht, diese Akteure denken und handeln ausserhalb, am Rand, innerhalb und wieder ausserhalb kapitalistischer Logik. In den Wald gehen und Pilze sammeln, das machen die Menschen natürlich (auch), weil sie Geld zum Leben brauchen. Aber dass sie sich für ein Leben am Waldrand, für die täglichen Spaziergänge und das allabendliche Drama am Auktionsstand entscheiden, statt nine-to-five für direkte Vorgesetzte und zu Festpreisen zu arbeiten, ist eine „Praxis der Freiheit“ (S. 94), die man anerkennen sollte. Der anthropologische Blick von Lowenhaupt Tsing, er ist detailverliebt und wohlwollend zugleich.

Bäume, Pilze, prekäre Menschen – alles das Gleiche?

Was also stimmt nicht mit dem Buch? Die meisten feuilletonistischen Rezensionen preisen es als „ein Kaleidoskop von Geschichten und Berichten“ (Rezension taz, 19.04.2018), das traumwandlerisch soziologische Kapitalismuskritik und Naturkunde zu vereinen wisse. Nicht zu Unrecht, denn es geht um Kapitalismus und um Bäume. Botaniker_innen mit einer Neigung zu entgrenzenden, philosophischen Fragen könnten hiermit eine herausfordernde Lektüre finden. Doch immer wieder öffnet Lowenhaupt Tsing das Feld für Infragestellungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Tendenzen, nur um sie dann doch nebeneinander stehen zu lassen.

Die Überlegungen zur eben erwähnten „Freiheit“ der Sammelnden weisen noch ausreichend kritische Zweischneidigkeit auf. Da heisst es abschliessend, sie seien

„in der Lage, ihre ethnischen und religiösen Mitstreiter zu mobilisieren, um fast jede ökonomische Nische zu besetzen. Gehälter und Sozialleistungen sind nicht erforderlich. Ganze Gemeinden können mobilisiert werden – und es kommt der Gemeinschaft zugute. Allgemeine Standards staatlicher Unterstützung haben kaum Relevanz. Dies sind Freiheitsprojekte. Kapitalisten, die ihr nach Verwertungsakkumulation sucht, schreibt es euch hinter die Ohren“ (S. 150).

So ziemlich alle anderen wesentlichen Begriffe weisen dagegen eine unangenehme Tendenz zur Nivellierung auf. So soll „Prekarität“ den Zustand der Anfälligkeit beschreiben, in dem wir alle miteinander verbunden sind und in Abhängigkeit zueinander leben. Allerdings ist „Prekarität“ bei Lowenhaupt Tsing weniger eine Kategorie für das ökonomisch schwache, freiheitliche Unternehmertum der Sammelnden, sondern fungiert als affirmative Beschreibung des gesellschaftlichen Ist-Zustands:

„Eine prekäre Welt ist eine Welt ohne Teleologie. Unbestimmtheit, die ungeplante Natur der Zeit, flösst Angst ein, aber wenn man die Prekarität ins Zentrum des Denkens rückt, wird evident, dass es gerade die Unbestimmtheit ist, die das Leben möglich macht“ (S. 36).

Es ist nicht so, dass an der Erkenntnis nichts dran wäre: Das Universum besteht wohl aus immerwährenden, schöpferisch-vernichtenden Wechselwirkungen. Aber beim Kopfschütteln über Aussagen wie „prekäres Leben ist ein Abenteuer“ (S. 220) bekommt man fast Schwindelanfälle, so richtig ist der Satz im Falschen. Durch die begriffliche Ineinssetzung fallen zwei Welten zusammen (eine kosmologische und eine alltägliche), die man zur Analyse prekarisierter Menschen vielleicht doch auf unterschiedlichen Ebenen hätte betrachten sollen. „Der Pilz am Ende der Welt“ liest sich, als würde man einer Person zuschauen, wie sie in einer Geste der Liebe – die verdächtig nach einem Schulterzucken ausschaut – alle begrifflichen Unterschiede im Fluss des Seins auflöst.

Zurück zu den Wurzeln

Ironischerweise dürften gerade jene Lesende, die mehr als affin für die Umwertung aller Werte, für die Gedankenwelt der Postmoderne sind, das Buch als sprachlich und inhaltlich langweilig und sogar widersprüchlich empfinden. Denn Lowenhaupt Tsings postmoderne Rundumschläge sind längst keine mehr. Ihr auf etlichen Seiten rezitierter Kampf gegen das „Fortschrittsdenken“ kann beim Lesen zu lektüreunterbrechendem Dauer-Augenrollen führen.

Die Autorin schreibt selbst zu Beginn des Buches: „Ich wüsste nicht, wie ich ohne die Idee des Fortschritts über Gerechtigkeit nachdenken sollte“ (S. 43). Tja, und jetzt..? Weil sie sich undialektisch gegen den Fortschritt einschiessen wird, kommt die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit im Folgenden auch nicht mehr vor. Viel tiefgehende Kapitalismuskritik ist da nicht – es bleibt ihr Hinweis, dass es eine Peripherie gibt, in der die Leute auch zu überleben gelernt haben. So kommt man nicht umhin zu denken, dass weniger mehr gewesen wäre. Sammlerin, bleib bei deinen Pilzen!

Zumindest haben Pilze ihre gesellschaftstheoretische Strahlkraft bereits woanders gehabt. Die Kunst hat sich diesen Wesen bereits angenommen – etwa in Stefanie Wenners Pilzbrutstätte „Mykorrhiza. Ein Apparat“. Wer Lowenhaupt Tsings deutschem Verlag Matthes & Seitz ein schön gestaltetes Pilzbuch abkaufen will, greift lieber gleich zu Jean-Henri Fabre und Judith Schalanskys „Pilze“ für 148 Euro. Und wer mithilfe einer Figur philosophieren möchte, mit der man ernsthaft „unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen“ verbinden kann, greift direkt zur Wurzel des philosophischen Pilzes, dem Rhizom (Deleuze/Guattari 1992: 17). Wer sich als Teil des kosmischen Ganzen erfahren will, geht in den nächstbesten Wald – ohne Buch.

Kevin Grünstein
kritisch-lesen.de

Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 448 Seiten, ca. 32.00 SFr. ISBN 978-3-95757-532-6

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