Anna Schneider: Freiheit beginnt beim Ich Der grossen Freiheitsstall

Sachliteratur

Anna Schneider, „Chefreporterin Freiheit“ bei der „Welt“, hat 2022 bei dtv ihr erstes Buch veröffentlicht: „Freiheit beginnt beim Ich“, eine „Liebeserklärung an den Liberalismus“.

Der grossen Freiheitsstall
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Der grossen Freiheitsstall Foto: Mario Sixtus (CC-BY-NC-SA 2.0 cropped)

23. Januar 2023
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Auf knappen 100 Seiten wirbt sie mit ihrer Streitschrift für „die liberale Idee, für das selbstbestimme, freie Individuum“.

Freiheit nur im Kollektiv? Nonsens!

„Freiheit ist Freiheit.“ (9) Mit dieser Tautologie beginnt Schneider ihr Buch. Zwar sind Tautologien stets richtig, doch selten gehaltvoll. Die Autorin sieht es umgekehrt und meint, damit sei alles gesagt: „So einfach ist das!“ (9). Entsprechend sei die Tautologie auch nicht notwendig korrekt und inhaltsleer, sondern ihre ganz persönliche Sicht auf die Sache und damit natürlich höchst umstritten : „Ich garantiere, die Widerrede folgt auf dem Fuss“. Die Kritik, die ihr begegne: „Freiheit funktioniere nur im Kollektiv. Nonsensaussagen überall.“ Schneider argumentiert im Folgenden also gegen die „Nonsensaussage“, dass Freiheit ein gesellschaftliches, vulgo „kollektives“ Verhältnis ist: „Und je öfter auch sogenannte Liberale mit dem Satz „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“ um sich werfen, umso mehr denke ich mir: Die Freiheit des anderen endet dort, wie die Freiheit des Einzelnen beginnt.“ (9)

Die „beiden Definitionen“ (9) sind natürlich identisch: „der Einzelne“ und „der andere“ sind jeweils Zahladjektive für Individuen. Die veränderte Satzstellung ändert nichts daran, dass Schneider, die gerade noch eine Tautologie als umstrittene Definition verkaufen wollte, jetzt eine Tautologie als Korrektiv präsentiert. Für Sie ist dieser Fehl- aber ein entscheidender Fortschritt in ihrer Argumentation: Der Fokus ist liegt jetzt auf dem „ich“ statt auf den „anderen“, die zwar beide Individuen sind, aber eben nicht beide Sie, Anna Schneider:

„Der Unterschied zwischen diesen beiden Definitionen liegt in der Perspektive. Entweder man geht immer und ganz grundsätzlich von der Freiheit des Individuums aus. Oder aber man betrachtet diese individuelle Freiheit als Bedrohung der Freiheit anderer. Ich bevorzuge Ersteres, weil Letzteres viel zu leicht als Freibrief für jede Art der Einschränkung herangezogen werden kann – und oft auch wird“ (9f).

Um Schneiders Blick auf die Welt zu verstehen, muss man ernst nehmen, was Sie der Umstellung entnimmt: Ihr geht es um das „Ich“, das für Sie nicht mit anderen Individuen, sondern mit einer amorphen Masse an „anderen“ in Konflikt steht. Entsprechend räsoniert sie über Freiheit:

„Eine so knappe wie richtige Definition: Freiheit ist das Recht, in Ruhe gelassen zu werden.“ (12)

Dass von der Autorin selbst postulierte „Recht in Ruhe gelassen zu werden“, drückt in seiner ganzen Borniertheit noch aus, dass Sie sich als Teil einer Gesellschaft weiss. „Freiheit“ besteht für Schneider aber gerade darin, davon nichts wissen zu wollen oder zu müssen. Sie will unmittelbar tun und lassen, was Sie will, und dabei nicht von ihren Mitmenschen belästigt werden, die für Sie kein „ich“, sondern eben die anderen sind. Dabei leistet Sie sich den kleinen Widerspruch, dass sie mit allen ihren Freiheiten ständig auf andere Menschen und ihre Interessen verwiesen ist, daher gar keine Freiheit denkbar ist, bei der Schneider „in Ruhe“ nur bei sich wäre. Hegel bemerkte dazu richtig: „Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, dass man tun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung findet“ .

Hegel wusste nämlich, dass jeder Mensch einen Willen hat und diesem nachgeht. Das es also umgekehrt ziemlich erklärungsbedürftig ist, wenn Figuren wie Anna Schneider ihren Willen nicht auf das eine oder andere Projekt beziehen, sondern ganz allgemein und getrennt von jedem Inhalt auf Freiheit per se bestehen und dann auch noch für diese inhaltsleere Freiheit „brennen“ (10). Bei dem alten Aufklärer ist nachzulesen, dass der freie Mensch ein Produkt des bürgerlichen Staates ist, der im Unterschied zu den antiken Sklavenhalterstaaten und dem römischen dieser Abstraktion von jedem Inhalt, der Freiheit per se, Geltung verleiht - und dann notwendig auch gleich begrenzt, was unter diese allgemeine Freiheit fällt und was nicht.

Nicht zufällig beginnt Anna Schneider beim „ich“, für dessen Freiheit Sie brennt und an dem Sie kein Atom „Kollektiv“ entdecken kann, um schon eine Seite später beim „Rechtsstaat“ zu landen, der die diejenigen „mit Konsequenzen“ (11) bedroht, die die „Trennlinie“ (11) zwischen der Freiheit des einen und der Freiheit des anderen nicht beachten. In Anna Schneiders Ruf nach Freiheit macht sich das Angewiesensein auf eine oberste, über allen gesellschaftlichen Interessen stehende Gewalt geltend, die die Verfolgung der einander entgegenstehenden Interessen in der Gesellschaft erst ermöglicht, indem sie sie beschränkt. Und Hegel hat ganz recht mit seiner Behauptung, dass das Recht die Verwirklichung dieser Abstraktion sei .

Es ist humorig, dass Schneider einerseits den Staat selbst als Bedingung einer Gesellschaft des freien Privateigentümer benennt, um andererseits seine Notwendigkeit ständig zu leugnen: „Nie und nimmer lässt sich der Staat als Verteidiger der Freiheit rechtfertigen“ (30).

Wie aus Logik ein Werturteil wird

Für Schneider ist Freiheit also keine vom Staat garantierte und damit von ihm auch beschränkte Verkehrsform für die Individuum, sondern das schlichte Verhältnis von sich zu ihrem Willen: Ich tue, was ich will und das ist gut so! „Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang durch andere Menschen. […] Was wir hier vor uns haben, ist der radikale Kern eines negativen Freiheitsbegriffs. […] Die Unterscheidung von negativer und positiver Freiheitkonzeption geht auf den Philosophen Isaiah Berlin zurück, der in diesem Zusammenhang zwischen der Freiheit „von etwas“ von der Freiheit „zu etwas“ unterscheidet Erstere, also die negative Freiheit, hat den Vorteil, dass sie – wie eben ausgeführt – klar und deutlich ist.“ (12)

Die logische Unterscheidung, Freiheit mit ein paar Präpositionen zu betrachten, ist – nur nebenbei - schon ein paar hundert Jahre älter und wurde zuvor schon bei Leibniz , Rousseau, Kant, Schelling und Marx diskutiert. Auch letzterem ist aufgefallen, dass der moderne Lohnarbeiter doppelt frei ist : Einerseits nicht mehr an die Scholle gebunden, wie noch der Leibeigene zuvor. Das ist, wenn man so will, die negative Seite: frei von Sklaverei und Leibeigenschaft zu sein . Auf der anderen Seite, das war Marx Hinweis auf die ungemütliche positive Seite der Freiheit als Prolet, fehlt es dem an allem, was er zum Leben so braucht: Er hat gar keine Arbeitsmittel, keine Ressourcen, nichts als seinen Körper und Geist. Entsprechend muss er seine Arbeitskraft verkaufen, um an einen Lohn zu kommen. Seine positive Freiheit, soweit Marx, ist also wirklich eine ziemlich schäbige Sache, weil sie ihren Inhalt darin hat unter fremdem Kommando anderer Leute Reichtum zu vermehren, und das auch noch in Konkurrenz mit allen anderen Proleten.

Die für sich harmlose logische Operation, bei der Freiheit zu unterscheiden ‚von was' und ‚zu was' man frei ist, bekommt bei Schneider aber – und das ist dann auch die Leistung von Berliner, auf die sie sich beruft - eine ganz neue „Perspektive“: Sie nimmt einmal mehr die beiden notwendig zusammengehörigen Seiten der Freiheit und behandelt Sie als wären sie ebenfalls nur Perspektiven auf diese. Entsprechend nimmt sie sich die Freiheit, die negative Seite der Freiheit für die richtige zu erklären, die positive dagegen für falsch.

Das ist zwar strunzdumm, auf der anderen Seite aber auch schwer produktiv: Wer würde schon leugnen, dass die Freiheit die Seite hat, dass man keinem direkten Zwang unterworfen ist? Mehr will Schneider nicht wissen und mehr weiss sie dann auch nicht von der Freiheit. Jede Bestimmung davon, was sie positiv ist, nimmt sie als etwas anderes, dass sie einfach ablehnt:

„Die positive Freiheitskonzeption hingegen zielt auf die faktischen Möglichkeiten ab, deren es bedarf, um die eigenen Lebensentwürfe auch realisieren zu können. […] Diese sogenannte [!] positive Freiheit geht von einem anderen Menschenbild aus. Der Einzelne gilt ihr nicht als sein eigener Herr, der nur durch natürliche Grenzen beschränkt wird (niemand kann etwa drei Meter hoch springen), sondern als Teil eines grösseren Ganzen. […] Das macht die positive Freiheitskonzeption zu einem Fass ohne Boden, weil sie im Grunde grenzenlos ausgeweitet werden kann“ (13). In der Negation lässt sich das Gegensatzpaar von Zwang und Freiheit wunderbar festhalten, entsprechend ist es „ihre“ Perspektive, die Sie gegenüber der Freiheit einnimmt. Weil man der positiven Freiheit – man könnte auch sagen, einem Blick in die Welt ausserhalb ihres Buches – so leicht entnehmen kann, dass die ganzen freigesetzten Bürger aber doch noch ein paar Notwendigkeiten in ihrer Freiheit gehorchen müssen, also eben nicht ihr „eigener Herr“ sind, erklärt sie jede positive Bestimmung der Sache für etwas, für das man ein anderes Menschenbild haben müsse .

Schon die von ihre Selbst vorgeschlagene Bestimmung von „Freiheit als Selbsteigentum“ (13) deutet natürlich auf das positive Gehalt der Freiheit: Wer nämlich über sich selbst verfügt, aber über sonst nichts, um seine „faktischen Möglichkeiten“ zu realisieren, der hat in diesem Freiheitsstall die ziemlich alternativlose Freiheit dazu, sein Selbsteigentum stundenweise zu verhökern und im Dienste fremden Eigentums dann dieses zu vergrössern. Er selbst ist in dieser Zeit an die Weisungen des Dienstherren gebunden, also diesem fremden Zweck verpflichtet. Das kann wirklich jeder wissen, der von Freiheit mehr wissen will als Schneider, warum auch ihr selbst zur positiven Freiheit Dinge einfallen wie das etwas formale, aber durchaus richtige, dass „der Einzelne“ da nicht als „sein eigener Herr“ gilt, „der nur durch natürliche Grenzen“ und nicht etwa auch durch die Interessen seiner Mitmenschen begrenzt wird.

Schneider hält diese – ihre eigenen Urteile über die positive Freiheit – aber gar nicht für eine Seite dieses Verhältnisses, sondern für ein Werturteil. Das dieser positive Gehalt der Freiheit weniger für eine „Liebeserklärung“ taugt ist das eine; wie sie diese entsorgt, das andere: Sie verschweigt diese Seite nicht einfach, sondern nimmt alle positiven, also deskriptiven Bestimmungen der Freiheit einfach als etwas, dass von einem Menschenbild leben würde, und insofern für sie und ihren Begriff der Freiheit nicht gelte. So kindisch wie ihr Duktus ist ihr ganzer Freiheitsbegriff: Alles was ihr an der positiven Freiheit dieser Gesellschaft nicht passt, nimmt sie einfach als etwas, dass für sie und ihre Perspektive nicht gilt.

Die Autorin hätte dafür noch nicht einmal Marx lesen müssen, sondern nur ihr eigenes Literaturverzeichnis wirklich studieren müssen. So schreibt Mill in dem Aufsatz, den Schneider selbst lobt: „Jeder sollte das Recht haben, nach eignem Ermessen zu handeln, soweit nur seine eignen Interessen im Spiel sind. […] Wenn wir das Recht der Freiheit in den Interessen jedes Einzelnen achten, so müssen auch ein wachsames Auge haben auf die Ausübung der Macht, die wir dem Einen über den Anderen einräumen“ . Schneiders Selbstbezeichnung als „Brutalliberale“ ist also ernst zu nehmen: Jedes Gespür für die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, welche ihre liberalen Vorbilder wenigstens noch zur Kenntnis genommen haben, geht dieser Dogmatikern ab, und wird durch das umso entschlossenere Festhalten an der eigenen Weltsicht ersetzt.

Das ihr noch das dümmste Argument für ihren Standpunkt lieber ist als eine Erkenntnis über die Freiheit, die ihrem liberalen Weltbild widersprechen würde, muss man ihr dabei gar nicht unterstellten, sondern gibt sie selbst zu Protokoll: „lieber vulgär- als gar nicht liberal, denke ich mir dann“ (17). Auch damit fällt sie hinter die liberale Tradition zurück, die Sie verteidigen will. Mill schrieb immerhin das genaue Gegenteil: „Niemand kann ein grosser Denker sein, der es nicht als seine erste Pflicht anerkennt, seinem Verstande zu folgen – welches auch immer die Konsequenzen seien, zu denen dieser führt“.

Von Zwang und Freiheit

Das ist dann auch der zentrale Widerspruch ihrer ganzen Schrift. Sie argumentiert einerseits ganz für ihre libertäre Position: „[…] Freiheit ist fantastisch.“ (12) und überhaupt „die Abwesenheit von Zwang durch andere Menschen“ (12). Gleichzeitig, und das ist nicht ohne Humor, ist Freiheit als gesellschaftliche Verkehrsform auch für Schneider gar nicht ohne Zwang zu haben: „Alle Individuen müssen, zur Not eben mit Gewalt, daran gehindert werden, irgendjemand anderem seine Freiheit zu nehmen“ (15). Sie benennt den Staat und das Gewaltmonopol als Bedingung der Freiheit und leugnet diese Funktion gleichzeitig:

„Nie und nimmer lässt sich der Staat als Verteidiger der Freiheit rechtfertigen. Allein durch sein Gewaltmonopol verkörpert er viel eher die Negierung der Freiheit per se, weshalb ihm jeder Liberale durchaus – und immer – skeptisch gegenübersteht“ (30).

Einerseits braucht es den Staat also, um die Individuen daran zu hindern, sich gegenseitig die Freiheit gleich wieder zu nehmen. Schneider erkennt hier die Notwendigkeit einer höheren Gewalt über einem Konkurrenzhaufen, in dem die gesellschaftliche Arbeitsteilung als privates Geschäft zur Bereicherung hergerichtet ist. Die Freiheit der kapitalistischen Gesellschaft kann „so“, also mit einem Gewaltmonopol „überhaupt erst funktionieren“ (76). Andererseits lässt der Staat sich „nie und nimmer“ als Verteidiger der Freiheit rechtfertigen. Das ist zwar ein himmelschreiender Widerspruch, für jeden der des Lesens fähig ist. Jede Freiheit, die der Staat seinen Bürgern gewährt, hat mit der Reichweite der Erlaubnis in sich auch immer die festgelegte Grenze der so gewährten Freiheit. Der „Brutalliberalen“ mit ihrer ganzen „Skepsis“ gegen den Staat entgeht diese bittere Notwendigkeit jeder herrschaftlichen Erlaubnis, die mit ihrer Aussprache immer auch gleich das Verbote enthält.

Gegen die Konkurrenzverlierer

Für Schneider ist das aber kein Widerspruch, weil sie mit ihrer Feindschaftserklärung gegen den Staat etwas ganz anderes meint als einen Einspruch gegen das Gewaltmonopol und die bürgerliche Gesellschaft. Den so eingerichteten Freiheitsstall hält sie für die grösste Segnung der Menschheit. Ihre „Skepsis“ will sie vielmehr verstanden wissen als Eine gegen den modernen, vor allem deutschen Staat mit seinen Sozialleistungen. So zitiert sie zustimmend Ayn Rand, dass die einzig legitime Aufgabe einer Regierung darin bestehe „das Recht auf Leben, auf Freiheit auf Eigentum und auf das Streben nach Glück“ (87) zu beschützen.

Entsprechend banal ist dann auch die ganze Libertinage der Autorin, die „von Herzen gerne Staatsfeindin“ ist: Sie besteht ganz auf die negative Freiheit und sieht einen Verstoss gegen dieses Prinzip, wo immer der Staat mit seiner Sozialgesetzgebung für die materielle Basis sorgt, damit die Konkurrenz weitergehen kann. Darin sieht sie einen „Anspruch auf alles Mögliche“ (28), und das ist eben „positive Freiheit“ (28), die sie ablehnt: „Aus liberaler Sicht akzeptabel ist und bleibt damit nur der auf seine Grundfunktionen beschränkte Staat. Das heisst: ein Staat, der limitiert ist auf die Verwaltung der Justiz, die innere Sicherheit und die Verteidigung“ (31).

Die ganze Libertinage kürzt sich also auf das kindische „Räuberbande“ zusammen, auch wenn sie am Ende weiss, dass der Kapitalismus und damit das Privateigentum überhaupt genau diese Gewalt braucht, um „überhaupt zu funktionieren“ (76). Es passt zu dieser Art Rebellin, dass ihre Rebellion gegen diese Verhältnisse so ernsthaft ist wie ihr Versuche, sie zu verstehen. In einem Seminar an der Uni Wien hört sie von der dozierenden Person den Satz: „Ich habe gelernt, den Respekt vor dem Familienrecht zu verlieren“ (43). Warum, erfährt der geneigte Leser nicht.

Der erfährt dafür, dass diese doch sehr zahme Kritik am eingerichteten Gewaltmonopol Schneider viel zu weit geht. Die Rebellin, die den Staat in ihrem Buch abwechselnd als „Räuberbande“ (89) oder „Negierung der Freiheit per se“ (30) versteht, ist hier ganz gelernte Juristin: „Ich kann den Rechtsstaat und die sich aus ihm ergebenden Folgen durchaus respektieren, ohne sie zu teilen oder gutzuheissen. Das würde ich auch von einer Person erwarten, die an einer staatlichen Universität lehrt – zumindest, was ihre öffentlichen Äusserungen diesbezüglich angeht“ (43).

Etwas Respekt vor dem Räuberhauptmann, also bitte! Ihre Staatsfeindschaft ist also nicht nur schlecht begründet und widersprüchlich, sondern lächerlich unernst: Am Ende ist fordert Sie nichts als Respekt vor dem Staat und von ihm die Einhaltung seiner eigenen Verkehrsform. Skeptisch gegen die Gewalt wird sie da, wo diese den Verlierern der Konkurrenz hilft, weiter an der Konkurrenz teilzunehmen: Das ist auch alles, was Schneider an Kritik anzubieten hat.

Peter Schadt

Anna Schneider: Freiheit beginnt beim Ich. dtv 2022. 112 Seiten. ca. 16.00 SFr. ISBN: 978-3-423-29046-3.

Fussnoten:

1 Das sie auf diese „Aussagekräftige“ Tautologie dann noch nicht mal selbst gekommen ist, sondern sie nur abgeschrieben hat, macht das Ganze nicht klüger. So schreibt Isaiah Berlin: „Jedes Ding ist das, was es ist: Freiheit ist Freiheit“ (Vier Versuche über Freiheit, S. 205)

2 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Suhrkamp: §15, S.66

3 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Suhrkamp: §2, S.31

4 „Dies, dass ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht.“ (Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Suhrkamp: §2, S.31)

5 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt. Reprint der Ausgabe Berlin 1890, Hildesheim 1978, Bd. 7, S. 109. Hier unterscheidet Leibniz die Freiheit vom Zwang, durch die sich der Freie vom Sklaven unterscheidet, und liberté de fait als einer positiven Freiheit, durch die sich der Kranke vom Gesunden unterscheidet.

6 Wer es selbst nachlesen will: Das Kapital, erster Band: MEW23/742

7 Bei Berlin ist schon die negative Freiheit widersprüchlich gefasst. Frei sei man im negativen Sinne in dem Masse, „wie niemand in mein Handeln eingreift“ (201) – ganz so, als wäre in Gesellschaft „handeln“ überhaupt möglich, ohne auf Schritt und tritt auf andere Willen und deren Handlungen zu stossen, an denen sich die eigenen Handlungen relativieren.

8 Die beiden Seiten der Freiheit „mögen auf den ersten Blick wie zwei logisch eng benachbarte Konzepte erscheinen, die einmal positiv, einmal negativ fast das gleiche besagen. Aber historisch betrachtet haben sich der „positive“ und der „negative“ Freiheitsbegriff […] in entgegengesetzte Richtungen entwickelt, bis sie zuletzt direkt i Konflikt miteinander gerieten“ (211).

9 In der Rezension des Buches von Dr. Dr. Rainer Zitelmann zeigt dieser sich richtig begeistert von Schneiders Ansatz, jeden positive Bestimmung der Freiheit zu deren Negation zu erklären: „Nachdem ich Schneiders Buch gelesen habe, weiss ich, dass […] „positive Freiheit“ ganz einfach mit „Freiheit“ nichts zu tun hat.“ (Focus, 13.11.2022)

10 John Stuart Mill (2018): Über die Freiheit. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft S. 169 von 190 (ebook).

11 Auch hier waren ihre liberalen Vorbilder klüger. Mill schrieb: „Die bestbegründeten Überzeugungen haben keine andere Sicherheit, auf die sie sich stützen könnten, als die beständige Einladung an die ganze Welt, sie als unbegründet zu erweisen“ (ebenda, Seite 54).

12 John Stuart Mill (2018): Über die Freiheit. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft S. 70 von 190 (ebook).

13 „Von Herzen gerne Staatsfeindin“, Anna Schneider in der Welt vom 15.10.2022